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wiki:itinerar

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Itinerar

Abgeleitet vom lateinischen iter (Weg) bezeichnet Itinerar (Mz. Itinerare oder Itinerarien) als Reiseliteraturgattung zuerst antike Formen wie das Itinerarium Antonini. Alle Entferungsangaben im römischen Reich bezogen sich auf das Milliarium Aureum, die unter Kaiser Augustus errichtete Säule im Herzen des antiken Roms beim Tempel des Saturn. In der Antike war es die Aufgabe von Bematisten (griechisch) und Agrimensoren (römisch) das Heer zu begleiten, dabei den Weg und die Landschaft zu vermessen und Itinerare zu erstellen. Alexander der Große gründete die Bibliothek in Alexandria auch mit dem Ziel, das geographische Wissen seiner Zeit zu sammeln, indem die Itinerare seiner Bematisten und die Periploi der anlegenden Schiffe gesammelt wurden.
→ Ausstellung mit Begleitband: 2020 Auf Achse mit den Römern: Reisen in römischer Zeit

Formen des Itinerars

Notwendig, aber nicht hinreichend für ein Itinerar ist eine Ortsnamenliste. Hinzu kommt erstens, dass diese Liste räumlich geordnet sein muss, also eine entsprechende Raumvorstellung widerspiegelt. Zweitens muss diese Ordnung sich in der Wirklichkeit durch einen gangbaren Weg bewähren, setzt also Erfahrung voraus.

  • In seiner reduziertesten Form zeigt ein Itinerar als lineare und gerade Liste die Orte auf einer gangbaren Route auf dem Land von A nach B im Abstand von Tagesetappen als Reihenfolge (analog dazu listet ein Periplus Häfen und Landmarken während einer Schiffreise auf). Dies ermöglicht Reisenden vorher die Routenplanung, unterwegs die Wegfindung und Orientierung. Das Itinerar wird zum Subsystem eines soziotechnischen Handlungssystems.
    • Tagesetappen zeigen an, was unter normalen Umständen möglich ist (–> Reisegeschwindigkeit).
    • Gemessene Strecken (Schritte, Meilen, Kilometer) sind zwar objektiv genauer, doch abseits guter Wege nicht aussagekräftig, weil abhängig vom Zustand des Weges, von Hindernissen (Flüssen und Bergen), vom Orientierungsaufwand, von Wetter und Jahreszeit.
  • Man kann ein solches Itinerar als abstrahierte Apodemik auffassen, denn der dargestellte Reiseweg ist ja eine Auswahl und Empfehlung, zeigt also an, auf welchem Weg man 'richtig' reist. Anders ausgedrückt: Der riesige Zwischenraum zwischen A und B wird reduziert auf eine Reihe von Fixpunkten und erlaubt es damit sich zu fokussieren, indem alles andere links und rechts liegengelassen wird. Szabó (2003) wies darauf hin, dass die Anfangs- und/oder Endpunkte mancher (Pilger-)Itinerare nicht am Wohnsitz des Autors beginnen oder enden, sondern an einem zentraleren Ort (Einsiedeln: 1495 Künig, Lübeck: Hausbok, Avignon: 1350 Bonis …), der vielleicht als Sammelplatz für Pilger diente, zu dem hin ein Itinerar überflüssig war.
    Zeitleiste der Reiseanleitungen
  • In der skandinavischen Literatur entwirft der Leiðarvisir 'Wegweiser' im 12. Jahrhundert nach Art eines mehrfachen Itinerars bereits ein europäisches Wegenetz und liefert inhaltlich über Orte und Abstände hinaus auch zweidimensionale Zusammenhänge, indem Knotenpunkte eine Entscheidung über die Richtungswahl verlangen 1).
  • Grafische Elemente deuten eine Skizze als Übergang zur Karte an, erkennbar an:
    • kleinere oder größere Abstände zwischen den Orten als ersten Schritt hin zu einem Maßstab;
    • geschwungene Linien als erster Schritt hin zu Richtungsangaben;
    • Signaturen, die Ortskategorien unterscheiden: Dorf, Stadt, Burg, Kloster …
    • dem Übergang vom Streifenformat (engl. straight-line diagram SLD: strip maps > John Ogilby 1675) zum Rechteck
    • ein Wegenetz.
  • Im Unterschied zur Skizze zeigt eine vollständige Karte Himmelsrichtungen sowie einen Maßstab (→ Kartographie) und wird letztlich zur Weltkarte als Ausdruck eines Weltbildes.
    Zeitleiste des Weltbildes
    • Karten verdrängen Itinerare nicht, sondern behalten einzelne Elemente. Thomas Butler ergänzt um 1550 die Gough Map (=Bodleian Map, um 1300) durch 9 Routen in Form von Itineraren. Bis heute werden viele Karten mit Entfernungstabellen und Ortslisten ergänzt, so dass die individuelle Reiseplanung zu einem Itinerar führt.
  • Der Übergang zu Reiseführern beginnt, sobald ein Itinerar durch Kommentare ergänzt wird; damit vervielfacht sich der Umfang. In der allgemeinsten Bedeutung wird 'Itinerar' zum Synonym für ältere Reiseführer, etwa für die gleichnamige Sammlung der Universität Göttingen, die bereits 1.445 2) ihrer 8.000 Titel digitalisiert hat und anstrebt »daß auf dortiger Bibliotheque sich complet finden mogten […] alle Voyages und Reis Beschreibungen.« (Gerlach Adolf von Münchhausen 1748).
  • Die littauischen Wegeberichte des 14. Jahrhunderts sind erweiterte Itinerare mit vielen zusätzlichen Hinweisen und Empfehlungen. Sie beschreiben die Landschaft (Flüsse, Seen, Sümpfe, Wälder) mit Orientierungspunkten, besondere Hindernisse sowie gute Rastplätze, Hinweise auf die Versorgung mit Wasser, Nahrung oder Futter für Pferde.
  • Manche Quellen sind formal kein Itinerar, stehen ihm jedoch nahe, z.B.
    • kann aus Egerias Briefbericht ein Itinerar rekonstruiert werden;
    • können aus einem Ortsnamenregister wie der Cosmographia zahlreiche Itinerare abgeleitet werden;
      zudem basiert dieses Register ziemlich sicher auf zahlreichen Itineraren;
    • kann das Synaxar von Konstantinopel als Quelle für ein Itinerar nach persönlichem Interesse dienen;
    • ebenso die Mirabilia urbis Romae oder ein Libellus de locis sanctis.

Itinerare als Informationssystem

Handgeschriebene Itinerare sind in einer überschaubaren Anzahl überliefert. Die von Wolkenhauer 1907 beschriebene Itinerarrolle (datiert um 1520) ist bis heute ein singulärer Fund (Pablo-Martí 2023), technisch ein Rotulus (Miedema 2020) und wird informationstechnisch ergänzt durch einen Kalender mit Mondphasen und Feiertagen, durch Stoffmaße.
Mit der Vervielfältigung durch den Druck (insbesondere als Einblattdrucke) ab dem 16. Jahrhundert gehen einher:

Funktion Form Informationsgehalt Titel
Wegweiser Liste Ortsfolge als Route Weg-Weiser
Entfernung Liste Länge oder Reisetage
linear zwischen zwei Orten
eindimensional
Meilenzeiger
Tabelle systematische Distanzen
zwischen allen Orten
zweidimensional
Tabula Poliometrica
Ortsnamen Liste Toponyme alphabetisch geordnet Städte-Weiser
Ortskategorien Signaturen Städte, Burgen, Märkte,
Dörfer, Flecken, Klöster
Raumvorstellung Schema Routen als Strahlen von einem
Zentrum aus in Himmelsrichtungen
vor 1521 Straßburg
1560 Nürnberg
1639 Augsburg
»in einem Cirkel
gesetzte Scalae«
Liste Posten (posta stationes) Kursbuch
Karte Blick von oben, Maßstab, genordet,
Straßen mit Entfernungsangaben
Hilfsmittel Tabelle Quadratzahlen Tabula Pythagorae
Anschauung Bild Allegorien, Ansichten
Sprache Kartusche Übersetzung
Herrschaft Kartusche Wappen, Widmung
Impressum Kartusche Zeichner, Stecher, Verleger, Ort, Jahr

Titelvarianten:
Astygnomon, Burattino (ital.), Columnam Milliariam, »Künstliche anzaygung«, Landtafel, Meilenzeiger, Namen-Weiser, Raißbüchlin, Städte-Weiser, Stadiasmus, Tabula Pythagorae, Tabula Poliometrica, Viatorium, Warhaffte Beschreibung (Accvrrata Descriptio), Wegzeiger u.a.m.
Diese Begriffsvielfalt spiegelt sich nicht in anderen Sprachen.

Das mittelalterliche Wegenetz ging aus dem römischen Straßennetz hervor. Nicht nur Städte, sondern auch manche Orte zeigen eine alte Wegeverbindung an, die oft noch in Flurnamen erhalten ist, etwa:

  • Herbergen und Hospize
  • Marterl, Bildsäulen, Wegekreuze, Steinmann, Wegekapellen, Klausen
  • Siechen- und Armenhäuser
  • Urchristliche Pfarreien, deren Alter an ihren Patronaten einschätzbar ist
  • Richt- und Malstätten (Mal-, Galgenberge, Weiße Steine)
  • Zoll- und Abgabestellen
  • Orte mit Marktrechten
  • Kreuzungen von Fernwegen
  • Furten
  • Pässe und Brücken

Verweise

1)
Geschrieben von Nikúlas Bergsson, 1155 Abt des Klosters MunkaÞerá, der 1149 bis 1154 nach Rom und Jerusalem pilgerte. Zitiert nach Wassenhoven, Dominik
Skandinavier unterwegs in Europa (1000-1255)
Untersuchungen zu Mobilität und Kulturtransfer auf prosopographischer Grundlage. Berlin 2006: Akademie Verlag, S. 56 ff. und 74-85.
2)
März 2021
wiki/itinerar.1767172016.txt.gz · Zuletzt geändert: von Norbert Lüdtke