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wiki:orientierung

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Orientierung

Wer mit Verstand und Studium irre geht, 
der macht überhaupt gar keine Irrwege,
er macht höchstens Umwege.
Wilhelm Heinrich Riehl, Wanderbuch (1869)

Richtungen und Himmelsrichtungen

Außerhalb des vertrauten Raums ist zunächst alles fremd. Orientierung bieten dann lediglich die Sonne und die eigene Position, alles Andere ist vor mir, hinter mir, links und rechts. Zum Sonnenaufgang blickend ergibt sich daraus die Vorstellung von vier Himmelsrichtungen: Die Erdzwerge Norðri, Suðri, Austri und Vestri entsprechen in der nordischen Mythologie den personifizierten vier Himmelsrichtungen und stützen derart angeordnet den Himmel 1).

Schon in den nordischen Sprachen bezeichnen die Himmelsrichtungen imm Sinne einer groben Richtung auch Wege im Sinne von Routen wie vestri leið, eystri leið und der transkontinentale Austrwegr führte durch die Kiewer Rus bis zum Schwarzen Meer (Byzanz) und Kaspischem Meer (Daylam), siehe Karte. Norwegen lieh seinen Namen vom Weg entlang der Küste nach Norden, norðrvegr. Die Nützlichkeit, mit Himmelsrichtungen die Fortbewegung im Raum zu beschreiben, führte jedoch unter unterschiedlichen Bedingungen zu verschiedenen Ergebnissen. Europa hat von allen Kontinenten den größten Küstenanteil im Verhältnis zur Fläche und ist daher durch seine großen Flüsse gegliedert, die im Großen und Ganzen den Himmelsrichtungen und den Meeren entsprechen, in die sie fließen: * nach Osten fließen die Donau ins Schwarze Meer und der Po in die Adria; * nach Süden fließen die Rhone ins Mittelmeer sowie Don und Dnjepr ins Schwarze Meer; * nach Westen fließen die Loire und die meisten iberischen Flüsse außer dem Ebro; * nach Norden fließen alle Flüsse zwischen Dwina (Russland) und Seine (Frankreich) und münden ins Polarmeer, in die Ostsee und in die Nordsee. Weil Migrationen meist den Flüssen folgen, folgten sie in Europa damit meist auch den Himmelsrichtungen. * Dass die Sonne im Osten aufgeht, ist ein Gerücht, denn dort sieht man sie nur am 21. März und am 23. September. * Wer sich an diesen beiden Tagen am Äquator aufrecht hinstellt, wirft keinen Schatten, weil die Sonne absolut senkrecht über ihm steht. * Und wer den Wendekreis des Steinbocks nach Süden hin überquert hat, wird die Sonne mittags immer im Norden sehen. Weil Hanno »der Seefahrer« [vor 480 - 440 BC] diese Beobachtung in seinem Periplus Online niederschrieb, hielt man ihn für einen Lügner, dabei ist es der Beweis, dass er tatsächlich Afrika umsegelte, mindestens aber bis zum Golf von Guinea kam. Sich am Sonnenstand zu orientieren, setzt also Erfahrung und Wissen voraus und an den meisten Tagen im Jahr auch noch Mathematik. Dies ergibt eine Vorstellung (innere Karte), eine Wegbeschreibung im Gespräch mit anderen und eine Landkarte, um das Wissen zu speichern. Eine besondere Rolle für alle Menschen erhält dabei der Osten als Richtung des Sonnenaufgangs. In Europa kommen noch zwei besondere Perspektiven hinzu: * der Norden, weil dort die Sonne niemals steht, und weil es mit dem Nordkap einen eindeutig nördlichsten Ort gibt, der auf dem Landweg zu erreichen ist; * der Westen, weil es mit dem Cap Finisterre einen westlichsten Ort gibt, der auf dem Landweg zu erreichen ist, jedoch konkurriert dieser mit dem südwestlichsten, dem Cabo de São Vicente am Ponta de Sagres, und Land’s End in Cornwall, dem westlichsten Punkt Englands. In diesen beiden Richtungen bilden diese Orte lange Zeit das Ende der Welt, also werden Süden und Osten als entgegengesetze Richtungen zu Zielen der Sehnsucht; werden Afrika und Orient zu Räumen der Phantasie, werden in der Vorstellung zu einem weiten Land und bilden weiße Flecken auf Landkarten. Die ältesten T-O-Karten waren ebenso geostet wie die ältesten Kirchen und bei vielen Bestattungsformen liegen oder blicken die Bestatten gen Osten. Wer also auf der Karte Orientierung oder in der Kirche Zuversicht und Erleuchtung suchte, blickte in den Orient: ex oriente lux. Dass man an den Enden der Welt jedoch festen Boden verließ, Segel setzte und losfuhr in die Leere, dem horror vacui entgegen, war eher nicht absehbar. Manchmal ist etwas Druck nötig. Erik der Rote musste Norwegen verlassen wegen eines Mordes und und Island aus demselben Grund. * Callaghan, R., Scarre, C.
Biscay and Beyond?
Prehistoric Voyaging between Two Finisterres.
Oxford Journal of Archaeology, 36 (2017) 355– 373. doi: 10.1111/ojoa.12119. ==== Verirren ==== Cogito ubi sum. Ich weiß, wo ich bin. Man weiß immer, wo man ist - das Hier und Jetzt ist immer sicher. Wenn man sich jedoch »verfranzt« hat, wird
Orientierung zum Versuch herauszufinden, woher man kommt und wohin man will, also drei sichere Punkte zu erfassen, die eine klare Linie ergeben. Orientierung ist damit der erste Schritt der Wegfindung im Zwischenraum und in der Wildnis nach Merkmalen, Spuren und Wegen in der Landschaft, im Gelände. Voraussetzung dafür ist eine »kognitive Karte«, also eine Vorstellung der Umgebung, ein geistiges Abbild der Pfade, Hügel, Wälder, Bäche, Bauwerke, deren räumliches Verhältnis zueinander. Die Fähigkeit dazu entwickeln Menschen gemeinhin erst ab etwa acht Jahren. Verirren kann man sich auch in einer vertrauten Umgebung, denn ein Wald sieht nachts anders aus und Nebel nimmt alle Orientierungspunkte. Ursachen des Verirrens sind - der Mangel an Aufmerksamkeit, denn sonst könnte man ja den zurückgelegten Weg erinnern; - das Bedürfnis, eine »Abkürzung« zu nehmen, also Pfade und Wege zu verlassen; - die trügerische Annahme, den Weg zu kennen; - die Abnahme rationaler Entscheidungen; - die Zunahme von irrationalem Aktionismus, also Weiterlaufen bis zur Erschöpfung. Wanderer, die sich alleine verirren, werden fast zehnmal häufiger tot aufgefunden als verirrte Gruppen. Dass eine gewisse Vorbereitung hilfreich sein kann zeigt sich schon in der griechischen Mythologie als Ariadne dem Theseus ein Wollknäuel mitgab, damit er am »Faden der Ariadne« den Weg aus dem Labyrinth herausfinden konnte. Die Brotkrümelspur von Hänsel und Gretel zeigt, dass die Gefahr den Kindern zwar bewusst war, allerdings war die Umsetzung weniger erfolgreich. Wenn Vertrautes fremd erscheint und Wahrnehmungen täuschen, ist der Irrwisch am Werk und auch das Licht der Hoffnung wird dann zum Irrlicht. * Buchroithner, Manfred F.
Cogito ubi sum: ein Plädoyer für gute, aktuelle Gebirgskarten und deren Benutzung. Kartographische Nachrichten 62.1 (2012) 16-19. * Kathrin Passig, Aleks Scholz
Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene
Rowohlt Berlin 2010, 268 S. * Grassl, Herbert (2002)
Irrwege. Orientierungsprobleme im antiken Raum.
In: Eckart Olshausen und Holger Sonnabend (Hg.): Zu Wasser und zu Land - Verkehrswege in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums, 83-92. Stuttgart: Steiner (Geographica historica, 17). ==== Die Geschichte der Orientierung ==== Die Notwendigkeit sich in der Natur orientieren zu müssen führte unter anderem * über das Orientieren am Stand von Sonne, Mond und Sternen zur Astronomie; * über das Messen von Flächen, Längen und Richtungen zur Vermessung; * über das systematische Speichern der erfassten Informationen zur Kartographie. Meßstab und Meßseil als älteste technische Hilfsmittel des Vermessers ermöglichen das Bestimmen * von Himmelsrichtungen mittels
Indischem Kreis, * von Breitengraden mittels Schattenlänge, * von rechten Winkel mittels Ägyptischem Dreieck. Die dazu nötigen mathematischen Fähigkeiten machen den Landvermesser auch zum Kundschafter und zum Geographen bei der Erkundung neuer Landschaften: Aufgaben, wie sie später die Bematisten von Alexander dem Großen wahrnahmen. Diese waren Kundschafter und Boten, Vermesser und Schreiber, sowie hervorragende Läufer. In den sumerischen Stadtstaaten trugen Herrscher und Stadtgötter wie Marduk als Symbol Stab und Seilring und zeigen damit die Macht des Wissens. ==== Literatur ==== * Altmann, Geza
Die Orientierung der Tiere im Raum.
Wittenberg Lutherstadt 1975: A. Ziemsen. * Michael Bond
Wayfinding: The art and science of how we find and lose our way
Picador, London 2020. * Crowley, Tony
The lo-tech navigator.
147 S., Woodbridge 2004: Seafarer. * Goetzfridt, Nicholas J.
Indigenous navigation and voyaging in the Pacific: a reference guide.
294 S. London 1992: Greenwood Press. * Piotr Heller: Das Labyrinth im Kopf. FAZ 12.09.2020 * Heth, C. D. & Cornell, E. H.
Characteristics of travel by persons lost in Albertan wilderness areas
Journal of Environmental Psychology 1998, 18, 223–235 * Kenneth Hill
Lost Person Behavior
National Search and Rescue Secretariat of Canada, Ottawa 1998 * Kenneth A. Hill
Cognition in the woods: Biases in probability judgements by search and rescue planners
Judgment and Decision Making, Vol. 7, No. 4, July 2012, S. 488–498 * Keenan, Jeremy
Sahara man: travelling with the Tuareg.
288 S., Tafeln, Karten, London 2003: John Murray. * Martin Lindauer
Orientierung der Tiere im Raum:
1. Internationales Symposium der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz vom 27. bis 29. 4. 1972. Stuttgart 1973: Gustav Fischer. * Lindsay, H. A.
The bushman's handbook.
A practical guide for finding water, snaring game, catching fish, direction finding, camping, survival in an emergency and general bushcraft.
Adelaide 1976: Rigby (Erstausgabe 1951). * Schmidt di Friedberg, M.
Geographies of Disorientation.
2018 Routledge. DOI * Stegmaier, Werner
Selbststabilisierung und Selbstdifferenzierung der Orientierung: Routinen, versetzte Kontinuitäten und Orientierungswelten–Orientierung in Routinen.
in: Philosophie der Orientierung. De Gruyter, 2008. 291-320. —- siehe auch:
* Reiseführer und Karten
* Kreuz des Südens
* Kartographie
* Brötchentütennavigation
* GPS <html><img src=„https://vg09.met.vgwort.de/na/11cb641afbf14bf6898a37acf459e504“ width=„1“ height=„1“ alt=„“> </html>

1)
Lieder-Edda: Völuspá 11; Prosa-Edda: Gylfaginning 8 und 14; Skáldskaparmál 23; Þulur III 40
wiki/orientierung.1650802065.txt.gz · Zuletzt geändert: 2022/04/24 12:07 von norbert

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