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Liste der Raumvorstellungen

Der erlebte natürliche Raum

Im Gilgamesch-Epos, der ältesten Dichtung der Menschheit, besteht der Held insbesondere den Kampf gegen die Natur. Sein Ziel ist es, alle Weltgegenden zu durchqueren, nach dem Leben suchend dort, wo noch nie ein Mensch gegangen ist. Weil er dabei in immer neue Räume vordringt, muss er Pässe über Berge öffnen, Brunnen graben, die Eingänge des Waldes finden, den Ozean überqueren.

  • Gelände: Festland im Unterschied zu Gewässern
    • Land aus ie. *lendh- 'freies Land, Heide, Steppe' > Weites Land
    • Feld unbewaldetes und unbesiedeltes Flachland im Gegensatz zu Wald und Berg > Gefilde
      • Campi deserti inhabitati (lat.) `unbewohntes Feld´
    • Wald > Wildnis
    • Stehendes Wasser: See und das größere Meer
    • Fließendes Wasser: Bach und der größere Fluss
    • Quellen
  • Zeichen
    • natürliche Landmarken mit assoziativem Erscheinungsbild wie etwa einzelstehende Bäume, Hügelformen, Bergspitzen, Felsformationen, Kap u.a.m.
    • (Tier-)Pfad
    • (Tier-)Spur
  • Bönisch-Brednich, Brigitte
    Die Quelle und das Feld? Zum Gebrauch von Metaphern in der heutigen Volkskunde.
    S. 373–386 in: Rolf Wilhelm Brednich, Heinz Schmitt (Hg.)
    Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur.
    30. Deutscher Volkskundekongreß in Karlsruhe vom 25. bis 29. September 1995. Münster 1997: Waxmann
  • Gregorius, Adolf
    Der Name Wöste. Ein Beitrag zur Ortsnamenkunde.
    Westfälische Zeitschrift 91 (1935) 280-302, Online
    Eine ausführliche Untersuchung der Begriffe Wald, wild und wüst, öd (Einöde) mit deren Bezügen zu Dickicht, lateinischem vasta, deserta (gr. eremos) im Zusammenhang mit herrenlos, unbewohnt, verlassen, vasta solitudo `herrenloser großer Wald´.
  • Jacob Grimm
    Irmenstrasse und Irmensäule: eine mythologische Abhandlung.
    65, 1 S. , 1 Bl. Wien 1815: Mayer. Online
    Grimm erschließt ausgehend von der Milchstraße, mythologische Quellen heranziehend und etymologisch deutend, die Begriffe Pfad, Bahn, Weg, Straße sowie Erde, Gang, Wagen, brechen (> Route), legen (Bett, Lager), weit /breit und deren Verknüpfung mit den vier alten englischen Königsstraßen (Fosse, Hikenildestrate (Icknield Street), Herningestrate (Ermine Street), Watlingstrate (Watling Street), der schwedischen Eriksgata, Heerstraßen, Diotsweg (allamannavegr), den Reichsstraßen. Die Zusammenhänge und Schlussfolgerungen sind gleichwohl zu prüfen.
  • Günther, A.
    Gebirge, Flüsse, Wüsten, Wälder: Grenzen oder Verbindungen
    in: Comité International des Sciences Historiques, Rapports I,
    Stuttgart 1985, S. 315-317
  • Lindemann, Uwe
    Die Wüste. Terra incognita. Erlebnis. Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart.
    Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1998, 450 S. Heidelberg 2000: Winter
  • Hans Mortensen
    Die landschaftliche Bedeutung der Ausdrücke Wildnis, Wald, Heide, Feld usw. in den Quellen des deutschen Nordostens
    S. 127–42 in: Herbert Knothe: Vom deutschen Osten. Max Friederichsen zum 60. Geburtstag. Breslau 1934: Marcus.
  • Tuan, Yi-Fu
    Landscapes of Fear.
    262 S. New York 1979: Pantheon; Oxford 1980: Blackwell. Inhalt u.a.:
    • Fear of nature: great hunters and pioneer farmers
    • Natural calamities and famines
    • Violence and fear in the countryside
  • Waldstätten, Johann, Baron von
    Die Terrainlehre.
    201 S. Wien 1874: L.W. Seidel.

Natürliche Übergänge

  • Furt
    Durchgang gegen Widerstand (lat. per, jedoch: transitus)
  • Gestade
    das Feststehende, Festland, der Rand des Landes im Wasser
  • Pass
    Übergang (lat. trans, transmigratio)
  • Saum
    Übergang zwischen Wald und Feld, Wiese und Bach, …
  • Roland Wenzlhuemer
    Transiterfahrungen in einer vernetzten Welt.
    Ruperto Carola 9 (2016): Stop & Go DOI, Online

Natürliche Enden

An manchen Orten ist der Einzelne zurückgeworfen auf sich selbst, isoliert von der Gemeinschaft. Damit verbindet sich das Gefühl der Ausgesetztheit in besonderen geographischen Umgebungen wie:

  • Eiland, Insel
    umgeben von Wasser
  • Kap
    geographisch nicht eindeutig abgrenzbar von Landspitze (Ort) und Halbinsel
  • Oase
    umgeben von der Leere/Öde (Rub al-Chali arabisch Leeres Viertel'), Gegenteil zu > Ort; aus altägyptisch wḥ3.t `Kochkessel´,
  • Ort
    als Spitze eines Landstücks, umgeben von Wasser > Ende der Welt
  • Topp
    als Gipfel umgeben vom Abgrund (bodenloses Nichts)
  • Eisel, Ulrich
    Konkreter Mensch im konkreten Raum. Individuelle Eigenart als Prinzip objektiver Geltung.
    S. 197–210 in: H.-D. Schultz: Arbeitsberichte Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, 100. Online
  • Eisel, Ulrich
    Weltbürger und Einheimischer. Naturerfahrung und Identität.
    S. 135-146 in: Poser, H., Reuer, B. [Hg.]: Bildung Identität Religion. Fragen zum Wesen des Menschen. Berlin 2004.
  • Carter, Erica; Donald, James; Squires, Judith (Hg.):
    Space and Place: Theories of Identity and Location.
    399 S. London 1993: Lawrence & Wishart.

Sehen: Das Herstellen des Raumes

Der Blick des Menschen sucht in der Natur feste Punkte und schafft Formen, die Ordnung und damit Orientierung ermöglichen, weil sie zum Zeichen werden:

Verloren Gehen - das Verschwinden des Raumes

  • Fata Morgana < ital. fee morgana < Avalon (Apfelland) < Morgan le Fay < Avalon
    • Fehr Dirk
      Fata Morgana. Phänomen zwischen Mythos und Realität.
      Untersuchung von mythologischen und räumlichen Zusammenhängen.

      Diplomarbeit 179 S. Berlin 2002, Universität der Künste.
  • Höhle & Loch > Innen & Außen > Eingang (lat. introitus) > Leere, Dunkelheit, Versteck
  • Labyrinth > Verirren
    • Schmid, Holger
      Zur Epistemologie des Labyrinths.
      Revue Internationale de Philosophie, 54.211.1 (2000) 135–147. Online
    • Christoph Ransmayr
      Die Schrecken des Eises und der Finsternis.
      Frankfurt am Main 1984
      • Harald Schmiderer
        Zum Chronotopos der kollabierenden Ränder.
        Die Topologie des Abenteuers bei Christoph Ransmayr
        .
        Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 16 (2015) 93–104. DOI
    • Reiling, L. M.
      Raumerfahrung zwischen Dorf, Sanatorium und Schneelandschaft.
      Grenzüberschreitungen in Adalbert Stifters Bergkristall und Thomas Manns Der Zauberberg.

      New German Review: A Journal of Germanic Studies, 26 (1) (2014) 47–73. Online

Versteckt – Verirrt – Verschollen. Reisen und Nichtwissen

  • Gradinari, Irina, Dorit Müller, Johannes Pause
    Versteckt – Verirrt – Verschollen. Reisen und Nichtwissen.
    IX, 438 S. Wiesbaden 2016: Reichert. Inhalt
  • Kafka, Franz
    Der Verschollene. Jost Schillemeit (Hg.): Kritische Ausgabe, Frankfurt a. M. 2002
    • Heimböckel, Dieter, ‚Amerika im Kopf‘. Franz Kafkas Roman Der Verschollene und der Amerika-Diskurs seiner Zeit, in: DVjs 77.1 (2003) 130-147
    • Neumann, Gerhard}
      Der Wanderer und der Verschollene. Zum Problem der Identität in Goethes ‚Wilhelm Meister‘ und in Kafkas ‚Amerika‘-Roman.
      in: J. P. Stern (Hg.): Paths and Labyrinths, London 1985, S. 43-65
  • Kuhn, Kristina; Wolfgang Struck
    Aus der Welt Gefallen. Die Geographie der Verschollenen.
    200 S. Paderborn 2019: Wilhelm Fink.
  • Polko, Elise
    Erinnerungen an einen Verschollenen. Aufzeichnungen und Briefe von und über Eduard Vogel [1829–1865]. Gesammelt von seiner Schwester.
    Leipzig 1863
    Der Teilnehmer einer britischen Tschad-Expedition, zusammen mit Heinrich Barth, wurde vermutlich auf Auftrag des Sultans von Wadai ermordet. Gustav Nachtigal trug 1873 zur Klärung der Umstände bei.
  • Stüssel, Kerstin
    Verschollen. Erzählen, Weltverkehr und Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
    in: Michael Neumann/Kerstin Stüssel (Hg.): Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2011, S. 265-281

Der vorgestellte Raum

Tröstlicher als das Nichts und hoffnungsvoller als das Chaos sind Vorstellungen über unbekannte Räume. Manche davon sind als Geflügelte Worte in die Umgangssprache eingegangen:

  • Michel, Paul
    Symbolik von Ort und Raum.
    XXIV, 537 S. Bern 1997: Peter Lang. Inhalt
  • Löffler, Sigrid
    Die Welt ist unendlich viel größer, als man denkt. Ein Gespräch mit dem holländischen Weltfahrer Cees Nooteboom.
    Literaturen 11 (2005) 16-22

Der vom Menschen gegliederte Raum

Spuren gliedern den Raum auch dort, wo nie ein Mensch war. In der Vorstellung des Menschen werden sie jedoch zu Fährten hin zu einem begehrenswerten Ziel.
Der Weg zeigt Gewohnheiten an und gliedert den Raum, indem er Ziele der Vorgänger speichert.
Die Bahn ordnet die Natur den menschlichen Zielen unter, indem sie diese gewaltsam verändert.
Der Steinmann ist das erste dauerhaft gesetzte Zeichen des Menschen, das verkündet »Ich war hier«.
Der Raum (die 'geräumte' Fläche im Wald) zeigt an »Hier bleibe ich«.

Erschaffene Räume

  • Bahn
    räumen
  • Flur
    als unbewaldetes und kultiviertes Land im Gegensatz zu Feld und Wald (»Wald und Flur«)
  • Raum
    Lichtung < roden=räumen
  • Zeichen
    • Distanz
      • Georg Toepfer
        Distanz.
        In: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1/2012, Hg. v. Ernst Müller, E-journal. Online

Erschaffene Übergänge

  • Steg > Brücke
  • Damm & Deich
  • Fähre > Fährmann
  • Tor < unterbrochene Ackerfurche (lat. porta) 1) < Fahrt & Fuhr
  • Türloch & Schwelle > Innen & Außen
    • Siegert, B.
      Türen. Zur Materialität des Symbolischen.
      Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 1 (2010) 151-170.

Erschaffene Enden

  • Einfriedung
    Umfriedung: Hecke, Zaun, (Mann-)hagen
  • Mark
    ursprünglich das farblich hervorgehobene Grenzzeichen (Mal) zwischen angrenzenden Siedlungsräumen, später Grenzwald als Ganzes.
  • Ort
    im übertragenen Sinne als Siedlung
  • Rain
    als Abschluss eines Feldes oder Ackers 'Gewände'

Standpunkte des Menschen im Raum

Die Vorstellung des Raumes zerfällt für Sesshafte in den bekannten, befriedeten (umzäunten) Raum und in die Wildnis; der Einzelne verlässt die Gemeinschaft ohne die Bindung an sie aufzugeben. Hier ist Oikumene, dort ist es öd und wüst, eben (menschen-)leer, ungeachtet der Landschaftsform als Wüste, Wald, Busch, Berge, Ozean.

Punkte & Richtungen

  • Himmelsrichtungen > Sonnenaufgang & -untergang > Orientierung
  • Ultima Thule (lat.)
    Extrempunkt, ursprünglch 'nördlichste Lage', als Insel oder auf dem Festland'
  • Vogelfluglinie
    Gerade (Direttissima) von A nach B
  • Zipfelpunkte
    äußerste Orte (Singularitäten) am Rand

Ränder

  • Finis terra
    `Ende der Welt´, mit der doppelten Bedeutung von `Ende´ als finis auch `Endzweck, letzte Ursache´ und terminus `Grenze´
  • Peripherie
    `sich herumbewegen´von altgriechisch periphéresthai περιφέρεσθαι > Einzelne im Zentrum > Umland, Randland und Randzone
  • Pufferzone
  • Cleef, Eugene van
    Hinterland and Umland.
    Geographical Review 31. 2 (1941) 308–11 DOI.
  • Werner Stegmaier
    Orientierung nach Zentrum und Peripherie.
    S. 25-35 in: Bernfried Lichtnau (Hg.): Bildende Kunst in Mecklenburg und Pommern von 1880 bis 1950. Berlin 2011: Lukas

Räume

  • Berges, Wilhelm
    Land und Unland in der mittelalterlichen Welt.
    in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 3, S.399-439
  • Antje Schlottmann, Judith Miggelbrink (Hg.)
    Visuelle Geographien zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern.
    299 S. Bielefeld 2015: transcript Inhalt

Der konstruierte Raum

Raum zu konstruieren setzt Beobachtungen voraus, die der Erfahrung bedürfen und daraus folgend Hypothesen über Raumvorstellungen, die durch Messungen falsifiziert werden. Solche Vermessung wurzelt im Abstecken von Land und im Bau von Gebäuden, schreitet fort über Wegebau zur Geographie und ist Voraussetzung für Kartographie.
Anaximander (610–546 BC) war der Erste, der Erde, Welt und Kosmos in einen nicht-mythischen, sondern sachlich-räumlichen Zusammenhang stellte. Europa erscheint bei ihm erstmals als Einheit. Nach Cicero (106–43 BC) postulierte er als Erster die Kugelgestalt der Erde, siehe Weltbild.
Die gedachte Landschaft wird zur Karte mit neuen Merkmalen. Erst die geographisch gedachte Erde hat Pole, einen Äquator, Wendekreise, Breiten- und Längengrade, die man wandernd nicht in der Landschaft sehen kann. Den Raum mit der Zeit verbindend, lassen sie sich jedoch messen, etwa wenn die Sonne am Äquator senkrecht steht oder wenn mit einem Gnomon die Schattenlänge bestimmt wird.

Artefakte von Raummodellen

»Weiße Flecken« erscheinen als Artefakt der Kartographie, wenn durch sie Räume als Konstrukt des Modells entstehen, über die man nichts weiß.

  • Merriman, Peter
    Mobility, space, and culture.
    214 S. New York, NY 2012: Routledge.
  • Edward William Soja (1940–2015)
    Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-imagined Places.
    Malden 1996: Blackwell
  • ders.: Die Trialektik der Räumlichkeit.
    S. 93–123 in: Robert Stockhammer (Hg.): Topographien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen. Paderborn 2005.
  • ders.: Thirdspace – Die Erweiterung des Geographischen Blicks.
    S. 269–288 in: Hans Gebhardt, Paul Reuber, Günter Wolkersdorfer (Hg.): Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Heidelberg/Berlin 2003: Spektrum.
  • Kriz, K., Cartwright, W., Kinberger, M. (Hg.)
    Understanding Different Geographies. Lecture Notes in Geoinformation and Cartography.
    248 S. Berlin, Heidelberg 2013: Springer. DOI

Der paradoxe Raum

Leere

Das Loch ist eine Raumerfahrung etwa als Eingang zur Höhle, setzt aber immer eine Umgebung, mindestens einen Rand, voraus. `Rand´ dient bereits als Abstraktion, denn der Rand des Himmels ist der Horizont, der Rand des vertrauten Territoriums die Peripherie. Die Leere wartet hinter dem Rand, gesteigert noch durch die Vorstellung des Raumes als einem Nichts ohne Rand und Ende und erschreckt die Menschen seit je:

  • Ginnungagap (altnordisch) `gähnender Abgrund´ > die absolute Leere vor der Schöpfung
  • Horror vacui (lat.) `der Schrecken der Leere´
  • Derjenige, der die Tiefe sah (ša naqba īmuru)
    Titel des Gilgamesch-Epos in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends BC.

Die Philosophie erkannte daher für richtig, dass es keinen Raum ohne Ort gibt und keinen Ort ohne Raum. Die moderne dreidimensionale Auffassung eines Raumes (Höhe, Breite, Tiefe) lässt sich in den lateinischen Vermessungstexten der Antike jedoch nicht finden, diese reduzieren Raum immer auf Flächen und Linien.

  • Jens-Olaf Lindermann
    Locus, ager, spatium. Wortuntersuchungen zum Raumbegriff der Gromatici veteres.
    S. 199-213 (210) in: Cosima Möller, Eberhard Knobloch (Hg.): In den Gefilden der römischen Feldmesser. Juristische, wissenschaftsgeschichtliche, historische und sprachliche Aspekte. Berlin 2013: De Gruyter.
  • Rösli, Lukas
    Topographien der eddischen Mythen.
    Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda.

    Diss. Universität Zurich 2013. VI, 227 S. Tübingen 2015: A. Francke.

Der Punkt: Ort & Topp

Etymologisch gesichert ist, dass dem `Ort´ die Vorstellung einer feinen Spitze zugrundeliegt und ebenso dem niederdeutschen `Topp´ (Proto-germanisches *toppa) die Stelle, die ein Finger berührt, beides wird abstrahiert zum Punkt. Der `Ort´ (belegt ab dem 8. Jh.) führt zurück auf germ. *uzda- ‘Spitze’ (DWDS) und wird übertragen auf alles hervor-/hinausragende wie den Ortgang am Dach, den Ruhrort am Rhein, den Ort am Ende des Stollens - »ausgesetzte« Orte, die mit Furcht besetzt sind.
Danach erst bezeichnete Ort den Raum, wo man sich niederlässt: einen Platz, eine Stelle, ein Dorf, und ist damit synonym zu Ecke, Ende, Winkel - also an einem Ort, der einerseits Schutz verspricht und andererseits kein Entkommen ermöglicht.

  • Schuchardt, Hugo
    Ecke, Winkel.
    Zeitschrift für romanische Philologie 41.1 (1921) 254-258. DOI U.a. zu galloromanisch cornu `Winkel` und cornu `Horn´
  • Twellmann, Marcus
    'Stille Erdwinkel' Zur geohistorischen Imagination des 'Biedermeier'.
    In: Droste-Jahrbuch 9.12 (2013) 71-97. Online
  • Jon Anderson PlaceWorking Definitions S.113−114
  • Jon Anderson Space, and the Spatial TurnWorking Definitions S.121−122

Über den 'Punkt' bedeutungsverwandt ist das niederdeutsche Topp, das sich von toppen, tippen als punktueller Berührung ableitet. Top berührt sich mit Spitze, Hügel und Steinmann: protogermanisch *wartǭ > Varða `Steinmann´, Sanskrit वर्ष्मन् varṣman `top, Spitze, Gipfel´, litauisch viršus `top´, kirchenslawisch врьхъ vrĭxŭ `top, Spitze´ < PIE *wérsmn̥ `Hügel, Spitze, *wers- `aufstehen, Spitze´.

  • Nach Grimm: »Im Nieders. ist der Topp eines Berges, dessen Gipfel, der Topp eines Baumes, der Wipfel, Zopf, der Topp des Mastbaumes, dessen Spitze, ein Haartopp, ein Haarzopf. Das Pers. Tab hat fast eben dieselben Bedeutungen.« 3)
  • Seebold, Elmar
    Zapfen, Zipfel, Zopf, zupfen und die mots populaires in den germanischen Sprachen.
    Historische Sprachforschung/Historical Linguistics 110.1 (1997) 146-160. Online
    Für »topp sehe ich durchaus die Moglichkeit, ein gemeinindogermanisches Wort anzunehmen.« (159)
  • Ulici Claudiu-Octavian
    Asumpții Asupra Sursei Originale A Unor Cuvinte În Limba Română: Cuvinte cu etimologie necunoscută.
    Cluj-Napoka 2017: Selbstverlag. 1.153 S.
    S. 322 zahlreiche Belege um *toppa

Die Strecke: Abstand & Zwischenraum

Der Abstand zwischen zwei Punkten lässt sich als Strecke messen. Er wird aber zum Zwischenraum, wenn nur ein Punkt bekannt ist. Der Zwischenraum ist ein Drittes, siehe auch Zwillingsformeln.

  • Between und Betwixt (engl.)
  • Dazwischen
  • Gap (engl.)
  • Intervallum (lat.), intervalle (franz.)

Die Fläche: locus & topos

Für das lateinische `locus´ 4) findet sich keine sprachliche Wurzel im Lateinischen 5), ebensowenig für τόπος tópos im Griechischen. Gemeinsam ist beiden jedoch die Vorstellung einer Fläche.

Der Topos genießt umfassende Aufmerksamkeit als schillernde Metapher. Dieser muss jedoch etwas Konkretes vorangegangen sein. Welche anfängliche Vorstellung dem `topos´ zugrunde liegt, lässt sich anhand der Bedeutungen der Metaphern nur ahnen.

Das Abmessen und Zuteilen unerschlossener Landflächen (tap-tû-ú, taptû `Neubruchland´) 6) war im Zweistromland bis etwa 1200 BC gleichbedeutend mit Macht und göttlichen Kräften; danach war das fruchtbare Land verteilt. Das Werkzeug des Feldmessers - Stab und Seil - war Attribut der ältesten Stadtgötter (z.B. Bel-Marduk in Babylon). Für einen solchen Zusammenhang sprechen im Griechischen abgeleitete Begriffe wie τοπάζω `hinzielen´ und τοπεῖον `Tau, Seil´.

  • 1959 Pokorny, Julius
    Indogermanisches etymologisches Wörterbuch.
    Bd. 1, Bern 1959, S. 1088
    Etymologische Verbindung entweder mit lit. tàpti `werden´ und dessen Ableitungen (begegnen, treffen auf, kennenlernen …) oder mit cymr. tebyg (*tokʷiko-) `wahrscheinlich´.
  • 1972 Ritoòk, Z.
    Zur Geschichte des Topos-Begriffes.
    Actes de la XII conférence internationale d' études classiques, 2–7 octobre 1972 Klausenburg. Amsterdam 1975, S. 111–114.
    Im 4. Jh. bezeichnet Topos im militärischen Jargon »einen Ort von dem aus man eine bestimmte Macht entfalten, eine Wirksamkeit entwickeln kann.« Das kann man sowohl konkret über den Standort eines Werkzeugs deuten als auch übertragen auf eine Strategie.
  • 1986 Pernot, L.
    Lieu et lieu commun dans la rhétorique antique.
    Bulletin de l'Association Guillaume Budé 1.3 (1986) 253–284. Online
    S. 256 mit Verweis auf Ritoók S. 112: »la définition du lieu au sens propre comme «enveloppe» (περιέχον) ou plutôt comme «limite de l'enveloppe»., chez Arstt., Phys. IV, 210 b 34; 212 a 21.« Mit Bezug auf Isocrates (Herkules betreffend) deutet der Autor topos als ein Feld (champ) der Möglichkeiten.
  • 1995 Tormod Eide
    Aristotelian topos and Greek geometry.
    Symbolae Osloenses 70.1 (1995) 5-21, DOI
    In Proklos' Kommentar zum ersten Buch des Euklid wird der topos als »geometrischer Punkt« benannt. Dagegen bedeutet ăτoπoς atopos `unmöglich, unlogisch´.
  • 1998 Casevitz, M.
    Remarques sur l'histoire de quelques mots exprimant l'espace en grec.
    Revue des études anciennes REA 100 (1998) 417-435 Online
    Der Autor untersucht systematisch Textstellen mit Ortsbegriffen und kommt zu dem Schluss:
    • Das ältere χώρα bezeichnete eine genaue Region, einen bewohnten Raum, einen Ort mit Personen.
    • Τόπος erscheint als ein Ort ohne Menschen, unbewohnt, verlassen, wild, entfernt. Τόπος ist der Möglichkeitsraum, dem noch keine Spur menschlichen Tuns anhaftet.
  • 1997 Meier-Brügger, Michael
    Zu griechisch τόπος.
    Göttingen, Glotta 74.1 (1997) 99-100. Online
    Die von Pokorny gesetzten Möglichkeiten werden abgelehnt, dagegen etymologisch begründet: Topos hieß im Griechischen ursprünglich der Ort der Feuerstelle.
  • 2006 Rubinelli, Sara
    The Ancient Argumentative Game: τóπoι and loci in Action.
    Argumentation: An International Journal on Reasoning. 20.3 (2006) 253-272. Online
    Am Beispiel einer Passage des Isokrates Herkules betreffend wird gezeigt, dass der Begriff vor Aristoteles eine technische Bedeutung hatte, die dann als Metapher übernommen wurde. Verweis auf Ritoòk S. 112
  • 2009 Friberg, Jöran
    A Geometric Algorithm with Solutions to Quadratic Equations in a Sumerian Juridical Document from Ur III Umma.
    Cuneiform Digital Library Journal. 3 (2009). Online
    2100 BC: Das Konzept der Fläche erscheint erstmals auf babylonischen Tontafeln, die Vorstellung des Volumens findet sich auf ägyptischen Papyri; beides kennzeichnet den Beginn geometrischen Denkens.
  • 2020 Andrew Janiak
    Space: the history of a concept.
    Oxford 2020: XII, 351 S. Oxford University Press. Zu chora und topos S. 16-17.
    Topos erscheint ab Aischylos (525–456 BC) im Griechischen, während Homer (8./7. Jh. BC) den Raum mit Chora bezeichnet. Etymologisch erscheint topos als nicht-griechisch, muss also eine neue Bedeutung mitgebracht haben. Für Aristoteles (384–324 BC) entsteht topos erst durch Bewegung von etwas (S. 42 ff.) in Bezug auf die Umgebung, setzt also etwas Abgrenzbares voraus, einen Körper und dessen Position im Raum.
    Abstrahiert wird der Topos zum Raum, den der Körper einnimmt (a), der aber nur mit dem ihm umgebenden Raum (b) denkbar ist, wobei Raum (c ) die Gesamtheit von Raum a und Raum b umfasst, also paradox erscheint, weil der Körper eben kein Raum ist. Das lässt sich nur auflösen, wenn der Topos als unendlich dünner Rand des Körpers erscheint, also dessen Rand abgrenzt und selber keinen Raum einnimmt, wie bei Pernot 1986 als «enveloppe» (περιέχον).

Mundus est fabula

Den Raum zu erleben setzt Fortbewegung voraus, also immer wieder einen neuen Aufbruch aus dem vertrauten Raum mit immer neuen Übergängen durch den Zwischenraum als `das Dritte´ bis ans (vermeintliche) Ende der Welt im Zustand des Unterwegs-Seins. Raumvorstellungen sind daher Teil des (soziotechnischen) Handlungssystems »Navigation« und stehen dabei in unmittelbarem Austausch mit Fortbewegung und Orientierung. Am erfolgreichen Ende stehen die Erkenntnis: Ich weiß, wo ich bin (cogito ubi sum) und die Möglichkeit, darüber mit anderen zu kommunizieren.

  • Anja Ulrike Augustin
    »Norden, Suden, Osten, Wester «. Länder und Bewohner der Heidenwelt in deutschen Romanen und Epen des 12. bis 14. Jahrhunderts: Rolandslied, Herzog Ernst, Parzival, Willehalm, Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich.
    Diss. Band 1 677 S., Band 2: 710 S. bei Horst Brunner. Würzburg 2014.
  • Alex Bellemare
    Mundus est fabula. L’imaginaire géographique dans la fiction utopique (XVII e -XVIIIe siècles)
    Diss. XIII, 572 S. Bibl. 530–572 Paris 2017: Université Sorbonne Nouvelle Online.
    »Mundus est fabula« (Das Motto von Descartes auf seinem Porträt von Weenix) verweist auf den Zweifel daran, wie Welt wirklich ist. Auszug aus dem englischen abstract: »the texts we analyze address the links between travel and language, territory and society, mobility and subjectivity« … through five modes … naming … describing … constructing … territorialize … imaging.
  • Eder, Walter
    Zu Hause in der Fremde? Der Verlust der Raumerfahrung als Verlust des Erfahrungsraums beim Reisen.
    S.158-172 in: Schäffter, Ortfried (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen 1991: Westdeutscher Verlag.
  • Hellpach, Willy
    Geopsyche
    Die Menschenseele unter dem Einfluss von Wetter und Klima, Boden und Landschaft.
    Stuttgart Enke 1950
  • Jammer, Max
    Das Problem des Raumes (Concepts of space, dt.)
    Die Entwicklung der Raumtheorien.
    Darmstadt 1980: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
    Mit einem Vorwort von Albert Einstein
  • Koselleck, Reinhart
    ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien.
    In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1992: Suhrkamp
  • Schröder, Iris, Schürmann, Felix, Wolfgang Struck
    Jenseits des Terrazentrismus. Kartographien der Meere und die Herausbildung der Globalen Welt.
    336 S., 55 Abb. Göttingen 2022: Wallstein.
  • Wilcock, Deirdre, Gary Brierley, Richard Howitt
    Ethnogeomorphology.
    Progress in Physical Geography: Earth and Environment. 37.5 (2013) 573-600.
  • Dieter Boschung, Thierry Greub, Jürgen Hammerstaedt (Hg.)
    Geographische Kenntnisse und ihre konkreten Ausformungen.
    (=Morphomata 5) Tagungsband 2012 157 S. München 2013: Wilhelm Fink. Online Inhalt u.a.:
    • Michael Rathmann
      Kartographie in der Antike. Überlieferte Fakten, bekannte Fragen, neue Perspektiven
    • René Nünlist
      Homers Schiffskatalog
    • Reinhold Bichler
      Zur Veranschaulichung geographischen Wissens in Herodots Historien
    • Klaus Geus
      Wie erstellt man eine Karte von der Welt? Die Lösung des Ptolemaios und ihre Probleme
    • Jürgen Hammerstaedt
      Geographische Raumerfassung und Weltdarstellung im Artemidorpapyrus
    • Anne Kolb
      Antike Straßenverzeichnisse - Wissensspeicher und Medien geographischer Raumerschließung
    • Jan Mokre
      Globen als Speicher von Wissen
    • Sabine Poeschel
      Die Erdteil-Allegorien der Neuzeit
  • Hartmut Heller (Hg.)
    Raum – Heimat – fremde und vertraute Welt. Entwicklungstrends der quantitativen und qualitativen Raumansprüche des Menschen und das Problem der Nachhaltigkeit.
    384 S. Wien und Münster 2006: LIT. Inhalt u.a.:
    • Andreas Mehl
      Griechen und Römer in neuen Lebensräumen: die Frage nach der Anpassung
    • Jürgen Zwernemann
      Raum und Raumvorstellungen bei westafrikanischen Savannenvölkern
    • Alfred K. Treml
      Warum steigen Menschen (freiwillig) auf die Berge?
    • Hartmut Heller
      Stratigraphie des Heimatbegriffs
    • Walther L. Fischer
      Raumformen – Formen im Raum. Zur Geschichte geometrischen Denkens: Von der Höhlenmalerei zur nacheuklidischen Geometrie
  • Aurel Schmidt
    Reisen. Raum. Körper. Deplazierungen am Ende bzw. am Anfang des Millenniums oder: Die Reise bin Ich.
    in: Paolo Bianchi (Hg.): Ankommen - Hiersein - Weggehen.
    Köln 1997: Kunstforum International 136.
  • Simmel, Georg
    Soziologie des Raums.
    S. 132-183 in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band 1 (= Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe, 7) Frankfurt a.M. 1995
1)
Schaaf, Ludwig
Encyclopädie der klassischen Alterthumskunde. 5 Bde. Magdeburg, 1837-1839. S. 21
2)
postuliert von Claudius Ptolemäus (100–175) in Geographike Hyphegesis
3)
„topp, m.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=T06866>, abgerufen am 01.07.2022.
„topp“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/etymwb/topp>, abgerufen am 01.07.2022.
4)
erstmals bei Lucius Livius Andronicus, um 200 BC
5)
de Vaan M.
Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages.
Leiden, Brill, 2008. S. 347.
Höfler, Stefan
Zur Etymologie von lat. laxus ‘locker, weit’.
Philologia Classica 12.2 (2017) 154-159
6)
Spar, Ira, Eva von Dassow, Wilfred G. Lambert
Cuneiform Texts in the Metropolitan Museum of Art: Private archive texts from the first millennium BC.
Vol. 3. Metropolitan museum of art, 1988, S. 21.
Wunsch, Cornelia
Das Egibi-Archiv. I. Die Felder und Gärten.
Cuneiform Monographs, 20. XXXII, 305 S. Groningen 2000: Sytx.
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