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Unterwegs-Sein

Wer unterwegs ist, muss fort. 
Deutsches Sprichwörter-Lexicon von K.F.W. Wander

Als underwegen bereits im Althochdeutschen nachweisbar. Als Phrasem ist sein Bedeutungsgehalt nicht aus den Grundwörtern `unter´ + `Weg´ ableitbar, sondern umfasst mindestens folgende Bedeutungen 1):

Dieser eigenartige Begriff ist aus dem Deutschen nur unzureichend in andere Sprachen übersetzbar, weil sein Konzept unbestimmt erscheint, denn `Unterwegs-sein´:

Die Methode besteht also darin, sich zu bewegen, damit daraus etwas Neues entstehen kann. Dieses Konzept Eins-zu-Eins in andere Sprachen zu übersetzen ist nur begrenzt möglich (`auf dem Weg sein´) und sehr schwierig im Italienischen, Norwegischen, Russischen und Serbischen. Selbst im Englischen (on the way, on the road) oder Französischen (en route) werden nicht alle Bedeutungen abgedeckt und kompliziertere Formulierungen benötigt, siehe:

Reisen als Unterwegs-sein

`Reisen´ wird heute meist als unscharfer Sammelbegriff verwendet, etwa

Offensichtlich ist dies inhaltlich unzureichend, nicht konsistent oder gar widersprüchlich. Davon abweichend dient hier der Begriff des Unterwegs-seins als Oberbegriff und terminus technicus für den gemeinsamen, allgemeinen Bedeutungsgehalt der spezielleren Begriffe Gang, Fahrt, Reise, Peregrinatio, Aventiure, Seefahrt, Wandern, Wallern/Pilgern usw., weil diese alle ein Unterwegs-sein unter jeweils anderem Blickwinkel sind. Ein Beispiel: Der „Gang nach Canossa“ von 1077 war keine „Fahrt“, weil König Heinrich IV. auf erleichternde Hilfsmittel verzichtete. Er war auch keine Reise, weil ihm der aggressive Aspekt fehlte, der damals mit dem Reisen als Aufstehen für eine kriegerische Unternehmung verbunden wurde, denn der König kam als Büßer und Bittsteller und bat Papst Gregor VII. den Kirchenbann aufzuheben.
Der heutige Gebrauch verwischt dagegen solche Unterschiede, die im geschichtlichen Rückblick deutlicher zu erkennen sind. Das Unterwegs-sein als Oberbegriff zu setzen erlaubt daher eine umfassendere Betrachtung.

Der Handlungsablauf des Unterwegs-seins

Reisebilder Absichten
1 Aufbruch
Bindungen lösen
2 Hinfahrt als
weg-von & hin-zu
3 Ankunft
⇑ Aufnahme Wendepunkt ⇓
Weltbild
Folgen
6 Heimkehr 5 Heimfahrt als
Dazwischen
4 Umkehr
Raumvorstellungen befriedeter Raum Zwischenraum Entscheidungsraum

Das Unterwegs-sein endet weder am Ziel noch bei der Heimkehr, sondern hat den Charakter eines anhaltenden Prozesses (ein soziotechnisches Handlungssystem), der in allen Beteiligten nachwirkt: in der Herkunftsgesellschaft, bei den Gastgebern, bei Reisenden, Fahrenden, Pilgernden. Auch sind die Phasen 4 bis 6 nicht einfach ein Spiegelbild der Phasen 1 bis 3 sondern eine Wende, sie kehren die Fahrt um, bieten eine andere Perspektive und unterscheiden sich qualitativ von der Hinfahrt. Das kann jeder erfahren, der eine unbekannte Strecke zunächst in einer Richtung und dann zurück hinter sich bringt oder sich an jenem Scheitelpunkt der Reise befindet, wo er sich für oder gegen eine Rückkehr entscheidet. Anhand der sechs Phasen werden verwandte Phänomene unterscheidbar:

Diesem Prozess und seinen Phasen eignet eine gewisse Dauer, sonst wäre der Besuch beim Nachbarn oder der Gang zum Briefkasten eine Reise. Da das natürliche Zeitgefühl des Menschen durch den Rhythmus von Tagen geprägt ist, müsste das Unterwegs-sein mindestens sechs Tage dauern, damit jede Phase erlebt werden kann. (Die Fremdenverkehrswirtschaft definiert Reisen als mindestens fünf Tage zwischen Aufbruch und Heimkehr.)

Das Makrosystem Unterwegs-sein bildet mit dem Mesosystem Navigation und dem Mikrosystem des mobilen Alltags die wesentlichen Bereiche des soziotechnischen Handlungssystems.

Die Gemeinsamkeiten im Unterwegs-sein

Es gibt Reisende und Fahrende, Wanderer und Pilger. Von Unterwegs-Seienden spricht man dagegen nicht. Menschen, die handelnd die obige Struktur durchlaufen, werden

Die Unterschiede im Unterwegs-sein

Die Bezeichnungen für die Formen des Unterwegs-Seins leiten sich in vielen Sprachen vom Weg ab türk. yul …) bzw. vom Gehen auf dem Weg, wobei dies nur zwei Perspektiven für dieselbe Vorstellung sind.

Aus dem zugrundeliegenden Handeln (angezeigt durch Verben der Fortbewegung wie germ. gangan, wegan) wird eine abstrakte Tätigkeit (Nomina wie Gang oder Weg). Diese grenzt sich zwar ab vom weglosen Gang (z. B. Jagd) und vom zweckfreien Gang (z. B. Wallern, Wandern), enthält jedoch weder Angaben über verwendete technische Mittel noch über ein bestimmtes Ziel oder den verfolgten Zweck. Der Gang nutzt den Weg, weil es ein gemeinsamer Weg ist. Gemeinschaftlich entstandene Wege führen zu anerkannten Zielen, also liegen sowohl dem dem Weg als auch dem Gang immer bekannte Ziele zugrunde.

Die Fahrt wurzelt begrifflich in der Landwirtschaft und verweist im ursprünglichen Sinne auf ein Hilfsmittel, setzt also Fuhrwerke voraus. Die Fahrt ist eine gemeinschaftlich anerkannte Methode (Ackerbau), die zielgerichtet auf unbekannte Wege außerhalb angewandt wird. Anerkannte Ziele lassen Figuren erkennen: Boten, Gesandte, Kundschafter, Pilger, Entdecker …

Das Reisen erhält erst später in mittelhochdeutscher Zeit die Bedeutung von `unterwegs-sein´ (Heidenreise, Preußenreise) mit einer aggressiven Bedeutung bereits im Althochdeutschen (reisa), die im englischen rise on noch anklingt: Aufstehen und etwas unternehmen, meist im Sinne von Segel setzen, kämpfen, plündern, rauben (ahd. rīsan = sich erheben, steigen, fallen).
Solch eine aggressive Bedeutung findet sich hier und da einzelsprachlich auch für die Fahrt, nicht aber für den Gang, das Wandern und Wallern. Dieselbe Bedeutung hat das griechische Ταξείδιον (latinsiiert tassedium), ursprünglich als eine expeditio bellica ‚kriegerische Reise‘ gedeutet 3), wobei die Aufgabe des Anführers ‚procertari‘ genannt wird, also ‚sich auf einen Kampf einlassen‘. Das zugrunde liegende Verb ταξείδεὑειν kann auch mit navigare (‚segeln‘) übersetzt werden. Im 11. Jahrhundert schließlich bezeichnet das Wort Taxedion im Venezianischen eine bestimmte Art von Geschäftsunternehmungen (‚Collegantia‘) 4).

`Wandern´ ist verwandt mit `wenden´ und `wandeln´, also `(sich) verändern´. Das Altnordische bezeichnet den Wanderer als vǫnsuðr bildlich für `Der Schwingende´ 5). Dieselbe Vorstellung findet sich im I-Ging-Zeichen I-Ging-Zeichen 56: Der Wanderer 旅 lǚ. `Achse´ bedeutet schwingen, daher auch `Achsel´, weil die Arme beim Gehen um dieselbe schwingen.

Die Legitimation des Aufbruchs

Ursächlich für die Begriffswechsel erscheint ursprünglich die unterschiedliche Legitimation des Aufbruchs des Einzelnen aus der Gemeinschaft. Damit erhielt die Unternehmung einen Sinn für alle:

Diese Legitimation unterliegt den Zeitläuften und kann sich ändern. In `Urlaub´ ist die Erlaubnis noch zu erkennen. Urlaub wird gewährt, weil sich die Gemeinschaft davon einen Nutzen verspricht und sei es die Wiederherstellung der Arbeitskraft. Dagegen sind Fernweh, Reiselust, Erlebnis und ähnliches Kategorien des Einzelnen.

Ein Lebensgefühl

»Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, 
sehnsüchtig schreit die Ferne, 
und ich drehe mich im Bett herum 
und denke : „Reisen ...“« 
Kurt Tucholsky (1890-1935)

Wer unterwegs ist (lat. viamus), denkt nicht groß über diesen Reise-Zustand nach. Dieses Unterwegs-Sein nach der Rückkehr daheim leben zu wollen, ist symptomatisch für eine Ansteckung durch ein Reise-Virus (da gibt es unterschiedliche Formen). Manche sind immun dagegen, aber das ist nicht unbedingt ein Vorteil, denn »Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte« meinte Kurt Tucholsky.
Dieses Lebensgefühl kann sehr unterschiedlichen Gruppen von Reisenden innewohnen und ist als sinnspendende Lebenslust bereits in der Antike bekannt:

Ubi bene, ibi patria.
Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland.
Cicero (römisch, 106-43 v. Chr.) zitiert Teukros, Tusculanae disputationes 5, 108
und ähnlich Aristophanes (griechisch, ca. 450 bis 380 v. Chr.), Plutos 1151

Daheim: Ein Hafen fürs Fernweh

Che Guevara beschrieb die Rückkehr in die Heimat als Tod und Wiedergeburt und meinte »Ich bin nicht Ich«. Das Problem ist, dass Heimgekehrte und Zurückgebliebene sich in mancher Hinsicht nicht mehr verstehen. Der Reisende erzählt und die Zuhörer stülpen ein Stereotyp darüber, gegen das der Erzähler sich vergebens wehrt. Also sucht er Menschen, die ihn verstehen, findet zu Fernreisemobil- und Globetrottertreffen oder sucht Gleichgesinnte im Club. So lange er nicht unterwegs sein kann, sind »Globetrottertreffen die zweitschönste Art unterwegs zu sein« meint Günther Schumacher-Loose und bilden einen Hafen fürs Fernweh. In Treffen und Clubs bildet sich eine Reiseszene kulturell aus; die sozialen Medien sind jedenfalls für die Reiseszene nachgeordnet, da ihnen das reisetypische Bewegen und persönliche Begegnen fehlt.

Vom Reisen erzählen: Geschichten und Geschichte

Die Vermittlung von Welt über Medien findet traditionell über Erzählen und über Literatur statt und erzeugt damit Bilder in der Vorstellung. Die besten Geschichten hört man in einer Runde Weitgereister am Lagerfeuer. Reiseliteratur entsteht, wenn das Erzähltalent ausgeprägt ist und das Bedürfnis, sein Erlebtes auszudrücken stark genug. Reiseliteratur ist erfolgreich, weil viele von einem solchen Unterwegs-Sein träumen, jedoch den Aufbruch nicht wagen. Reisebilder wirken natürlich noch besser. Zwar fällt mangelndes Talent schneller auf, jedoch übertrumpfen Bilder bei der Vermittlung über den Bildschirm den Text um ein Vielfaches.
Das Lebensgefühl des Unterwegs-Seins findet letztlich seinen zeittypischen Ausdruck insbesondere in den Genres Reiseliteratur, Road Movie, Road Music. Besondere Formen werden zur Mode und erzeugen einen Markt; hat es sich jedoch überlebt, ist es nur selten in Ausstellungen oder Museen zu bestaunen, weil es keine Erzählung mehr dazu gibt. Eine rote Linie des Unterwegs-Seins zeigt die Zeitleiste der Reisegenerationen.

Was ist Reisen? Was macht dieses Lebensgefühl von Reisenden aus? Der Versuch, seine Bedingungen und Voraussetzungen zu analysieren, findet Ansatzpunkte über:

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1)
Deutsches Universalwörterbuch Duden 2007 mit [Anmerkungen des Verfassers]
2)
Proto-Slaw. *šьdlъ (resultative participle, later past tense, of *jьti (“gehen”) + *-ьstvo + *-ьje
3)
Du Cange: Glossarium ad scriptores mediae et infimae Graecitatis
4)
Stefania Gialdroni, Albrecht Cordes, Serge Dauchy, Dave De ruysscher, Heikki Pihlajamäki (Hg.)
Migrating Words, Migrating Merchants, Migrating Law. Trading Routes and the Development of Commercial Law.
337 S. Leiden 2020: Brill. Online Dort wird verwiesen auf die Quelle: Constituta legis et usus of Pisa von 1146-56. In Kapitel 12 (De socie tate facta inter extraneos, „Von der Gesellschaft zwischen Fremden„) erscheint der Begriff tassedium (gr. Ταξείδιον) 23 mal im Sinne von ‚Handelsreise‘