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Inhaltsverzeichnis
Orientierung
Wer mit Verstand und Studium irre geht, der macht überhaupt gar keine Irrwege, er macht höchstens Umwege. Wilhelm Heinrich Riehl, Wanderbuch (1869)
Die Orientierung ist ein Teilsystem der Navigation wie auch
- Positionsbestimmung des Standortes bezüglich anderer Landmarken
- Zielsetzung, also Wahl eines Zielortes oder einer Richtung mit unbekanntem Ziel
- Routenplanung, also eine gedachte Folge von Strecken und Richtungen (Wayfinding Choremes).
- Wegfindung, also Entscheidungen, die Routenplanung und Wahrnehmung harmonisieren.
Richtung und Himmelsrichtungen
Außerhalb des vertrauten Raums ist zunächst alles fremd, alles wird Zwischenraum. Eine gegliederte Raumvorstellung und damit Orientierung entsteht:
- räumlich durch die Sonne und die eigene Position, alles Andere ist relativ dazu: vorne, hinten, links und rechts.
- zeitlich in erster Linie durch den Sonnenaufgang.
Zur aufgehenden Sonne blickend ergibt sich zusammen mit dem Körper daraus eine Vorstellung von vier Himmelsrichtungen: Blickrichtung Sonnenaufgang (Morgen > Licht: ex oriente lux), rechts (Mittag), Rücken Sonnenuntergang (Abend), links (Mitternacht > dunkel), auch in den semitischen Sprachen bedeutete dasselbe Wort `Süd´ und `rechts´; selbst im Jakutischen bedeutet ilin Ost und `Vorderseite´, aryā bedeutet West und `Rücken´, una bedeutet Süd und `rechts´ 1). Die vier Hauptrichtungen (engl. cardinal directions) sind weltweit zu finden, werden jedoch oftmals ergänzt durch oben, unten und das Zentrum; das indische System ordnet 10 Dikpalas den vier Hauptrichtungen, vier Nebenrichtungen, oben unten und Zentrum zu. Auf der Nordhalbkugel beginnen diese Ordnungen im Osten und schreiten im Uhrzeigersinn fort - das scheint jedoch bisher niemand systematisch untersucht zu haben.
In der nordischen Mythologie personifizieren die vier Erdzwerge Norðri, Suðri, Austri und Vestri diese Himmelsrichtungen und stützen derart angeordnet den Himmel 2). Als Himmelsrichtungen verbinden sie sich mit Wegen und werden zu Routen, die in bestimmte Weltgegenden führen wie vestri leið, eystri leið und der transkontinentale Austrwegr durch die Kiewer Rus bis zum Schwarzen Meer (Byzanz) und Kaspischem Meer (Daylam), siehe Karte. Vom Weg entlang der Küste nach Norden, dem norðrvegr, lieh das Land Norwegen seinen Namen. Heute bezeichnen auch alle romanischen Sprachen die Himmelsrichtungen mit den ursprünglich nordgermanischen Bezeichnungen.
Die Nützlichkeit, mit Himmelsrichtungen die Fortbewegung im Raum zu beschreiben, unterliegt jedoch geographischen Bedingungen - die Sichtweise hängt dann vom Standpunkt ab und bestimmt die Begriffe 3). Vier Himmelsrichtungen sind sinnvoll im Zentrum eines ausgedehnten Festlandes, denn am Rande und mit dem Meer im Rücken genügen drei Himmelsrichtungen für die Orientierung auf dem Land. In Ägypen gab es zwei Hauptrichtungen aufwärts und abwärts entlang des Nils, ebenso auf der Vulkaninsel Hawaii für hinauf und hinab. Die seefahrenden Völker im Mediterraneum entwickelten dagegen die Windrose mit insgesamt 12 Haupt- und Nebenrichtungen, die durch den Namen typischer Winde bezeichnet wurde 4). Karl der Große
(747 bis 814) führte für sein ausgedehntes Reich das lateinische und das germanische System zusammen 5):
Himmelsrichtungen nach den Winden
PIE 6) | Heute | Griech. | Latein | Germanisch | Windrose | Arabisch | Indisch 7) | |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
*aus- leuchten | O | Ost | Apheliótes ἀφηλιώτης | Subsolanum | Ostronivint | Levante | شرق Ash Sharq | Indra: pūrva |
SO | Ost-Süd | Eurus εὖρος | Eurus | Ostsundroni | ||||
SSO | Süd-Ost | Euronotos εὐρόνοtος | Euroaustrus | Sundostroni | Scirocco | Agni: āgneya |
||
*sunþaz Sonne | S | Süd | Nótos νόtος | Austrus | Sundroni | Ostro | جنوب Al Janoob | Yama: dakṣiṇa |
SSW | Süd-West | Libonotos λιβόνοtος | Austro- africus | Sundwestroni | Libeccio | Nirriti: nairṛta |
||
SW | West-Süd | Lips λίψ | Africus | Westsundroni | ||||
*wes-pero Nacht | W | West | Zephyros ζέφυρος | Favonius | Westroni | Ponente | غرب Al Gharb | Varuna: paścima |
NW | West-Nord | Iapyx ἰαπύξ | Corus | Westnordroni | Maestro | |||
NNW | Nord-West | Thrakias θρακίας | Circius | Nordwestroni | Vayu: vāyana | |||
*ner- links | N | Nord | Aparktías ἀπαρκίας | Septem- trionem | Nordroni | Tramontana | شمال Ash Shamal | Kubera: uttara |
NNO | Nord-Ost | Boréas βoρέας | Aquilonem | Nordostroni | Greco | Ishana: aiśāna |
||
NO | Ost-Nord | Caecias καικίας | Vulturnus | Ostnordroni |
Himmelsrichtungen nach dem Stand der Sonne
Sprache | Osten | Westen | Norden | Süden |
---|---|---|---|---|
biblisch | mizrakh vorn | yam Meer | s'mol links | yamin rechts |
hebräisch | mizrakh | ma„arav | tsafon | darom |
altgriech. | Anatole ἀνατολή | Dysis δύσις | ἄρκτος árktos | Mesembria μεσημβρία |
latein | oriens | occidens | septentrion | meridies |
rumänisch | răsărit | apus | miazănoapte | miazăzi |
russisch | ост | вест | норд | зюйд |
serbisch | istok | zapad | sever | jug |
ukrainisch | схід s'hid | захід zahid | північ pivnich | південь pivden |
ungarisch | kelet | nyugat | észak | dél |
bretonisch | reter | kornog | hanternoz | kreisteiz |
lettisch | austrumi | rietumi | ziemeļi | dienvidi |
litauisch | rytai | vakarai | šiaurė | pietūs |
baskisch | ekialdea | mendebaldea | iparraldea | hegoaldea |
Europäische Richtungen
Europa hat von allen Kontinenten den größten Küstenanteil im Verhältnis zur Fläche und ist daher durch seine großen Flüsse gegliedert, die im Großen und Ganzen den Himmelsrichtungen und den Meeren entsprechen, in die sie fließen:
- nach Osten fließen die Donau ins Schwarze Meer und der Po in die Adria;
- nach Süden fließen die Rhone ins Mittelmeer sowie Don und Dnjepr ins Schwarze Meer;
- nach Westen fließen die Loire und die meisten iberischen Flüsse außer dem Ebro;
- nach Norden fließen alle Flüsse zwischen Dwina (Russland) und Seine (Frankreich) und münden ins Polarmeer, in die Ostsee und in die Nordsee.
Migrationen, die den Flüssen folgen, folgen in Europa daher auch den Himmelsrichtungen. Auf lange Sicht gesehen, führten dabei zwei Richtungen in Sackgassen:
- in den Norden, weil es mit dem Nordkap einen eindeutig nördlichsten Ort gibt;
- in den Westen, weil es mit dem Cap Finisterre einen westlichsten Ort gibt, der auf dem Landweg zu erreichen ist, vergleichbar mit dem südwestlichsten, dem Cabo de São Vicente am Ponta de Sagres, und Land’s End in Cornwall, dem westlichsten Punkt Englands.
Callaghan, R., Scarre, C.
Biscay and Beyond? Prehistoric Voyaging between two Finisterres.
Oxford Journal of Archaeology, 36 (2017) 355–373 DOISimon Schama
Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination.
704 S. München 1996: Kindler. Inhalt.
Im Vorwort Gedanken über die Rolle von Flüssen in der europäischen Expansion.
Dass man an den Enden der Welt jedoch festen Boden verließ, Segel setzte und losfuhr in die Leere, dem horror vacui entgegen, war eher nicht absehbar. Manchmal ist eben etwas Druck nötig. Erik der Rote
musste Norwegen und Island verlassen wegen seiner Morde, fuhr also in eine Richtung, in der ihn niemand kannte.
Während im Norden und Westen lange Zeit nur das das Ende der Welt zu finden war, wurden Süden und Osten zu Zielen der Sehnsucht; wurden Afrika und Orient zu Räumen der Phantasie, wurden in der Vorstellung zu einem weiten Land und bildeten weiße Flecken in Vorstellungen und auf Landkarten.
Die ältesten T-O-Karten waren ebenso geostet wie die ältesten Kirchen und bei vielen Bestattungsformen liegen oder blicken die Bestatten gen Osten. Wer also auf der Karte Orientierung oder in der Kirche Zuversicht und Erleuchtung suchte, blickte in den Orient - ex oriente lux - doch dass die Sonne im Osten aufgeht, ist ein Gerücht, denn dort sieht man sie nur am 21. März und am 23. September.
Wer sich an diesen beiden Tagen am Äquator aufrecht hinstellt, wirft keinen Schatten, weil die Sonne absolut senkrecht über ihm steht. Und wer den Wendekreis des Steinbocks nach Süden hin überquert hat, wird die Sonne mittags immer im Norden sehen. Weil Hanno
»der Seefahrer« [vor 480 - 440 BC] diese Beobachtung in seinem Periplus Online niederschrieb, hielt man ihn für einen Lügner, dabei ist es der Beweis, dass er tatsächlich Afrika umsegelte, mindestens aber bis zum Golf von Guinea kam.
Sich am Sonnenstand zu orientieren, setzt also Erfahrung und Wissen voraus und an den meisten Tagen im Jahr auch noch Mathematik. Dies ergibt eine Vorstellung (innere Karte), eine Wegbeschreibung im Gespräch mit anderen und eine Landkarte, um das Wissen zu speichern.
Dass Karten nicht mehr geostet wurden wurden, ist der Kompassnadel zu verdanken, die sich in Nord-Süd-Richtung ausrichtet. Daher wurden in China die Karten gesüded, in Europa genorded. In Europa nutzte man die Kompassnadel etwa ab 1200, die Konvention Karten zu norden, setzte sich aber erst in Neuzeit bis zum 17. Jahrhundert durch.
Literatur
Beöthy, Erzsébet
Die Bezeichnungen für Himmelsrichtungen in finnisch-ugrischen Sprachen.
Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1967. XXXII, 241 S. The Hague: Mouton.Cao, Yong
Zur Darstellung und Verarbeitung von Wissen über Himmelsrichtungen. Geometrische und kognitionswissenschaftliche Aspekte.
Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1992. 198 S. Sankt Augustin Infix 1993Michael Fortescue
Eskimo Orientation System. Meddelelser om Grønland, Man & Society 11. 30 S. Kopenhagen 1988: Nyt Nordisk.Hormuth, Dennis
,Maike Schmidt
Norden und Nördlichkeit: Darstellungen vom Eigenen und Fremden.
219 S. (=Imaginatio borealis, 21) Frankfurt am Main 2010: Lang.Manfred Krebernik
Zu den georgischen Bezeichnungen der Himmelsrichtungen.
In: Georgic, 24 (2001) 74-76 DOI.
Verweist auf die besondere Bedeutung des `Südens´, etymologisch abgeleitet von `zur Seite neigen´ ebenso wie im Arabischen, also den höchsten Stand der Sonne überschritten im Sinne von Mittag > Mitte des TagesGeorg Kreis
Himmelsrichtungen.
S. 219-226 in: Boer, Pim den: Europäische Erinnerungsorte 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses. München 2012: Oldenbourg. OnlineLettau, Reinhard
Zur Frage der Himmelsrichtungen.
84 S. München 1988: Carl Hanser Verlag.Maurmann, Barbara
Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters: Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren.
Zugl.: Münster, Univ., 12, 216 S. (= Münstersche Mittelalter-Schriften, 33) Diss. München 1976: Fink. OnlineDieter Richter
Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung.
218 S. Literaturverz. S. 209-213 Berlin 2009: Wagenbach.Schimmang, Jochen
Himmelsrichtungen
Merkur März 1993, 47. Jahrgang, Heft 528, pp 260-267Wehrle, Hugo
Die deutschen Namen der Himmelsrichtungen und Winde.
Diss. Freiburg i.B. 75 S. Strassburg, 1905.
Literatur
Buchroithner, Manfred F.
Cogito ubi sum: ein Plädoyer für gute, aktuelle Gebirgskarten und deren Benutzung.
Kartographische Nachrichten 62.1 (2012) 16-19.Heth, C. D. & Cornell, E. H.
Characteristics of travel by persons lost in Albertan wilderness areas
Journal of Environmental Psychology 1998, 18, 223–235Kenneth Hill
Lost Person Behavior
National Search and Rescue Secretariat of Canada, Ottawa 1998Kenneth A. Hill
Cognition in the woods: Biases in probability judgements by search and rescue planners
Judgment and Decision Making, Vol. 7, No. 4, July 2012, S. 488–498
Die Geschichte der Orientierung
Die Notwendigkeit sich in der Natur orientieren zu müssen führte unter anderem
- über das Orientieren am Stand von Sonne, Mond und Sternen zur Astronomie;
- über das Messen von Flächen, Längen und Richtungen zur Vermessung;
- über das systematische Speichern der erfassten Informationen zur Kartographie.
Meßstab und Meßseil als älteste technische Hilfsmittel des Vermessers ermöglichen das Bestimmen
- von Himmelsrichtungen mittels Indischem Kreis,
- von Breitengraden mittels Schattenlänge,
- von rechten Winkel mittels Ägyptischem Dreieck.
Die dazu nötigen Fähigkeiten machen den Landvermesser auch zum Kundschafter und zum Geographen bei der Erkundung neuer Landschaften: Aufgaben, wie sie später die Bematisten von Alexander dem Großen
wahrnahmen. Diese waren Kundschafter und Boten, Vermesser und Schreiber, sowie hervorragende Läufer. In den sumerischen Stadtstaaten trugen Herrscher und Stadtgötter wie Marduk
als Symbol Stab und Seilring und zeigen damit die Macht des Wissens.
Literatur
Altmann, Geza
Die Orientierung der Tiere im Raum.
Wittenberg Lutherstadt 1975: A. Ziemsen.Martin Lindauer
Orientierung der Tiere im Raum:
1. Internationales Symposium der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz vom 27. bis 29. 4. 1972. Stuttgart 1973: Gustav Fischer.
Goetzfridt, Nicholas J.
Indigenous navigation and voyaging in the Pacific: a reference guide.
294 S. London 1992: Greenwood Press.Keenan, Jeremy
Sahara man: travelling with the Tuareg.
288 S., Tafeln, Karten, London 2003: John Murray.Lindsay, H. A.
The bushman's handbook.
A practical guide for finding water, snaring game, catching fish, direction finding, camping, survival in an emergency and general bushcraft.
Adelaide 1976: Rigby (Erstausgabe 1951).
Michael Bond
Wayfinding: The art and science of how we find and lose our way
Picador, London 2020.Früh, J.
Über Orientirung und Orientirungsmittel.
Schweizerische pädagogische Zeitschrift 5.1 (1895) 22-40Stegmaier, Werner
Selbststabilisierung und Selbstdifferenzierung der Orientierung: Routinen, versetzte Kontinuitäten und Orientierungswelten. Orientierung in Routinen.
in: Philosophie der Orientierung. De Gruyter, 2008. 291-320.
siehe auch:
* Reiseführer und Karten
* Kreuz des Südens
* Kartographie
* Brötchentütennavigation
* GPS
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Spengler, Oswald
Reden und Aufsätze. München 1937: C. H. Beck, S. 171-174
Ventis vero hoc modo nomina imposuit, ut Subsolanum vocaret Ostronivint, Eurum Ostsundroni, Euroaustrum Sundostroni, Austrum Sundroni, Austroafricum Sundwestroni, Africum Westsundroni, Zefyrum Westroni, Chorum Westnordroni, Circium Nordwestroni, Septemtrionem Nordroni, Aquilonem Nordostroni, Vulturnum Ostnordroni.«