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Einzelne

Die Heroisierung des Einzelnen als Held, Abenteurer, Individualist ist zwar keine Erfindung der Neuzeit, ist jedoch im 21. Jahrhundert im Absurden angekommen, weil der Einzelne von der Ausnahme zur Mehrheit geworden und mit dem Streben nach Singularität das gemeinschaftliche Wir auflöst bis hin zum totalen Rückzug ins Cocooning, Hikikomori oder als Internet-Autist. Autonomie, Selbstbestimmung, sind wichtige Ziele der Persönlichkeitsbildung zwischen Asoziale Helden und dogmatischen Systembewahrern und setzen voraus, dass man spielerisch mit Grenzen und Regeln umgehen kann: Dumme vertrauen auf Prinzipien, Schlaue wollen ans Ziel.

Der Individualist unterwegs kann Einzelreisender oder Individualtourist sein, aber als Outsider [lat. extraneus] auch zum Einzelgänger und Sonderling werden, zum ewigen Wanderer als ein Pilger auf der Reise zu sich Selbst. Im Extrem wird daraus ein a-soziales Ich ohne Bezug zum Wir auf der kompromisslosen Suche nach Selbstverwirklichung, der den meisten ein Fremder ist, oft ein Heimatloser oder gar ein Outlaw.

  • Gorʹkij, Maksim (= Maxim Gorki)
    Ein Individualist.
    Erzählung, übersetzt von P. Jakofleff. Leipzig 1901: Richard Wöpke

Den russischen Originaltitel Prochodimetz Проходимэц deutet der Übersetzer als »Der Bewanderte, Kundige« im Sinne eines schlauen Fuchses (Die englische Übersetzung 1897 nimmt Mischief-Maker), eines wandernden, ruhelosen Tricksters, ein Landstreicher oder Vagabund. Gorki thematisiert den Einzelnen in seinen Erzählungen immer wieder, vergleichbar mit Walt Whitman (Gesang von der freien Straße) und Knud Hamsun (Der Landstreicher). Die philosophische Idee dahinter nennt man Solipsismus: Nichts ist gewiss außer dem Bewußtsein des Ich (lateinisch: sōlus `allein´, ipse `selbst´).
Das italienische furbo umfasst denselben Bedeutungsgehalt und meint den Hühnerdieb, Spitzbube, Schlitzohr, Schlawiner, Schlaumeier 1).

Den furbo gab es bereits in der Antike. Das war anders, als es noch Götter gab. Die antiken Tragödien zeigen das Schicksal Einzelner - Antigone, Elektra, Ödipus - weil sie keine Wahl hatten als sich dem Spruch der Götter zu unterwerfen. Dass der Mensch seinen eigenen Willen und seine Werte über alles andere stellte, erschien ebenso wenig möglich wie es uns möglich wäre, sich dem Willen eines Zeus zu unterwerfen. Denkbar zwar, jedoch absurd. Sein Geschick in die eigene Hand zu nehmen, macht den Menschen zum Übermenschen (Friedrich Nietzsche), weil er sich Göttliches anmaßt oder zum Sisyphos (Albert Camus), weil er all sein Mühen mit Sinnlosigkeit bezahlt bekommt, mit Einssamkeit, Absonderung, Heimatlosigkeit, denn den anderen erscheitn er als zerrissen, zweideutig (totus ambiguus), gespalten und nach Bernard von Clairvaux über Abaelard sich selbst unähnlich (homo sibi dissimilis est), als Schlaumeier (prudentes nostri) und immer wieder als Trickster. Wer zeitlebens keine Ordnung (ordo) akzeptiert, erntet Chaos.

Das antike »Erkenne dich selbst« über dem Tempeleingang von Delphi wurde als »Scito te ipsum« wieder augefrischt, doch ohne Götter. Wenn zeitgleich im zwölften Jahrhundert die literarische Form der Autobiographie auflebte, weiß man, wer an deren Stelle getreten ist. Letzten Endes gibt es den Einzelnen seit der Mensch ein Ich-Bewußtsein hat, er also vom Apfel der Erkenntnis gegessen hat. Das verbindet den Adam des Alten Testamentes mit dem Enkidu der Sumerer, auch wenn bei diesem der Beischlaf die Erkenntnis bewirkte. In der Geschichte des Reisens gilt oft Francesco Petrarca (1304-1374) durch seine Schilderung vom 26. April 1336 der Besteigung des Monte Ventoux als Protagonist, der seine Fahrt dem Ich widmete.

Immer wieder fanden sich unter zeittypischen Bedingungen so viele Aussteiger einer Gesinnung, dass diese in eigenen Gemeinschaften neu zusammenfanden, sich also wieder einer Ordnung unterwarfen: Urchristen, Ritterorden, Gilden, Bruderschaften, Zünfte. 2010 prägte der Anthropologe Joseph Henrich das Akronym WEIRD für Menschen aus westlichen Kulturen, mit Erziehung, aus industrialisierten Ländern, reich und demokratisch sind auf der Basis von 24 verhaltenspsychologischen messbaren Merkmalen. Dabei zeigte sich eine stärkere Disposition zu individualistischem Verhalten, Unabhängigkeit, analytischem Denken, Offenheit für Fremdes und Gerechtigkeit. Und es zeigte sich eine geringere Disposition sich unterzuordnen, Nepotismus, Klientelwirtschaft. Die Ursache fanden sie in der historischen Bereitschaft, neue Gemeinschaften zu gründen, deren Zusammenhalt auf Übereinkunft beruhte - also eben nicht Unterwerfung unter den Familienältesten, Primat des Clans, völlige Konformität, Verzicht auf eigenes Denken.

  • Jonathan F. Schulz, Duman Bahrami-Rad, Jonathan P. Beauchamp, Joseph Henrich
    The Church, intensive kinship, and global psychological variation.
    Science 6466 (8. November 2019) 707

Literatur

  • Bynum, Caroline Walker
    Did the Twelfth Century Discover the Individual?
    The Journal of Ecclesiastical History. 31.1 (1980) 1-17.
  • Marco d’Eramo
    Die Welt im Selfie.
    Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters
    Aus dem Italienischen von Martina Kempter
    Suhrkamp Verlag Berlin 2018 362 Seiten
  • Robert Harrison über Wohlstandsbürger:
    »Nehmen gilt als Menschenrecht, das Geben ist bloss für die Doofen«
    NZZ 15.04.2019
  • Otfried Höffe
    Über die Selbstbeschränkung: Warum verzichten?
    Ein Essay. FAZ 02.12.2020
    Askese als Philosophie der Lebenskunst, Eudaimonie zu erlangen, Glückseligkeit jenseits eines Savoir-vivre durch ein einfaches Leben. »Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, – das war die Üppigkeit Epikurs (Friedrich Nietzsche, ​Der Wanderer und sein Schatten in: Menschliches, Allzumenschliches Nr. 192).
  • Morris, Colin
    The discovery of the individual, 1051-1200.
    XVIII, 188 S., New York 1972: Harper & Row.
  • Andreas Reckwitz
    Die Gesellschaft der Singularitäten
    Zum Strukturwandel der Moderne
    5. Auflage. Suhrkamp, Berlin 2018
  • Rexroth, Frank
    Fröhliche Scholastik die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters.
    505 S., München Verlag C. H. Beck 2019
  • Frank Rexroth
    Entdeckung des Individuums: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen Scheideweg
    FAZ 03.04.2021
  • Philipp Sarasin
    1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart.
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 502 S. Rezension Florian Meinel: Das Jahr 1977. Die tiefere Botschaft des Langstreckenlaufs FAZ 02.08.2021. Sarasin benennt die zweite Hälfte der siebziger Jahre als gesellschaftlichen Wendepunkt, der einerseits zu mehr Inklusion, Diversität und Freiheit führte, andererseits jedoch politische Identität und das Umschreiben von Regeln der Wahrheit verstärkte: in jedem Fall jedoch den Menschen als Einzelnen in den Mittelpunkt stellt.

Siehe auch

1)
Marc Zollinger
Achtung, Hühnerdiebe!
NZZ 06.12.2019
wiki/einzelne.1631769433.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/09/16 05:17 von norbert

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