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Wissen

Die Wißbegierde eröffnet alles und jedes, derart, 
daß man überall und nirgend ist.
Martin Heidegger 1889-1976, Sein und Zeit

Der Begriff Wissen leitet sich von einer alten indogermanischen Wurzel wizzan ab mit der Bedeutung: »Ich habe gesehen«. Wir alle erwerben Wissen indem wir der Welt begegnen. Solches Wissen ist wahr, wenn es hilft mit der Welt klarzukommen, wenn es also nützlich ist. Nützliches Wissen ist gesellschaftlich wertvoll, also entstehen Strukturen, die die Erfahrungen Einzelner speichern, organisieren, weitergeben. In archaischen Gesellschaften stellten Schamanen das Wissen in poetische und spirituelle Zusammenhänge; es entstanden Lieder und Kulte. Später waren es Klöster, Zünfte, Universitäten - heute ist das Internet der universale Ort für Wissen. Reisende waren es jedoch, die zu jeder Zeit Wissen aus der Ferne zuführten.

Dort war ich, sage ich Dir,
Dies ist und das geschehn;
Du glaubst,
Selbst hättest Du’s gesehn.
La Fontaine: Die Tauben 	

Wissen ist Macht

Entdeckungen mögen hin und wieder durch Einzelgänger erfolgt sein, aber als Methode zur Verbesserung der Lebensqualität kann die Reise nur im sozialen Zusammenhang Erfolg haben - Er-fahrungen müssen weitergegeben werden, müssen nachfolgenden Generationen verfügbar bleiben. Der Wust weiterzugebender Information überfordert schnell jedes Gedächtnis. Was tun?

  • Erfahrungen wurden systematisiert, denn Regeln sind kürzer als die Summe einzelner Erfahrungen (Strukturales Regelwissen: Wasser findet sich an tiefliegenden Stellen, in Höhlen, im Schatten …).
  • Unterschiedliche Beobachtungen wurden kategorisiert (Funktionales Wissen: Wenn dieses Gewässer immer in eine Richtung fließt, ist es ein Fluß. Ein stillstehendes Gewässer, dessen anderes Ufer ich sehen kann, ist ein See. Ein Gewässer, von dem ich nur ein Ufer sehe und das salziges Wasser enthält, ist ein Meer. Wenn Flüsse breiter werden, werden sie auch flacher und sind einfacher zu durchqueren).
  • Techniken wurden vorgemacht und nachgeahmt (Technisches Können: So macht man aus einem Ziegenfell einen Wassersack.)
  • Einzelbeobachtungen wurden in Geschichten verbunden. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Handlung können Geschichten Wege beschreiben. Gefährliche Stellen werden dramatisiert, ein Held zeigt Überlebenstechniken.
  • Die Weitergabe des Wissens erfolgte regelmäßig und wurde in bestehendes Wissen eingebaut. So wurden, vielleicht jährlich, Treffen der Gruppen mit gemeinsamem Ahnen festgelegt, Rituale dienten dem Informationsaustausch, Wettbewerbe der Anwendung von Techniken.

Die Festlegung des Ritualortes, die Auswahl der Teilnehmer, die Organisation der Rituale – all dies bedurfte eines Organisators, der im Umgang mit Wissen geübt war und die Techniken zur Tradierung des Wissens beherrschte – vielleicht ein Schamane oder dessen Vorgänger? Wissen ist Macht, organisertes Wissen ist Magie. „Alles, was wir über die Bewegung des Meeres wußten, war in den Strophen eines Liedes enthalten. Tausende von Jahren gingen wir, wohin wir wollten, und dank des Lieds fanden wir sicher zurück … Es gab ein Lied für den Weg nach China und ein Lied für den Weg nach Japan, ein Lied für die große Insel und ein Lied für die kleinere. Sie mußte nur das Lied kennen, und sie wußte, wo sie war. Wenn sie heimkehren wollte, sang sie das Lied einfach rückwärts. …“ (Die Worte einer alten Frau, einer sibirischen Schamanka, zit. nach Chatwin S. 380).
Es hat einiges für sich, daß die ältesten Wegbeschreibungen gesungen wurden. Das Gehen ist ein rhythmischer Vorgang ebenso wie Gesang, Sprechen dagegen erfolgt abgehackt. Wer einmalist der Lauf des Flusses hörbar beschrieben. Entsprechend lassen sich Blätterrauschen, Vogelstimmen, polternde Steine wiedergeben. Die ältesten überlieferten Dichtungen der Menschheit sind Gesänge: Ilias, Odyssee, Nibelungenlied – fahrende Sänger sorgten für ihre Verbreitung. Der skop war der weitgereiste Sänger an germanischen Königshöfen, das englische Epos widsiht besingt die weite Reise. Caesar berichtete, daß die Druiden eine große Anzahl Verse auswendig lernen, Schrift gelte als Übel. Seit zweitausend Jahren beklagen Übersetzer Homers Hexameter: sie seien für keine lebende Sprache geeignet. Die Spekulationen sind alt, daß sie auf eine nicht überlieferte Hirtensprache zurückgehen, die den Rhythmus vorzog. Einige wenige Gruppen auf der Welt verwenden heute noch melodische Nachrichtensysteme – das Jodeln in den Alpen gehört ebenso dazu wie die Pfeifsprache auf La Gomera: So kommunizieren Hirten in schwer begehbaren Gebieten. Odysseus verstopfte sich und seinen Gefährten die Ohren mit Wachs, da die Lieder der Sirenen sie vom richtigen Weg abbringen wollten.
Ob Rede oder Gesang: Die direkte Kommunikation enthält Informationen, die im Schriftlichen verlorengehen. Tonhöhe und -fall, Gesichtsausdruck und Gestik, Kostümierung und Bewegung, Weihrauch und andere Gerüche verknüpfen die übermittelte Information mit zahlreichen anderen Eindrücken, die den Informationsgehalt verstärken und ein Erinnern erleichtern.
Das Lied als Landkarte mußte Struktur und Maßstab der Landschaft enthalten, es mußte im Ein-klang mit der Natur sein, Mißklang bedeutet Verirren und Gefahr. Der Fußreisende überwindet Raum und Zeit, indem er sich selbst zum Maß aller Dinge macht: der Meter ist ein großer Schritt, die Tagesreise sein Zeitmaß, der Stand der Sonne weist die Richtung. Er schafft Wege, wo sich keine Wildwechsel oder begehbare Bodenstrukturen fanden. Mag sein, daß heutige Straßenverläufe auf Wildwechsel in germanischen Wäldern zurückgehen. Mit einer sich langsam schließenden Infrastruktur gab die Tagesreise auch den Abstand von Wirtshäusern, Unterkünften, Poststationen vor. Doch nicht jeder Ort eignete sich gut - trinkbares Wasser, guter Boden für Gemüse-, Obst-, Weingärten für die Bewirtung, Fischteiche, Schutz gegen Wetter und Feinde waren nötig.
Auf den besten Flecken entlang eines alten Weges mögen so schon früh winzige Keimzellen späterer Orte entstanden sein, vielleicht über die Zwischenstationen Bauernhof, Gut, Pfalz, Burg, Kloster. Sie alle boten dem Reisenden Schutz und Versorgung und in dunklen Nächten * Orientierung durch Glockengeläut und Hundegebell. Ohne Landkarten und bei oft unsicherer Wegführung konnte er sich am nächsten Morgen ausführlich über die weitere Strecke informieren.

Die Hexe auf dem Zaun

Die seßhaften Hirten bauten Zäune als Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Mein und Dein. Die Hexe Hagazussa sitzt auf dem Zaun: ein Bein in der Wildnis, eines in der Zivilisation. Erfolglos waren die Versuche der Inquisition, sie in die Wildnis zurückzutreiben. Unsere heutigen Reisen sind Versuche, zurück in die Wildnis zu gelangen, doch können wir den Zaun nicht mehr verlassen. Reisen ist nur noch eine schwache Referenz vor dem Wilden in uns, im Tourismus bereits pervertiert: Verzicht und Bedürfnislosigkeit waren das Kennzeichen der nomadisierenden Menschen, im heutigen Tourismus gilt das Gegenteil: Man gönnt sich ja sonst nichts! Verzicht und Reisen sind Gegensätze geworden. Wer reist, kauft Sicherheit, Risiko läßt sich einklagen. Wir können nicht mehr unschuldig reisen wie unsere Ahnen. Der frühe Mensch suchte das Andere, das Fremde, der Reisende zwischen den Seßhaften wurde zum Anderen und Fremden, fast überall. Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.
Den Zaun zwischen Wildnis und Zivilisation findet man in jedem Menschen: gebildet durch Neugier als Trieb in die Ferne mit der Möglichkeit, die Lebensumstände zu verbessern, und durch die Angst vor dem Unbekannten, um das Vertraute zu sichern. Angst erzeugt die Ungeheuer unserer Phantasie, Neugier ermutigt zur Begegnung mit der Wirklichkeit. Beide zusammen ließen Geschichten, Sagen, Märchen, Archetypen, Poesie und Musik entstehen, aber auch Wissen, Organisation, Magie. Heutige Wissen-schaft stellt Einzelwissen in ursächliche Zusammenhänge, Schamanen begnügten sich damit, Wissen in poetische und spirituelle Zusammenhänge zu stellen. Der von den Kelten am höchsten verehrte Gott war Merkur: Beschützer der Reisenden, Erfinder aller Künste, Meister der Dichter, Förderer des Handels. Als Hermes ist er Bote der Götter, Flügel beschleunigen seinen Schritt.
Der Zaun markiert eine Grenze, ist Einfriedung: der römische Limes, die Grenze zu den Barbaren, bezeichnete Straße und Grenze, sah darin keinen Unterschied. Eine Grenze zu überschreiten, war immer schon riskant und die Seßhaften verlagerten die Grenze, den Zaun zur Wildnis, auf ihre Türschwelle, heilig, wie vordem die Straße. Wer sie ungefragt übertritt, provozierte Gewalt. Romulus gründete Rom, indem er einen Kreis pflügte, und erschlug Remus, der diese Grenze übertrat. Die ersten Bewohner Roms waren Schäfer, Verbannte und Vagabunden – alles Fußreisende.
Straßen sollen die schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten sein – aber der frühe Fußreisende hat nur einen Punkt, sich selbst. Einen zweiten Punkt wird findet der Wanderer nur im Traum. Die Straßen der Welt sind nichts anderen als die in die Wirklichkeit geholten Versuche unserer Ahnen, ihre Träume zu leben. „Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht Pfad geworden bist.“ (Buddha) Gleichförmiges Reisen bringt innere Ruhe, im Einklang mit der Umwelt, im Rhythmus des eigenen Seins.
Wer sich tief in die Wildnis verirrt, ist diesem Zustand am nächsten - er muß sich verlieren, um seinen Weg gestalten zu können. Der kürzeste Weg in der Wildnis führt durch Schluchten und Wasserläufe, endet an Abbrüchen oder im Sumpf. Der kürzeste Weg ist meist ein kraftraubender, falscher. Den richtigen Weg zu kreieren, das ist die Kunst. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Natur und der eigenen Möglichkeiten. Ein solcher Weg sucht die Höhe, aber nicht den Gipfel, weicht Schwierigkeiten aus. Scheinbar sinnlose Kehren ermöglichen einen steten Gang. Der richtige Weg ist ein Weg der kleinsten Mühen. Die Wege der ersten Fußreisenden bestimmen noch heute die Welt des Menschen: Kreuzungen waren heilig - Wegkreuze wurden bis in die Gegenwart errichtet. Wo sich Wege kreuzten, entstanden Handelsniederlassungen, Dörfer, Städte. Wo niemand ausweichen konnte, entstanden Burgen, wurde Zoll erhoben. Ganze Länder kann beherrschen, wer die ein, zwei wichtigsten Straßen kontrolliert (Afghanistan). Die frühen Fußwege wurden Mensch und Umwelt in einem solchen Maße gerecht, daß sie oftmals kaum verändert bis heute existieren. Hier wurde der Belag ausgewechselt, dort verkürzten Brücken oder Dämme ein Stück, andernorts beseitigte man ein Hindernis. Flußläufe, Furten, Pässe, Quellen, Bodenbeschaffenheit und Höhenunterschiede bestimmten den groben Verlauf. Vier Bernsteinstraßen von zusammen etwa fünftausend Kilometern Länge durchzogen Europa in Nord-Süd-Richtung. Eine Königsstraße verband die Türkei mit Persien, Rasthäuser gab es in etwa 25 Kilometern Abstand, ideal für einen Tagesmarsch, im Gebirge nach 20 Kilometern. In drei Monaten wanderte man um 500 v. Chr. die 2500 Kilometer lange Strecke von Susa nach Ephesos zurück.

wiki/wissen.1573466553.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/12/07 15:24 (Externe Bearbeitung)

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