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Wissen

Dort war ich, sage ich Dir,
Dies ist und das geschehn;
Du glaubst,
Selbst hättest Du’s gesehn.
La Fontaine: Die Tauben 	

Erfahrungswissen

Das Wort Wissen leitet sich von einer alten indogermanischen Wurzel wizzan ab mit der Bedeutung: »Ich habe gesehen«. Reisende waren es in erster Linie, die Wissen transportierten: in die Ferne ebenso wie sie es aus der Ferne zurück der heimatlichen Gesellschaft zuführten. Solches Wissen entstammt unmittelbarer Weltanschauung. Neugier und Inter-esse (lat.: dazwischen-sein) führen zum Wissen der Reisenden, das im Spannungsfeld zwischen Staunen und Glauben entsteht. Reisende können so zu „rationalen Autoritäten“ (Erich Fromm) werden.

Termeer, Marcus
Verkörperungen des Waldes
Eine Körper-, Geschlechter- und Herrschaftsgeschichte.
Diss. Münster 2004. Bielefeld 2005 transcript Verlag. 

Translatio studii

Der französische Autor Chrétien de Troyes (1140 bis 1190) benannte vor fast 900 Jahren als Erster die Idee des Wissenstransfers (wie man heute sagen würde) als Translatio studii von den Griechen an die Römer und von diesen an die Franken und er verband diese These mit dem Reisen Einzelner. In Cliges beschreibt er, wie der Byzantiner Alexander nach Britannien an den Hof von König Artus reist, eine Braut suchend. Stoff für große Gefühle, wilde Abenteuer und Geschichten mit Erfahrungswissen. Dazu gehören drei Aspekte:

  • Transport: die körperliche Reise aus einer vertrauten in eine fremde Region oder Sphäre;
  • Translation (engl., lat. traductio): die Übersetzung zwischen zwei Sprachen;
  • Transfer: die Übertragung inhaltlicher Konzepte und Werte in eine neues (auch sozio-technisches) Handlungssystem.

Auf individueller Ebene heißt das: die Erfahrungen der Reisenden werden zu Geschichten; erfolgreiche Geschichten werden zum Vorbild und prägen Denken und Handeln, Sprache und Literatur wie etwa die Idee des Abenteuers 1).
Die Idee der translatio studii lässt sich zurückverfolgen ins 9. Jahrhundert und wirkt nach in der travelling theory von Edward Said (1978, Orientalism). Damit erweiterte sich der Möglichkeitsraum des Reisens, es wurde legitim das Staunen über und das Interesse des Selbst an der Welt zum Antrieb werden zu lassen 2) im Unterschied zum fremdbestimmten Reisen der Gesandten & Boten, Händler, Krieger, Flüchtenden. Nirgends wird das so deutlich wie in den Riddarasögur Islands am nördlichen Ende Europas 3). Die Helden der isländischen Sagas reisen nach »Antiocha, Athen, Babylon, Bari, Bologna, Karthago, Köln, Konstantinopel, Damaskus, Florenz, Jerusalem, Novgorod, Paris, Rom, Troia, durch Arabien, Ägypten, England, Flandern, Frankreich, Galizien, Deutschland, Griechenland, Holstein, Ungarn, Indien, Irland, Italien, Lombardei, Libyen, Makedonien, Mesopotamien, Palästina, Russland, Sachsen, Spanien, Syrien …« 4).

Ein solcher Wissenstransfer fand in der Neuzeit überall dort statt, wo Europäer in »Wildnis« vordrangen, die den dort lebenden Ureinwohner vertraut war 5).

Maresch, Rudolf
Raum, Wissen, Macht. 
Frankfurt am Main 2007: Suhrkamp

Institutionalisiertes Wissen

Wir alle erwerben Wissen indem wir der Welt begegnen. Solches individuelles Wissen ist wahr, wenn es hilft mit der Welt klarzukommen, wenn es also nützlich ist. Nützliches Wissen ist aber auch gesellschaftlich wertvoll, also wachsen Strukturen, die die Erfahrungen Einzelner speichern, organisieren, weitergeben. In archaischen Gesellschaften stellten Schamanen das Wissen in poetische und spirituelle Zusammenhänge; es entstanden Lieder und Kulte. Später waren es Klöster, Zünfte, Universitäten. Solch institutionalisiertes Wissen wird auch instrumentalisiert, denn wer darüber herrscht, verfolgt auch bestimmte Interessen und will die Perspektive bestimmen, mit der andere die Welt anzuschauen haben: Unterhaltung, Politik, Nachrichten, Werbung.

Die wissenschafft, so man auss reisen oder auss büchern hat, 
ist ein geflickter bettelmantel von allerhandt farben vnnd lumpen.
Die Wissenschaft bläht auf, sagen die Mönche, und füllen sich lieber mit Wein.
Deutsches Sprichwörter-Lexicon von Karl Friedrich Wilhelm Wander  

»Halte du sie dumm, ich halte sie arm.«

Was früher König und Kirche vorgeworfen wurde, kommt heute in neuen Kleidern daher. »Toxisch-autoritäre Kräfte« (Milosz Matuschek) zentralisieren Macht, indem sie das Wissen anders bewerten (»alternative Fakten«) und Kommunikation kontrollieren (fake news); Geld ist dabei sehr hilfreich. Wissensverbreitung und Machtausübung lassen sich nicht trennen, denn Reisefreiheit und der verfügbare Ausgang aus der selbstgewählten Unmündigkeit sind nicht selbstverständlich. In vielen Staaten lebt es sich für wenige so gut, dass das Volk überflüssig wird - der sogenannte Ressourcenfluch macht es möglich 6). Die Re-Feudalisierung ganzer Staaten wird dann möglich: Simbabwe durch Mugabe; Russland durch Putin, die Türkei durch Erdogan und andere.

Heute scheint das Internet der universale Ort für Wissen zu sein. Diese Welt ist verlockend, weil die virtual reality es ermöglicht, sich eine eigene Welt zu formen. Hier sind »alternative Fakten« konstruierbar, die im real life als Lüge oder Illusion an der Erfahrung scheitern würden. In dieser künstlichen Welt werden Erfahrungen durch Meinungen entwertet. Wer sich sich dem Meinungsdiktat widersetzt, dem droht die cancel culture: Einsamkeit im Netz. Das Wissen über den User ist wertvoll, nicht der User selbst: von der Feudalisierung des Internets spricht auch David Gelernter.

Subjektiv oder objektiv: Meinungen gegen Fakten, Fakt gegen Fake

Die Frage ist dabei, in welcher Welt Wissen individuell entsteht und in welcher Welt es erprobt wird. Im Mittelalter übte die Welt des Glaubens ihre Deutungshoheit aus. Erfahrungswissen endete auf dem Scheiterhaufen. In der Neuzeit wurde die Welt des Wissens so mächtig, dass der Mensch ein neues Erdzeitalter schuf, das Anthropozän. Individuell konnte sich immer schon jeder seine eigene Welt bauen. Wer dabei von der Norm zu sehr abwich, galt entweder als Orakel oder als Dorfdepp, selten als Genie; institutionalisiert gab es ihn als Narren am Fürstenhof oder als Abenteurer - Sonderfälle und Einzelschicksale. Allerdings stoßen Naturphilosophen und Physiker seit Jahrhunderten auf das Problem, Metaphysik und Mechanik sauber zu trennen. 7)

500 Jahre Wissensgesellschaft ermöglichten Demokratie und Freiheit, Überfluss und Selbstfindung. Mit den Möglichkeiten kamen Zweifel, ausgelöst durch Umweltzerstörung und Selbstoptimierung. Die Postmoderne ist geprägt durch Absurdität: Grenzenlose Freiheit öffnet auch Freiräume für Feinde der Freiheit. Grenzenlose virtual reality öffnet auch Freiräume für Leugner des real life. Sachverhalte werden wegen Empfindungen verboten. Fakten stehen alternative Fakten gegenüber.
Die Information strömt nicht flüssig, sondern überflüssig durchs Netz. Diese Brühe wird noch trüber durch den Sprechdurchfall von Deppen, die darin plätschern. Fakten sind in der trüben Brühe nur noch im Innern von Micellen zu finden, umgeben von Fake-Tensiden. Schein-Wissen dient dazu Angst zu erzeugen. Die Werkzeuge der Vernunft - *Ockhams Rasiermesser und *Aufklärung - warten tief im Schlamm darauf wiedergefunden zu werden.

Wissen ist Macht

Könnte man durchs Zuschauen ein Handwerk erlernen,
wäre jeder Hund ein Metzgermeister.
Bulgarisches Sprichwort

Entdeckungen mögen hin und wieder durch Einzelgänger erfolgt sein, aber als Methode zur Verbesserung der Lebensqualität kann die Reise nur im sozialen Zusammenhang Erfolg haben - Er-fahrungen müssen weitergegeben werden, müssen nachfolgenden Generationen verfügbar bleiben. Der Wust weiterzugebender Information überfordert schnell jedes Gedächtnis. Was tun?

  • Erfahrungen wurden systematisiert, denn Regeln sind kürzer als die Summe einzelner Erfahrungen
    (Strukturales Regelwissen: Wasser findet sich an tiefliegenden Stellen, in Höhlen, im Schatten …).
  • Unterschiedliche Beobachtungen wurden kategorisiert
    (Funktionales Wissen: Wenn dieses Gewässer immer in eine Richtung fließt, ist es ein Fluß. Ein stillstehendes Gewässer, dessen anderes Ufer ich sehen kann, ist ein See. Ein Gewässer, von dem ich nur ein Ufer sehe und das salziges Wasser enthält, ist ein Meer. Wenn Flüsse breiter werden, werden sie auch flacher und sind einfacher zu durchqueren).
  • Techniken wurden vorgemacht und nachgeahmt
    (Technisches Können: So macht man aus einem Ziegenfell einen Wassersack.)
  • Einzelbeobachtungen wurden in Geschichten verbunden. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Handlung können Geschichten Wege beschreiben. Gefährliche Stellen werden dramatisiert, ein *Held zeigt Überlebenstechniken.
  • Die Weitergabe des Wissens erfolgte regelmäßig und wurde in bestehendes Wissen eingebaut. So wurden, vielleicht jährlich, Treffen der Gruppen mit gemeinsamem Ahnen festgelegt, Rituale dienten dem Informationsaustausch, Wettbewerbe der Anwendung von Techniken.

Gehen, Singen, Orientieren

Die Festlegung des Ritualortes, die Auswahl der Teilnehmer, die Organisation der Rituale – all dies bedurfte eines Organisators, der im Umgang mit Wissen geübt war und die Techniken zur Tradierung des Wissens beherrschte – vielleicht ein Schamane oder dessen Vorgänger? Wissen ist Macht, organisertes Wissen ist Magie. „Alles, was wir über die Bewegung des Meeres wußten, war in den Strophen eines Liedes enthalten. Tausende von Jahren gingen wir, wohin wir wollten, und dank des Lieds fanden wir sicher zurück … Es gab ein Lied für den Weg nach China und ein Lied für den Weg nach Japan, ein Lied für die große Insel und ein Lied für die kleinere. Sie mußte nur das Lied kennen, und sie wußte, wo sie war. Wenn sie heimkehren wollte, sang sie das Lied einfach rückwärts. …“ (Die Worte einer alten Frau, einer sibirischen Schamanka, zit. nach Chatwin S. 380).

Es hat einiges für sich, daß die ältesten Wegbeschreibungen gesungen wurden. Das Gehen ist ein rhythmischer Vorgang ebenso wie Gesang, Sprechen dagegen erfolgt abgehackt. Mit Musik und Gesang lassen sich plätschernde Flüsse, Blätterrauschen, Vogelstimmen, polternde Steine hörbar beschreiben. Die ältesten überlieferten Dichtungen der Menschheit sind Gesänge: Ilias, Odyssee, Nibelungenlied – fahrende Sänger sorgten für ihre Verbreitung. Der skop war der weitgereiste Sänger an germanischen Königshöfen, das englische Epos widsiht besingt die weite Reise. Caesar berichtete, daß die Druiden eine große Anzahl Verse auswendig lernen, Schrift gelte als Übel. Seit zweitausend Jahren beklagen Übersetzer Homers Hexameter: sie seien für keine lebende Sprache geeignet. Die Spekulationen sind alt, daß sie auf eine nicht überlieferte Hirtensprache zurückgehen, die auf Rhythmus basierte. Einige wenige Gruppen auf der Welt verwenden heute noch melodische Nachrichtensysteme – das Jodeln in den Alpen gehört ebenso dazu wie die Pfeifsprache auf La Gomera: So kommunizieren Hirten in schwer begehbaren Gebieten. Odysseus verstopfte sich und seinen Gefährten die Ohren mit Wachs, da die Lieder der Sirenen sie vom richtigen Weg abbringen wollten.

Ob Rede oder Gesang: Die direkte Kommunikation enthält Informationen, die im Schriftlichen verlorengehen. Tonhöhe und -fall, Gesichtsausdruck und Gestik, Kostümierung und Bewegung, Weihrauch und andere Gerüche verknüpfen die übermittelte Information mit zahlreichen anderen Eindrücken, die den Informationsgehalt verstärken und ein Erinnern erleichtern.

Das Lied als Landkarte mußte Struktur und Maßstab der Landschaft enthalten, es mußte im Ein-klang mit der Natur sein, Mißklang bedeutet Verirren und Gefahr. Der Fußreisende überwindet Raum und Zeit, indem er sich selbst zum Maß aller Dinge macht: der Meter ist ein großer Schritt, die Tagesreise sein Zeitmaß, der Stand der Sonne weist die Richtung. Er schafft Wege, wo sich keine Wildwechsel oder begehbare Bodenstrukturen fanden. Mag sein, daß heutige Straßenverläufe auf Wildwechsel in germanischen Wäldern zurückgehen; im afrikanischen Busch sind es die Pfade der Elefanten, die den Weg weisen. Nicht jeder Ort eignet sich zum Lagerplatz. Ein fester Ort verlangt noch mehr: trinkbares Wasser, guter Boden für Gemüse-, Obst-, Weingärten für die Bewirtung, Fischteiche, Schutz gegen Wetter und Feinde waren nötig. Mit einer entstehenden Infrastruktur gab die Tagesreise auch den Abstand von Wirtshäusern, Unterkünften, Poststationen vor.

Auf den besten Flecken entlang eines alten Weges mögen so schon früh winzige Keimzellen späterer Orte entstanden sein, vielleicht über die Zwischenstationen Bauernhof, Gut, Pfalz, Burg, Kloster. Sie alle boten dem Reisenden Schutz und Versorgung und in dunklen Nächten * Orientierung durch Glockengeläut und Hundegebell. Ohne Landkarten und bei oft unsicherer Wegführung konnte er sich am nächsten Morgen ausführlich über die weitere Strecke informieren.

1)
Federico Celestini, Mitterbauer Helga (Hg.)
Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers.
Tübingen 22011
2)
Kollodzeiski, Ulrike Die Ordnung der Religionen. Die Vermittlung von Okzident und Orient im Reisebericht „Viaggi“ von Pietro Della Valle (1586-1652). Baden-Baden 2020: Nomos Verlagsgesellschaft. http://public.eblib.com/choice/PublicFullRecord.aspx?p=6405942
3)
Geraldine Barnes
Reisen und Translatio studii in den isländischen Riddarasögur
in: Glauser, Jürg, Susanne Kramarz-Bein, Isabelle Ravizza
Rittersagas: Übersetzung, Überlieferung, Transmission.
= Beiträge zur nordischen Philologie Bd. 45. Tübingen 2014: Francke, 203-218
Bratu, Cristian. Translatio, autorité et affirmation de soi chez Gaimar, Wace et Benoît de Sainte-Maure
The Medieval Chronicle 8 (2013): 135-164
Edouard Jeauneau
Translatio studii. The Transmission of Learning
A Gilsonian Theme, The Etienne Gilson series 18, Toronto, Pontifical Institute of Mediaeval Studies, 1995
4)
Kalinke, Marianne E.
The Foreign Language Requirement in Medieval Icelandic Romance.
The Modern Language Review 78. London 1983, 853
5)
Spooner, P. G., M. Firman, Yalmambirra
Origins of Travelling Stock Routes. 1. Connections to Indigenous traditional pathways. The Rangeland Journal. 32 (3) 2010: 329-339
6)
Alexander Etkind
Bevölkerung: überflüssig
NZZ 24.12.2019
7)
Dieter Straub
Eine Geschichte des Glasperlenspiels. Irreversibilität in der Physik: Irritationen und Folgen
306 Seiten, Birkhäu­ser-Verlag 1990; Rezension
wiki/wissen.1627365021.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/07/27 05:50 von norbert

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