Nachdenkliches zu Delhi
Von Norbert Lüdtke
, Der Trotter und Sonja Roschy
(1999)
Wahrend wir in Amritsar saßen oder besser: lagen, feierte Indien seinen 52. Unabhängigkeitstag. Die Vorbereitungen hatten wir schon in Delhi mitbekommen und die Zeitungskommentare ereiferten sich immer noch über den Kommentar der englischen Königin vor 2 Jahren: „Delhi ist eine schmutzige Stadt“. Dehli ist eine schmutzige Stadt. Mit westlichen Augen betrachtet, kann es zum Alptraum werden: verfallene Fassaden, müllübersäte Hinterhöfe, aufgerissene Straßen mit Schlamm und Pfützen, Bettler, Kranke, Krüppel, die oft im Unrat liegen. Manche Reisende fliehen aus Indien, ihre Augen sind erfüllt von unmenschlichem Elend. Millionen von Fliegen verderben den Appetit, selbst Wasser wird nur vorsichtig genossen. Eine Luft, die der Atemmuskulatur Höchstleistungen abverlangt, füllt im Monsun ölig-schwer die Lungen, stinkt nach Abgasen aus Zehntausenden Motorradrikschas - die Sehnsucht nach frischer Luft bleibt unerfüllt.
Das ist ein mögliches Bild, doch ist dieser alltägliche Alptraum vielleicht die indische Form des Denkanstoßes, ein massiver Anlaß, die eigene Betrachtungsweise zu überprüfen. Leichter fällt das vielleicht nachts. Dann erscheinen die selben Menschen, Straßen, Häuser in anderem Licht, sie sind nicht mehr, was sie tagsüber schienen: Da stützt sich ein modriger Bretterverschlag an einer aussätzigen Mauer, stachlige Hanfseile scheinen beide zu halten. Kaum reicht das vielfach geflickte Dach, um das fettglänzende, wacklige Tischchen darunter trocken zu halten, mit seinem spärlichen Angebot aus Zigaretten, die einzeln aus der Packung schauen, einigen Keksen vielleicht und mit einem Topf, in dem das heutige „Menü“ dieser Garküche brodelt, von drei Holzkohlestücken sparsam erwärmt.
Die beiden Höckerchen sind blank gesessen und stehen in Pfützen, durch die träge der Verkehr schlurft: Schwarze Taxis und Motorräder, Motor-Rikschas und Fahrräder behaupten in engem Kontakt die Straßenmitte und drängen den Strom der Passanten zum Straßenrand. Die suchen Zuflucht zwischen Verkaufsständen und nutzen jede Gelegenheit, voranzukommen. Mittendrin steht wiederkäuend die unbeirrte, heilige Kuh, zerstiebt schwanzwedelnd und erfolglos schwarze Fliegenschwärme und plätschert Urin und Kot zu den grünen Melonenresten und roten Spuckflecken der menschlichen Wiederkäuer.
Nachts aber finde ich eine andere Wirklichkeit. Das Leben pulsiert ungemindert weiter, doch erscheint es nicht mehr als Chaos, sondern als Teil eines unfaßbaren, nicht überschaubaren Planes. Papayagroße Glühbirnen erleuchten die Verkaufsstände und schaffen viele kleine Bühnen in dieser Arena. Eine solchen Lichtkreis betretend nehme ich teil an einer mir unbekannten Aufführung. Jeder scheint seine Rolle zu kennen und spielt sie mir großer Selbstsicherheit und mit vollem Einsatz. Bewertungen erscheinen nun sinnlos, denn: sind die beiden vor mir nun Geschäftsmann oder Bettler? Der eine ehrbar, der andere ehrlos? Oder sind es nur Akteure? Ist vieleicht dem Bettler die größere Anerkennung zu zollen, weil er glaubhafter erscheint, seinen Platz gefunden zu haben scheint und ganz in seiner Rolle aufgeht?
Unser Hotel liegt in einer sehr engen Seitengasse des Main Bazar. Draußen ist es so lebendig wie in der Kölner Altstadt während des Straßenkarnevals und kaum weniger voll. Wenige Meter vor dem Hotel liegt ein fast nackter Mann, ein knapper Lendenschurz klammert sich an den dürren, aber scheinbar gesunden Körper. Tagsüber liegt er da, aber auch nachts, manchmal lang hingestreckt, manchmal mit dem Rücken an der Mauer. Die ausgestreckten Beine lassen den Passanten nur knapp einen halben Meter Platz, wer zu sehr ausweicht, gerät ins gegenüberliegende offene Urinal. Nie habe ich ihn sprechen hören. Kein Schild liegt dort, das eine Bitte enthielte oder eine Erklärung. Wenn ich vorbeikomme, schaut er manchmal, manchmal hält er auch die Hand auf. Mir erscheint der Blick klar, nicht fordernd, nicht bettelnd, doch selbstbewusst. Gleichmütig bleibt der Blick, auch wenn ich nichts gebe, er enthält weder Vorwurf noch Ärger. Eine Gabe wird ebenso selbstverständlich genommen, ohne Dank, als habe ich nur meine Pflicht erfüllt. Ich spiele meine Rolle, er die seine - das könnte ja schließlich auch umgekehrt sein. Jeder von uns hat etwas zu geben und zu nehmen und ich nehme die unausgesprochene Frage mit, weshalb ich immer noch so viel mit mir herumtrage. Viel weniger tut es ja schließlich auch. So tut er das Seine und nimmt einfach seinen Platz ein. Die wenigen Male, wo ich ihn dort nicht finde, erscheint mir der Platz leer, ich vermisse etwas. Die Eingänge zu zwei Hotels und zu einem Reisebüro liegen in weniger als fünf Metern Abstand, alle Besucher müssen an ihm vorbei. Und doch scheint sich niemand an ihm zu stoßen, man scheint zu akzeptieren, daß dies sein Platz ist.
Händler laufen den Main Bazar auf und ab, bieten Plastikschlangen an. Eines Abends sehe ich drei Kinder auf der Straße hocken, jeder mit einem Körbchen vor sich und ich denke: „Wie machen die das bloß, daß sich diese Plastikschlangen so echt bewegen.“ Es sind aber echte Kobras und wieder spüre ich, daß es hier mehrere Wirklichkeiten gibt. Immer wieder frage ich mich, wie echt das ist, was ich sehe: Schaue ich einem Spiel zu, nehme ich selbst daran teil, sind die Menschen und Dinge immer das, was sie scheinen? Auch der armselige Händler in seiner Bretterbude könnte doch ein weiser und gelehrter Mann sein, der es für richtig hielt, in dieser Phase seines Lebens diesen Platz auszufüllen.
Aus unserem Hotelzimmer scheue ich auf einen grünen Park, der merkwürdigerweise kaum besucht zu sein scheint. Erst am dritten Tag erkenne ich, daß das ein alter christlicher Friedhof ist, die Gräber sind überwuchert und nur selten ragt ein Grabstein heraus. Es ist ein großer Friedhof, die linke und rechte Begrenzung sind vom Hotelzimmer aus nicht zu sehen. Rings herum drängen sich Menschen in den engen Straßen, kaum scheint genug Platz für alle. Und dennoch scheinen alle seit Jahrzehnten den Platz zu respektieren, den die Toten einnehmen. Ich bewundere diesen Respekt, den man zu haben scheint vor den Begräbnisriten einer fremden Religion ebenso wie vor einem „Bettler“. Jedem wird der Raum zugestanden, den er auszufüllen vermag.
Delhi bei Tag besehen mag als Ort erscheinen, der verschönert und verbessert werden muss. In der Nacht erscheint mir das arrogant und besserwisserisch.
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