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Zeitempfinden

Wartend auf den Zug nach Delhi auf einem indischen Bahnhof. 
Der Zug ist vier Stunden zu spät, doch der indische Zugbegleiter meint
das Ticket wäre nicht gültig.
Warum nicht? Das hier, sagt er, ist der Zug von gestern. 
Der Zug von heute kommt morgen.

Auf den Punkt genau, also »pünktlich« sind Termine einzuhalten. Früher zu kommen ist äußerst unhöflich, die üblichen »5 Minuten« werden zugestanden, während das »akademische Viertel« bereits die Nerven strapaziert, denn Pünktlichkeit gilt als Tugend, als preußisch.

So zumindest das deutsche Verständnis, das auch auf die europäischen Nachbarländer noch weitgehend zutrifft, sich jedoch weiter südlich langsam auflöst. Allerdings meinte bereits Kurt Tucholsky: »Wenn Du Dich auf jemanden verlassen willst, musst Du Dich auf ihn setzen.«

Das Versprechen und Zusagen von Verabredungen und Terminen sowie das pünktliche Einhalten ist kulturell sehr unterschiedlich ausgeprägt, die Ursachen sind verschieden. Oft wird »Zukunft« grundsätzlich als ungewiss empfunden, also erhalten Termine ein unbestimmtes Maß an Ungewissheit. In landwirtschaftlich geprägten Gebieten wird die Zeit durch die Sonne und das Verhalten der *Tiere strukturiert. Man trifft sich, wenn die Kühe nach Hause kommen oder wenn die Sonne oben steht.

Weiße haben Uhren, Afrikaner haben Zeit. Im afrikanischen Verständnis kann man Zeit weder verbrauchen noch verschwenden, sie ist einfach zuhanden, wenn man sie braucht. Die einen nutzen Zeit effektiv, damit sie nicht ungenutzt verstreicht. Die anderen verbrauchen Zeit für dieses oder jenes, beides ist gleichwertig. Der Minibus fährt zwar pünktlich um 8 Uhr ab, praktisch aber erst, wenn er voll ist. Und die Konferenz beginnt um 10 Uhr, aber erst, wenn der wichtigste Teilnehmer eintritt und dann begrüßen wir uns erst einmal.

Für Europäer ist Zeit linear: Die Uhr kann nicht zurückgedreht werden. Im indischen Verständnis läuft das Leben zyklisch. Alles hat seine Zeit. Die Dinge werden getan, wenn ihre Zeit gekommen ist. Da lässt sich nichts beschleunigen.

Wie dem auch sei, als Reisender gilt es die Signale eines elastischen Zeitgefühls zu verstehen. »Mañana« bedeutet laut Wörterbuch »Morgen«, wird im Alltag jedoch im Sinne von »heute nicht, sondern später« benutzt. Ein mañana, mañana kann dann auch nächste Woche sein. Die Verdoppelung wird auch im ostafrikanischen Kiswahili benutzt: »pole-pole« bremst jeden Versuch aus, überhaupt an einen Termin zu denken. Nun ist ja »Kommt Zeit, kommt Rat« auch als deutsches Verfahren bekannt, dagegen konkurriert aber »was Du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen«. Neigt jemand dazu routinemäßig zu verschieben, wird dies als Leiden diagnostiziert: Prokrastinismus.

spanischmañanamorgen
georgischzegübermorgen
polnischZarazbald

Marlene Rall
Ist Mañana morgen? Überlegungen über die Zeit in der interkulturellen Kommunikation
In: Der Internationale Deutschlehrerverband IDV-Rundbrief (Leipzig 1993) 51, S. 29-39

Robert Levine
Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen
1998 München: Piper
Der amerikanische Sozialpsychologe reiste in den 1990er Jahren durch 31 Länder und maß (1.) die Schrittgeschwindigkeit von Fußgängern in Innenstädten, (2.) das Arbeitstempo der Briefträger, (3.) die Ganggenauigkeit öffentlicher Uhren. Beim Gesamttempo lagen auf den Spitzenplätzen: Schweizer, Deutsche, Iren, Japanern - Mexiko lag auf Platz 31.

Rudolf Wendorff
Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa
3. Auflage. Opladen 1985

John S. Mbiti
Afrikanische Religion und Weltanschauung
Walter de Gruyter, Berlin 1974
S. 18 - 36: Der Zeitbegriff als Schlüssel zum Verständnis …

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