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wiki:unterwegs-sein

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Unterwegs-Sein

Reise - Fahrt - Gang - und davor?

„Das Reisen“ dient heute mehr denn je als Oberbegriff für - was genau denn eigentlich? „Reisen“ ist jedoch ebenso wie andere Nomina der Fortbewegung ein Begriff der das von ihm Bezeichnete unter einem bestimmten Blickwinkel erfasst, also wie Fahrt, Gang, Wandern nie das gesamte Bezeichnete abbildet. Ein Beispiel: Der „Gang nach Canossa“ von 1077 war keine „Fahrt“, höchstens eine Bußfahrt, weil König Heinrich IV. auf erleichternde Hilfsmittel verzichten musste. Er war auch keine Reise, weil ihm der aggressive Aspekt fehlte, der damals mit dem Reisen als Aufstehen für eine kriegerische Unternehmung verbunden wurde, denn der Kaiser bat Papst Gregor VII. den Kirchenbann aufzuheben. Die Unterschiede sind deutlicher als die Gemeinsamkeiten.

Die gemeinsame Struktur von Reise - Fahrt - Gang

1 Aufbruch 2 Unterwegs-sein
als „hin zu etwas“
3 Ankunft am Ziel
6 Heimkehr 5 Heimfahrt 4 Umkehr

Die Reise endet also weder am Ziel noch bei der Heimkehr - sie hat den Charakter eines anhaltenden Prozesses, der in den Beteiligten nachwirkt.
Diesem Prozess und seinen Phasen eignet eine gewisse Dauer, sonst wäre der Gang zum Briefkasten eine Reise. Da das natürliche Zeitgefühl des Menschen durch den Rhythmus von Tagen geprägt ist, müsste eine vollständige Reise mindestens sechs Tage dauern. (Die Fremdenverkehrswirtschaft definiert Reisen als mindestens fünf Tage zwischen Aufbruch und Heimkehr.)
Außerdem sind die Phasen 4 bis 6 nicht einfach ein Spiegelbild der Phasen 1 bis 3, denn sie unterscheiden sich qualitativ. Das kann jeder erfahren, der eine unbekannte Strecke zunächst in einer Richtung und dann zurück hinter sich bringt.
Anhand der sechs Phasen werden verwandte Phänomene unterscheidbar:

  • Flucht: Freiwilliger Aufbruch und Unterwegs-sein als „fort von etwas“ .
  • Migration: Es gibt keine Umkehr.
  • Vertreibung: Erzwungener Aufbruch und Unterwegs-sein als „fort von etwas“ , keine Umkehr.
  • Verbannung: wie Vertreibung, jedoch Umkehr irgendwann möglich.
  • Heimatlosigkeit: keine Ankunft am Ziel.
  • Der ewige Wanderer: Unterwegs-sein, jedoch ohne „hin zu etwas“.

Reisende, Fahrende, Gangende und ihre Gemeinsamkeiten

Menschen, die handelnd die obige Struktur durchlaufen, werden

Ein Phänomen ohne Begriff?

Es gibt im Deutschen keinen Begriff für das eigentliche Phänomen, denn alle gebräuchlichen Begriffe sind kulturell geprägt, also auch von den Zeitläuften abhängig:

  • Die Umschreibung mit `sich fortbewegen´ nähert sich dem Phänomen an, indem die menschliche Dynamik betont wird, setzt aber erstens einen `Weg´ voaus, der weglose Reisen (Erkundungen, Forschungsfahrt, Expedition) ausschließt, und umfasst zweitens nur die ersten beiden Phasen der [Reise]struktur.
  • Der Gang drückt die dem Menschen urtümlichste Form der Fortbewegung aus, das urgermanische Wurzelverb *gan-gan spiegelt durch die Verdoppelung der Silben das Schwingen der Beine. Der Gang ist zwar Voraussetzung des Reisens, muss jedoch umgekehrt kein Reisen sein.
  • `Wandern´ ist verwandt mit `wenden´ und `wandeln´, also `sich verändern´. Im Altnordischen wird vǫnsuðr mit Wanderer übersetzt, bildlich für `Der Schwingende´ 1). Dieselbe Vorstellung findet sich auch im Persischen und Arabischen (mosāfer مسافر von Musāfahat `die Flügel schwingen´) und im I-Ging-Zeichen I-Ging-Zeichen 56: Der Wanderer 旅 lǚ.
  • Die Fahrt verweist im ursprünglichen Sinne auf ein (technisches) Hilfsmittel, also in der ältesten Form Schleifen, Schlitten, Boote, zuletzt Karren und Wagen.
  • Dem Reisen liegt das urgermanische Verb *risan zugrunde, das eine deutliche aggressive Bedeutung hat: Aufstehen und etwas unternehmen (englisch rise on), meist im Sinne von kämpfen, plündern, rauben.
    Die aggressive Bedeutung findet sich einzelsprachlich auch für die Fahrt, nicht aber für den Gang.

Die Legitimation des Aufbruchs

Ursächlich für den Begriffswechsel erscheint die Legitimation des Aufbruchs des Einzelnen aus der Gemeinschaft. Damit erhält die Unternehmung einen Sinn für alle - jenseits von Fernweh oder Reiselust, Erlebnis oder Abenteuer. Diese Legitimation unterliegt den Zeitläuften und kann sich ändern. In `Urlaub´ ist die Erlaubnis noch zu erkennen. Urlaub wird gewährt, weil sich die Gemeinschaft davon einen Nutzen verspricht und sei es die Wiederherstellung der Arbeitskraft.

Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen

Eine gründliche Untersuchung 2) fand 358 verschiedene Bezeichnungen für Fortbewegung in den ältesten Quellen der sieben altgermanischen Sprachen 3) und reduzierte diese auf 21 Stämme für das `sich-fortbewegen´ des Menschen. Diese wurden auf ihre Bedeutung im textlichen Zusammenhang untersucht und geordnet, hier stark vereinfacht:

  • *senþa erscheint als vorliterarische, urgermanische Bezeichnung der menschlichen Fortbewegung und wurde später von den nachfolgenden Formen verdrängt; *sent wäre deren indogermanische Wurzel im Sinne von senden, sinnen, trachten nach, also ein sich fortbewegen in einer bestimmten Richtung mit Ziel, Zweck und Sinn; der frühe Reisende wäre dann ein Gesandter oder Sendbote, weil er ausgesandt wurde, eine sinnvolle Aufgabe zu erledigen.
  • *ganga (Fortbewegung aus eigener Kraft ohne Hilfsmittel; indogermanisch *ğhengh `schreiten, Schritt´) und
  • *wega (Ort der Fortbewegung und teils die Fortbewegung selbst) sind in allen sieben Sprachen zu finden und dürften daher auch urgermanisch sein. Im Wesentlichen leben beide mit ihrem Bedeutungsgehalt bis heute nahezu unverändert fort.
  • Das althochdeutsche *reisa und das mittelhochdeutsche ge-verte sind später entstanden.
  • *faran (< indogermanisch *per `hinüberführen, übersetzen, durchdringen´) mit Bezug zum Wasser verdrängt in späterer Zeit in sechs Sprachen (außer Gotisch) das ältere *senþa mit weit gefasster Bedeutung. Faran wird das Wort mit den meisten Ableitungen und Aspekten und ist im heutigen Sprachgebrauch das sich fortbewegen mit einem Fahrzeug, aber auch die Fuhre für eine Wagenladung und die Furt durch ein Gewässer.
  • *wega (indogermanisch *ųeğh) hat den Bedeutungsinhalt des „auf und ab“ wie beim Wiegen mit einer Balkenwaage und dem „hin-und-her“ eines gezogenen Wagens (zwischen Acker und Ort?) sowie abstrahiert davon die Bewegungsbahn (den Weg) zwischen den beiden Polen. Weg-Worte bildeten in der Untersuchung die umfangreichste Quelle. Nach der Erfindung des Wagens wurde dieser mangels Lenkung zunächst zwischen Ort und Feld eingesetzt und erzeugte den geraden Weg mit seiner Spur, dem Geleise.
  • *weiþ-o (ahd. weida, mhd. weide, aengl. wað) bezeichnete das sich-fortbewegen zur Nahrungsbeschaffung, also ursprünglich das gezielte Angehen des Wildes auf der Jagd, später den Gang zur Weide, zum Fischgrund und erhielt sich bis zum 19. Jahrhundert vielleicht im Wadsack.

(Fast) Alle diese Bezeichnungen verschieben ihren Bedeutungsinhalt in unterschiedlich ausgeprägter Art und Weise

  • für das sich-fortbewegen, das Unterwegs-sein;
  • für einen Ort
  • dienen als Metapher
  • und als Iterativadverbien: zweimal, dreimal, viermal, immer, niemals.

Bereits in den ältesten verfügbaren Quellen der sieben Sprachen überwiegt die Verwendung als Metapher, so dass die praktische Bedeutung ein weitaus höheres Alter haben muss und sich der Sprachanalyse entzieht.

»Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, 
sehnsüchtig schreit die Ferne, 
und ich drehe mich im Bett herum 
und denke : „Reisen ...“« 
Kurt Tucholsky (1890-1935)

Ein Lebensgefühl

Wer unterwegs ist (lat. viamus), denkt nicht groß über diesen Reise-Zustand nach. Dieses Unterwegs-Sein nach der Rückkehr daheim leben zu wollen, ist symptomatisch für eine Ansteckung durch ein Reise-Virus (da gibt es unterschiedliche Formen). Manche sind immun dagegen, aber das ist nicht unbedingt ein Vorteil, denn »Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte« meinte Kurt Tucholsky.
Dieses Lebensgefühl kann sehr unterschiedlichen Gruppen von Reisenden innewohnen und ist als sinnspendende Lebenslust bereits in der Antike bekannt:

Ubi bene, ibi patria.
Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland.
Cicero (römisch, 106-43 v. Chr.) zitiert Teukros, Tusculanae disputationes 5, 108
und ähnlich Aristophanes (griechisch, ca. 450 bis 380 v. Chr.), Plutos 1151

Daheim: Ein Hafen fürs Fernweh

Che Guevara beschrieb die Rückkehr in die Heimat als Tod und Wiedergeburt und meinte »Ich bin nicht Ich«. Das Problem ist, dass Heimgekehrte und Zurückgebliebene sich in mancher Hinsicht nicht mehr verstehen. Der Reisende erzählt und die Zuhörer stülpen ein * Stereotyp darüber, gegen das der Erzähler sich vergebens wehrt. Also sucht er Menschen, die ihn verstehen, findet zu Fernreisemobil- und Globetrottertreffen oder sucht Gleichgesinnte im Club. So lange er nicht unterwegs sein kann, sind »Globetrottertreffen die zweitschönste Art unterwegs zu sein« meint Günther Schumacher-Loose und so lange ist der Club ein Hafen fürs Fernweh. In Treffen und Clubs bildet sich eine Reiseszene kulturell aus; die sozialen Medien sind jedenfalls für die Reiseszene nachgeordnet, da ihnen das reisetypische Bewegen und persönliche Begegnen fehlt.

Vom Reisen erzählen

Die Vermittlung von Welt über Medien findet traditionell über Erzählen und über Literatur statt und erzeugt damit Bilder in der Vorstellung. Die besten Geschichten hört man in einer Runde Weitgereister am Lagerfeuer. Reiseliteratur entsteht, wenn das Erzähltalent ausgeprägt ist und das Bedürfnis, sein Erlebtes auszudrücken stark genug. Reiseliteratur ist erfolgreich, weil viele von einem solchen Unterwegs-Sein träumen, jedoch den Aufbruch nicht wagen. Reisebilder wirken natürlich noch besser. Zwar fällt mangelndes Talent schneller auf, jedoch übertrumpfen Bilder bei der Vermittlung über den Bildschirm den Text um ein Vielfaches.
Das Lebensgefühl des Unterwegs-Seins findet letztlich seinen zeittypischen Ausdruck insbesondere in den Genres Reiseliteratur, Road Movie, Road Music; hat es sich überlebt, lässt es sich in * Museen bestaunen.

Wurzeln

Unterbrochen von den Weltkriegen lässt sich eine rote Linie des Unterwegs-Seins erkennen:

Der Markt

Wird ein Lebensgefühl erfolgreich, entsteht ein Markt, heute sind das:

Nachdenken über das Reisens

Was macht dieses Lebensgefühl von *Reisenden aus? Der Versuch, seine Bedingungen und Voraussetzungen zu analysieren führt zu den Komponenten


siehe auch
* Weltreise
* On the road
* Was ist Reisen?

Vom Reisen berichten

  • 1985: Durch die Libysche Wüste: Von Ägypten in den Sudan
  • 1985: Von Bulawayo (Simbabwe) zum Okavango-Delta (Botswana) mit einem Ford Fiesta
  • 1999: Auf vergessenen Pfaden von Köln nach Indien: Impressionen aus dem Iran
  • 1999: Auf vergessenen Pfaden von Köln nach Indien. Teil 3: Von Kashgar nach Lhasa auf chinesischen Lastkraftwagen
  • 1999: Auf vergessenen Pfaden von Köln nach Indien: Nachdenkliches aus Delhi

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1)
Þul Veðra 1 III/1; das Wort `Achse´ bedeutet schwingen, daher auch `Achsel´, weil die Arme beim Gehen schwingen
2)
Winfried Breidbach: Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen. Peter Lang 1994 Diss. Köln
3)
Gotisch, Altwestnordisch, Altenglisch, Altfriesisch, Altsächsisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch
wiki/unterwegs-sein.1641877800.txt.gz · Zuletzt geändert: 2022/01/11 05:10 von norbert

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