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Wildnis
Reinhold Messner, der Bergsteiger aus Südtirol, philosophiert über das Reisen off-the-beaten-track: »Mir ging es beim Unterwegssein in der Wildnis nicht um die Welt draussen, sondern um die Welt in mir drinnen. Ich war der Eroberer meiner eigenen Seele«
Wildnis ist in Europa selten geworden: Kleine Teile Islands und in Fennoskandinavien zählen noch dazu. Das Norwegische unterscheidet das bestellte Land (innmark) von den Weidegebieten (utmark) und der freien Natur (villmark). Der weitaus größe Teil der europäischen Wildnis liegt jedoch in Nordwest-Russland. Mehr als 90% der europäischen Wildnis bestehen aus *Tundra und *Taiga. Mit dem Rückgang der Wildnis ist auch die Furcht vor der Wildnis gewichen und wilde *Tiere sucht man eher in Afrika. Dass man Verbrecher in die Wildnis verbannte, liest sich zuletzt bei Shakespeare 1), nämlich in den »Wald von Arden«, das heutige Grenzgebiet zwischen Belgien und Deutschland, die Ardennen. Sehr leicht wird aber aus Vertrautem Wildnis, wenn man sich verirrt.
Siedler im bush
Für die meist europäischen Siedler in Amerika, Afrika, Australien, Asien blieb Wildnis dagegen real und erhielt neue Namen. Der Begriff *bush verbreitete sich aus dem Niederdeutschen über Kanada und Südafrika bis Australien. Bush bezeichnete ursprünglich die pragmatische Sichtweise der Siedler auf das unbesiedelte (und oft nicht ackerbare) Land.
Ihnen voraus gingen im nördlichen Amerika die Trapper 2); Anfang des 20. Jahrhunderts streiften noch 10.000 mountain men durch die Rocky Mountains und bis heute halten sich Mountain-Men-Vereine in den USA.
Das Herz der Finsternis
Moderner und emotional aufgeladener erscheint das australische *outback mit wenig Menschen und kaum Infrastruktur. Ihm entsprechen die argentinische Pampa und das südafrikanische veld. Dort, countryside, überleben nur autarke Gemeinschaften, Selbstversorger. Hier zeigt sich dann auch wieder die Angst. Wenn das outback gesteigert wird als *Never-Never oder middle of nowhere, wenn Plätze bezeichnet werden als *World's End verbinden sich damit biblische Vorstellungen vom Tohuwabohu (hebräisch: wüst und leer). Dabei ist richtige Wildnis eher friedlich, zum * Herz der Finsternis wird sie erst, wenn die »Zivilisation« eindringt.
Das Konzept von Wildnis wandelte sich im Laufe der Zeit: Odysseus kämpfte nicht gegen Naturgewalten, sondern gegen Ungeheuer, Abkömmlinge von Halbgöttern und Nymphen, die ihn becircten. Im Mittelalter trennte die Hecke Wohnplatz und Wald; die Heckenreiterin, die Hexe, war in beiden Welten zuhause. Erst in der Neuzeit wurde die Wildnis zum Feind. Kapitän Ahab und sein Kampf gegen * Moby Dick stehen beispielhaft dafür.
Städter und Hinterwäldler
Eher abschätzig verwenden es Städter für ihre Sicht auf das unkultivierte back country, das Hinterland, back of beyond. Menschen, die dorthin gehen, sind ihnen ebenso suspekt wie Menschen, die von dort kommen. Im amerikanischen werden sie als boondocks bezeichnet. Wörtlich heißt das Berge (Tagalog bundók); gemeint sind zurückgebliebene Hinterwäldler oder die Gebiete aus denen sie kommen:
- remote rural areas
- wilderness
- Woop Woop in Australien
- bundu in Südafrika
- to live way out in the boondocks
- habiter au fin fond de nulle part
Da wundert es einen nicht, wenn in solchen Gegenden immer mal wieder Wesen gesichtet werden, die menschenähnlich sind, jedoch nicht ganz geheuer, wie
- Man of the Bush
- Yeti im Himalaya
- Nuk-luk oder nook-luck in Kanada und Alaska
- Bigfoot in Nordamerika
- Waldmann (Abanauyu) im Osten Russlands
Christian Rätsch, Heinz J. Probst Namaste Yeti Sei gegrüßt, Wilder Mann! Knaur TB München 1985, 430 S. Eine fröhliche Wissenschaft, jedoch ernsthaft betrieben rund um die Geschichten über Wilde Männer und Wilde Frauen von Adam bis zum letzten Neandertaler. Mit einem Glossar aller Namensformen (22 S.) und einer Bibliographie (16 S.), einer Comicographie, Discographie und Filmographie!
Die Wildnis als Idyll
»Gehe nicht, wohin der Pfad dich führt, sondern gehe dort wo kein Pfad ist und hinterlasse eine Spur« Ralph Waldo Emerson (1803-1882)
Die Romantisierung der Natur findet sich in vielen Sprachen, teils in sehr spezifischen Begrifffen:
- Der Nemophilist (engl.), ein Liebhaber des Waldes, sucht dort Ruhe und Frieden
- Dendrophilia heißt die »Liebe zu Bäumen« im Englischen.
- Als Shinrin-yoku (森林浴) bezeichnet das Japanische das »Baden im Wald«.
- Komorebi (木漏れ日), ebenfalls Japanisch, werden die Lichtflecken genannt, wenn die Sonne durch die Baumkronen scheint.
- Kundung meint im Koreanischen das leichte Wedeln der Baumspitzen im Wind.
- Pluviophile (lat.) sind Menschen, die den Regen suchen.
- Oppholdsvaer heißt im Norwegischen die Wetterlage unmittelbar nach dem Regen.
- Petrichor (gr.) heißt der Geruch nach dem Regen auf heiße Steine.
- Mannvaasanai ist das tamilische Wort für den Duft des Regen auf trockener Erde.
- Gumusservi beschreibt im Türkischen das Schimmern des Mondlichts auf einer Wasseroberfläche.
- Mångata nennt das Schwedische die langgezogene Lichtstraße des Mondes auf einem See.
- Curglaff ist das schottische Wort für das Gefühl nach dem Eintauchen in kaltes Wasser.
- Thalassophile (gr.) sind Liebhaber des Meeres.
Die Vorstellung vom Paradies als natürlichem Urzustand führte über die Figur des Edlen Wilden zu Jean-Jacques Rousseaus
(1712 - 1778) Aussage, dass der Mensch nur im Naturzustand unabhängig und frei lebe. 1776–1778 schrieb er die Träumereien des einsamen Spaziergängers (Rêveries du promeneur solitaire). Zum Klassiker aller Aussteiger wurde 1854 Walden oder Leben in den Wäldern, ein Buch von Henry David Thoreau
, der das *einfache Leben beschrieb. Ins Touristische gewendet wird daran das *Abenteuerliche betont, etwa als *Safari Off-the-beaten-track, siehe auch *bush camp und *bushtucker.
Trails
Fernwanderwege (»Trails«) sind ein Konzept, die amerikanische Wildnis auch für Städter zu erschließen.
So führt der Pacific Crest Trail PCT führt 4279 Kilometer durch den Westen der USA entlang des Sierra Nevada-Gebirges und der Kaskadenkette von Manning Park in British Columbia im Norden bis Campo (Kalifornien/Mexiko) durch die Staaten Washington und Oregon ((Film: Wild (USA 2014, deutsch: Der große Trip) Regie Jean-Marc Vallée
nach dem Buch von Cheryl Strayed
(Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis) über ihre Fernwanderunge auf dem PCT, dargestellt von Reese Witherspoon
.
Der Pacific Crest Trail gehört zu den * Triple-Crown-Trails
Literatur
Grey Owl
Pfade in der Wildnis
Eine indianische Erzählung von der Natur.
Aus dem kanadischen Englisch von Peter Torberg.
Mit Photographien von Grey Owl und einem Nachwort.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019 (EA 1931) 336 S.
William J. Long
Friedliche Wildnis
Karl H. Henssel Verlag Berlin 1959
Hans Peter Duerr
Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation
Syndikat, Frankfurt am Main 1978, 418 Seiten
Ruth & Dieter Groh
Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur Band 2
Suhrkamp Frankfurt am Main 1996
Gary Snyder
Lektionen der Wildnis
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanfried Blume
Matthes und Seitz Berlin 2011
Hutchins, E.
Cognition in the wild
MIT Press Cambridge/MA 1995
Norbert Suchanek Mythos Wildnis Stuttgart: Schmetterling 2001 Broschur14,5 x 20,5 cm: 136 Seiten
»Außerhalb der Stadt gibt es nur Helden und Ungeheuer«, sagte Aristoteles
vor rund 2500 Jahren. Dorthin sandten den einen die * Götter, die anderen suchten dort ihre * aventiure. Wildnis als Gegensatz zur Zivilisation (letzteres meint tatsächlich das Leben in der Stadt) ist bedrohlich und per se zu bekämpfen. Und alles, was sich auf der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation bewegt, ist unheimlich wie die Zagahussa, die Zaunhexe, die je ein Bein hier und dort hat.
Suchaneks neues Buch unternimmt eine kritische, kulturhistorisch fundierte Auseinandersetzung mit dem westlichen Wildnis-Mythos.
Esther Schlicht Wildnis/Wilderness Kerber Verlag, 200 Seiten, 22 x 27 cm, 150 Abb., ISBN 978-3735605214
Katalog der Ausstellung in der Frankfurter Kunsthalle Schirn 2018/19 mit dem Ansatz »Die Suche nach den letzten freien Plätzen, die Expedition als künstlerische Form, posthumane Visionen einer unbevölkerten Welt prägen die Arbeit vieler zeitgenössische Künstler ebenso wie die Neuverhandlung des Verhältnisses von Mensch und Tier«
Mit einem Vorwort von Philipp Demandt sowie Beiträgen von Philippe Descola, Karen Kurczynski, Johanna Laub, Cord Riechelmann, Esther Schlicht und Reiko Tomii sowie Künstlerstatements, historische und literarische Textausschnitte.
Henri Rousseau Le Lion, ayant faim, se jette sur l’antilope
Das Gemälde von 1905 zeigt vordergründig, wie ein hungriger Löwe genussvoll in eine Antilope beisst und verweist hintergründig auf die gegenseitige Bedingtheit von Opfer und Tätern und deren natürliche Wurzeln.
Francis Galton The Art of Travel or Shifts and Contrivances available in Wild Countries John Murray, London 1855
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