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 ==== Felleisen und Berliner  ==== ==== Felleisen und Berliner  ====
  
-Unsere Handwerksburschen sind alle Neulinge auf dem Reisesektor, bis auf Pfarre. Über die Ausrüstung wird nicht viel geredet, man beschränkt sich und nimmt, was man hat. Als Schroeder fluchtartig Trier verläßt, packt er Zahnbürste, Anzug, Selbstbinder ((Der Selbstbinder ist eine stets neu zu bindende Schleife, die nicht fest vernäht ist.)) und Kragen in seinen Koffer ((Schroeder, S. 6)) und vermißt schon bald Handtuch und Seife. ((Schroeder, S. 41)) Über den Koffer schimpft er oft, irgendwann zerfällt er ihm buchstäblich in der Hand und er improvisiert - bindet die Hosenbeine seiner zweiten Hose unten ab und stopft alles hinein, was er hat. Das ganze bezeichnet er als Berliner ((Der Berliner war leichter als das ältere Felleisen. Die ersten, die ihn trugen, waren die Klempner - sie hatten grüne Berliner. Maurer und Zimmerleute banden den Berliner in ein großes, buntbedrucktes Taschentuch, Schmiede hüllten das Bündel in ihr Schurzfell, sonstige Kunden in ein Wachstuch. (s. Wolf) Der Berliner wurde als Rolle gebunden und sah aus wie ein übergroßes Knallbonbon mit etwa dreißig Zentimter im Durchmesser, ungefähr siebzig Zentimeter lang. Das Wort ist seit etwa 1880 bekannt und dürfte aus dem jiddischen „be alil“ (mit der Werkstätte) entstanden sein: eine ironische Bezeichnung für die Gesellen, die in ihrem Bündel das Werkzeug mit sich trugen.)) und ist äußerst zufrieden damit, spürt gar nicht, daß er etwas auf dem Rücken trägt; andere tragen ein Felleisen ((Das Felleisen, ein Behältnis, in dem Fußreisende ihre Siebensachen transportierten, war bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich. Es bestand meist aus Leder, war innen mit grober Leinwand gefüttert und bis-weilen mit einem Schloß gesichert. Manche Felleisen der Handwerksburschen um 1840 hatten Räder, so daß sie mit einem [[wiki:stab|Stock]] geschoben oder gezogen werden konnten. [Meyers Conversations-Lexikon 1840-1855] Bei der Fahrpost dienten zylindrische Felleisen als Behälter für Briefe und Pakete. Der Begriff Felleisen hat nichts mit Fell oder Eisen zu tun, sondern entstammt dem französischen valise (Handkoffer, Reisetasche) und dem älteren valisa (lat., ital.). Er wird synonym für [[wiki:ranzen|Ranzen]], [[wiki:rucksack|Rucksack]], [[wiki:mantelsack|Mantelsack]], Reisetasche, Reisesack, Packsattel benutzt. Manchmal wird er über die Achseln geworfen (Simplicissimus), mal auf den Rücken geschnallt und als Tornister getragen (Dewald). Das Wort ist seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts schriftlich bekannt als fellis)). 15 Monate, nachdem er Trier verlassen hat, filzt ihn die Polizei und wir erfahren, was er in seinen Taschen trägt: Gesellenbrief, Zeugnis, zwei Briefe, Paß, Geleitschein, Rasiermesser, Zahnbürste, Seife ... Viel ist es nicht. Vor Lindau trifft er einen sächsischen Kunden, der Vorräte für den Winter unter seiner Jacke trägt:// „An seinem Bauchriemen hängen aus kleinen Konservendosen zurecht geschusterte Blecheimerchen. In einem ist Fett, im anderen Butter, im dritten Schmalz; Öl verwahrt er in Flaschen. An einem Fleischerhaken, den er in der obersten Westentasche eingehakt, pendeln zwei Würste.“// ((Schroeder, S. 132)) \\ +Unsere Handwerksburschen sind alle Neulinge auf dem Reisesektor, bis auf Pfarre. Über die Ausrüstung wird nicht viel geredet, man beschränkt sich und nimmt, was man hat. Als Schroeder fluchtartig Trier verläßt, packt er Zahnbürste, Anzug, Selbstbinder ((Der Selbstbinder ist eine stets neu zu bindende Schleife, die nicht fest vernäht ist.)) und Kragen in seinen Koffer ((Schroeder, S. 6)) und vermißt schon bald Handtuch und Seife. ((Schroeder, S. 41)) Über den Koffer schimpft er oft, irgendwann zerfällt er ihm buchstäblich in der Hand und er improvisiert - bindet die Hosenbeine seiner zweiten Hose unten ab und stopft alles hinein, was er hat. Das ganze bezeichnet er als Berliner ((Der Berliner war leichter als das ältere Felleisen. Die ersten, die ihn trugen, waren die Klempner - sie hatten grüne Berliner. Maurer und Zimmerleute banden den Berliner in ein großes, buntbedrucktes Taschentuch, Schmiede hüllten das Bündel in ihr Schurzfell, sonstige Kunden in ein Wachstuch. (s. Wolf) Der Berliner wurde als Rolle gebunden und sah aus wie ein übergroßes Knallbonbon mit etwa dreißig Zentimter im Durchmesser, ungefähr siebzig Zentimeter lang. Das Wort ist seit etwa 1880 bekannt und dürfte aus dem jiddischen „be alil“ (mit der Werkstätte) entstanden sein: eine ironische Bezeichnung für die Gesellen, die in ihrem Bündel das Werkzeug mit sich trugen.)) und ist äußerst zufrieden damit, spürt gar nicht, daß er etwas auf dem Rücken trägt; andere tragen ein Felleisen ((Das Felleisen, ein Behältnis, in dem Fußreisende ihre Siebensachen transportierten, war bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich. Es bestand meist aus Leder, war innen mit grober Leinwand gefüttert und bis-weilen mit einem Schloß gesichert. Manche Felleisen der Handwerksburschen um 1840 hatten Räder, so daß sie mit einem [[wiki:stab|Stock]] geschoben oder gezogen werden konnten. [Meyers Conversations-Lexikon 1840-1855] Bei der Fahrpost dienten zylindrische Felleisen als Behälter für Briefe und Pakete. Der [[wiki:begriff|Begriff]] Felleisen hat nichts mit Fell oder Eisen zu tun, sondern entstammt dem französischen valise (Handkoffer, Reisetasche) und dem älteren valisa (lat., ital.). Er wird synonym für [[wiki:ranzen|Ranzen]], [[wiki:rucksack|Rucksack]], [[wiki:mantelsack|Mantelsack]], Reisetasche, Reisesack, Packsattel benutzt. Manchmal wird er über die Achseln geworfen (Simplicissimus), mal auf den Rücken geschnallt und als Tornister getragen (Dewald). Das Wort ist seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts schriftlich bekannt als fellis)). 15 Monate, nachdem er Trier verlassen hat, filzt ihn die Polizei und wir erfahren, was er in seinen Taschen trägt: Gesellenbrief, Zeugnis, zwei Briefe, Paß, Geleitschein, Rasiermesser, Zahnbürste, Seife ... Viel ist es nicht. Vor Lindau trifft er einen sächsischen Kunden, der Vorräte für den Winter unter seiner Jacke trägt:// „An seinem Bauchriemen hängen aus kleinen Konservendosen zurecht geschusterte Blecheimerchen. In einem ist Fett, im anderen Butter, im dritten Schmalz; Öl verwahrt er in Flaschen. An einem Fleischerhaken, den er in der obersten Westentasche eingehakt, pendeln zwei Würste.“// ((Schroeder, S. 132)) \\ 
 Winnig gräbt auf dem Speicher den Ranzen seines Großvaters und dessen [[wiki:stab|Eichenstock]] aus: //„Die Zeit schrieb damals einen Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Traggurten vor, welches Behältnis in der Sprache der reisenden Burschen Berliner hieß, und auf solchen Berliner war mein Sinn gerichtet, nur war dergleichen in unserer kleinen Stadt nicht zu beschaffen.“// ((Winnig, S. 5)) Bei seiner ersten Arbeitsstelle fällt er auf wegen seiner derben Wanderschuhe mit den breiten Nägeln und seiner Arbeitsjacke aus krausem Wollstoff, die den Regen abwies. ((Heinrichs, S. 24)) \\  Winnig gräbt auf dem Speicher den Ranzen seines Großvaters und dessen [[wiki:stab|Eichenstock]] aus: //„Die Zeit schrieb damals einen Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Traggurten vor, welches Behältnis in der Sprache der reisenden Burschen Berliner hieß, und auf solchen Berliner war mein Sinn gerichtet, nur war dergleichen in unserer kleinen Stadt nicht zu beschaffen.“// ((Winnig, S. 5)) Bei seiner ersten Arbeitsstelle fällt er auf wegen seiner derben Wanderschuhe mit den breiten Nägeln und seiner Arbeitsjacke aus krausem Wollstoff, die den Regen abwies. ((Heinrichs, S. 24)) \\ 
 Wie auch heute, ist die Ausrüstung ein Erkennungszeichen und ein Maßstab für den Grad der [[wiki:vertrauen|Vertrautheit]]:// „Er mochte um einige Jahre älter sein als ich, doch das hielt mich nicht ab, denselben anzureden; trug er ja auch [[wiki:ranzen|Ränzel]] und [[wiki:stab|Knotenstock]]. Nicht lange währte es, und wir hatten Freundschaft geschlossen.“//  Wie auch heute, ist die Ausrüstung ein Erkennungszeichen und ein Maßstab für den Grad der [[wiki:vertrauen|Vertrautheit]]:// „Er mochte um einige Jahre älter sein als ich, doch das hielt mich nicht ab, denselben anzureden; trug er ja auch [[wiki:ranzen|Ränzel]] und [[wiki:stab|Knotenstock]]. Nicht lange währte es, und wir hatten Freundschaft geschlossen.“// 
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 ==== Die Penunse ==== ==== Die Penunse ====
 Natürlich spielt das Geld, die Penunse ((das Wort kommt vermutlich aus dem Sorbischen pjenjezy oder dem polnischen penadz, wurde später auch zu Peseten verballhornt)) eine große Rolle. Keiner von den Gesellen zieht ohne Geld los, doch bei allen ist früher oder später der Geldbeutel leer. Dann gab es sehr verschiedene Strategien, sich Geld zu verschaffen. Am einfachsten machte es sich Alfred Pfarre: er fand keine Arbeit, mochte nicht betteln, also ließ er sich Geld von den Eltern schicken (in 8 Monaten 300 Mark), das allerdings nicht reichte. //„Über zwei Wochen ohne Geld, zwei Wochen Kampf um Brot und Bett, zwei lange, lange Wochen. Am zweiten Tag begann die Sorge, am dritten schon die Not.“// ((Pfarre, S. 176)) Und bald darauf:// „Nun kamen zwei Wochen ohne Geld. Von trockenen Brotknüsten allein konnte ich nicht leben, ich brauchte Geld zum Schlafen, jeden Tag acht Soldi ((Eine Lira ist einen Franc oder 80 Pfennige wert. Die Lira hat 100 Centesimi, fünf Centesimi sind ein Soldo. s. „Land u. Leute in Italien“)). Und auch an den Tagen wo der Brotknust fehlte, Geld zum Schlafen hatte ich auch da erhalten, wenn nicht um acht Uhr, dann um Mitternacht.“// ((Pfarre, S. 179))  Natürlich spielt das Geld, die Penunse ((das Wort kommt vermutlich aus dem Sorbischen pjenjezy oder dem polnischen penadz, wurde später auch zu Peseten verballhornt)) eine große Rolle. Keiner von den Gesellen zieht ohne Geld los, doch bei allen ist früher oder später der Geldbeutel leer. Dann gab es sehr verschiedene Strategien, sich Geld zu verschaffen. Am einfachsten machte es sich Alfred Pfarre: er fand keine Arbeit, mochte nicht betteln, also ließ er sich Geld von den Eltern schicken (in 8 Monaten 300 Mark), das allerdings nicht reichte. //„Über zwei Wochen ohne Geld, zwei Wochen Kampf um Brot und Bett, zwei lange, lange Wochen. Am zweiten Tag begann die Sorge, am dritten schon die Not.“// ((Pfarre, S. 176)) Und bald darauf:// „Nun kamen zwei Wochen ohne Geld. Von trockenen Brotknüsten allein konnte ich nicht leben, ich brauchte Geld zum Schlafen, jeden Tag acht Soldi ((Eine Lira ist einen Franc oder 80 Pfennige wert. Die Lira hat 100 Centesimi, fünf Centesimi sind ein Soldo. s. „Land u. Leute in Italien“)). Und auch an den Tagen wo der Brotknust fehlte, Geld zum Schlafen hatte ich auch da erhalten, wenn nicht um acht Uhr, dann um Mitternacht.“// ((Pfarre, S. 179)) 
-Dann gab es kleine Hilfen von Kunden, beim Deutschen Hilfsverein (manchmal), bei Pfarrern, im Konsulat oder der Botschaft (selten). Kuckuck ((Mit `Kuckuck´, dem Adler im Wappen, ist der (deutsche) Konsul gemeint)) und Kunde ist ein ergiebiges und für den Kunden unerfreuliches Thema, meint Pfarre. Nur selten hilft ihm das Konsulat. //„...rasch entledigt sich der Konsul [des Wanderers], wenn er mit ihm zu tun bekommt; er paßt nicht in sein System.“// ((Hasemann, S. VII)) Überbrückungsgeld wird gar nicht oder nur unter großen bürokratischen Hürden ausgezahlt, zu Weihnachten war es leichter, an Geld zu kommen. Als Pfarre um Einweisung in eine Krankenhaus bittet, wird er als Simulant abgetan. Andere Tage, Sammeltage, bestehen darin, zu warten: //„Aber irgend etwas kam schon. Ein Seemann, der sich amüsieren wollte, den man dann nach Wunsch unterbrachte, einen landsmännischen Touristen, der echtes Münchner trinken wollte, ein anderer Fremder, der das Varieté suchte oder vielleicht auch eine Dirne, alle diese wurden von feinem Kundenspürsinn aufgestöbert, all denen half man Neapel kennen zu lernen und alle mußten blechen ((Blech ist eine Bezeichnung für Geld und rührt vom hochdeutschen „dünnen, blitzenden Metall“ her)).“// ((Pfarre, S. 183)) Pfarre sinniert, nachdem er lange das Büro des deutschen Hilfsvereins in Neapel gesucht hatte: //„Was erreicht der Hilfsverein durch sein Verstecken? Doch nur, daß die Gerissenen ihn brauchen, die, für die er zwecklos ist. Diejenigen, denen sein Segen zugedacht ist, können nichts von ihm wissen.“// ((Pfarre, S. 180)) Dort erhält er eine Schlafkarte für das städtische Asyl, Geld gibt es nicht. Ein anderes Mal gibt ihm die Questura, die Armenbehörde einen Gutschein für Abendessen, Übernachtung, Frühstück. Jeden Tag muß man wieder vorstellig werden, bis dem Beamten die Geduld reißt und er einen hinauswirft. Die Kunden fochten ((Handwerksburschen gingen fechten, d.h. sie erbaten Brot oder Geld. Später bedeutete der Begriff „betteln“.)) jeden beliebigen Menschen an und besonders ergiebige Stellen wurden weitererzählt und „Winden“ genannt. Heinrichs benötigte mehrere hundert Mark für seine zweijährige Reise: Gespartes, Überweisungen von den Eltern, drei oder vier Arbeitsstellen, Unterstützungen durch die deutsche Hilfskasse bei den Konsulaten (120 Mark, die er beim deutschen Konsul in Alexandria erhielt, mußte er drei Jahre später zurückzahlen).\\ +Dann gab es kleine Hilfen von Kunden, beim Deutschen Hilfsverein (manchmal), bei Pfarrern, im Konsulat oder der Botschaft (selten). Kuckuck ((Mit `Kuckuck´, dem Adler im Wappen, ist der (deutsche) Konsul gemeint)) und Kunde ist ein ergiebiges und für den Kunden unerfreuliches Thema, meint Pfarre. Nur selten hilft ihm das Konsulat. //„...rasch entledigt sich der Konsul [des Wanderers], wenn er mit ihm zu tun bekommt; er paßt nicht in sein System.“// ((Hasemann, S. VII)) Überbrückungsgeld wird gar nicht oder nur unter großen bürokratischen Hürden ausgezahlt, zu Weihnachten war es leichter, an Geld zu kommen. Als Pfarre um Einweisung in eine Krankenhaus bittet, wird er als Simulant abgetan. Andere Tage, Sammeltage, bestehen darin, zu warten: //„Aber irgend etwas kam schon. Ein Seemann, der sich amüsieren wollte, den man dann nach Wunsch unterbrachte, einen landsmännischen Touristen, der echtes Münchner trinken wollte, ein anderer Fremder, der das Varieté suchte oder vielleicht auch eine Dirne, alle diese wurden von feinem Kundenspürsinn aufgestöbert, all denen half man Neapel kennen zu lernen und alle mußten blechen ((Blech ist eine Bezeichnung für Geld und rührt vom hochdeutschen „dünnen, blitzenden Metall“ her)).“// ((Pfarre, S. 183)) Pfarre sinniert, nachdem er lange das Büro des deutschen Hilfsvereins in Neapel gesucht hatte: //„Was erreicht der Hilfsverein durch sein Verstecken? Doch nur, daß die Gerissenen ihn brauchen, die, für die er zwecklos ist. Diejenigen, denen sein Segen zugedacht ist, können nichts von ihm wissen.“// ((Pfarre, S. 180)) Dort erhält er eine Schlafkarte für das städtische Asyl, Geld gibt es nicht. Ein anderes Mal gibt ihm die Questura, die Armenbehörde einen Gutschein für Abendessen, Übernachtung, Frühstück. Jeden Tag muß man wieder vorstellig werden, bis dem Beamten die Geduld reißt und er einen hinauswirft. Die Kunden fochten ((Handwerksburschen gingen fechten, d.h. sie erbaten Brot oder Geld. Später bedeutete der [[wiki:begriff|Begriff]] „betteln“.)) jeden beliebigen Menschen an und besonders ergiebige Stellen wurden weitererzählt und „Winden“ genannt. Heinrichs benötigte mehrere hundert Mark für seine zweijährige Reise: Gespartes, Überweisungen von den Eltern, drei oder vier Arbeitsstellen, Unterstützungen durch die deutsche Hilfskasse bei den Konsulaten (120 Mark, die er beim deutschen Konsul in Alexandria erhielt, mußte er drei Jahre später zurückzahlen).\\ 
 Winnig arbeitet in den neunziger Jahren und erhält einmal einen Wochenlohn von 11 Mark, was ihm wenig erscheint, er staunt aber über einen Wochenlohn von 60 Mark, das sei das gleiche, was sein Vater im Monat verdiene. Umgerechnet bedeutet das einen Stundenverdienst von 22 bis 45 Pfennige bei einer 48-Stunden-Woche. ((Winnig, S. 22)) Ein Kunde erzählt ihm, wie er sich drei Monate in Genua über Wasser gehalten hat: //„Du darfst nicht warten, bis dir einer Arbeit gibt, du mußt einfach zufassen, wo du etwas siehst; wenn sie dich nicht wegjagen, bezahlen sie dich auch; das ist so Sitte.“// ((Winnig, S. 137)) Winnig verdient immer genug, um davon leben zu können, er kalkuliert eine Mark täglich für Unterkunft und Essen: Abendessen, Nachtlager und Morgenkaffee für siebzig Pfennig, Brot und Zukost, Obst und Wurst für täglich zwanzig Pfennige, ein viertel Liter Bier kostet sechs, ein Branntwein drei Pfennige. ((Winnig, S. 169)) Einmal gerät er in Bedrängnis: //„Wenn wir jetzt keine Arbeit fanden, war das Unglück da. Geld hatten wir nicht mehr, und zum Reisen waren wir zu elend. Dann mußten wir betteln. Und beim Betteln würde man uns ertappen und festnehmen, und ich würde dann für mein ganzes Leben wegen Bettelns bestraft sein.“// ((Winnig, S. 173)) Betteln war verboten und die Polizei war scharf hinter den Kunden her. Doch es war selten, daß jemand walzte, ohne zu betteln.\\  Winnig arbeitet in den neunziger Jahren und erhält einmal einen Wochenlohn von 11 Mark, was ihm wenig erscheint, er staunt aber über einen Wochenlohn von 60 Mark, das sei das gleiche, was sein Vater im Monat verdiene. Umgerechnet bedeutet das einen Stundenverdienst von 22 bis 45 Pfennige bei einer 48-Stunden-Woche. ((Winnig, S. 22)) Ein Kunde erzählt ihm, wie er sich drei Monate in Genua über Wasser gehalten hat: //„Du darfst nicht warten, bis dir einer Arbeit gibt, du mußt einfach zufassen, wo du etwas siehst; wenn sie dich nicht wegjagen, bezahlen sie dich auch; das ist so Sitte.“// ((Winnig, S. 137)) Winnig verdient immer genug, um davon leben zu können, er kalkuliert eine Mark täglich für Unterkunft und Essen: Abendessen, Nachtlager und Morgenkaffee für siebzig Pfennig, Brot und Zukost, Obst und Wurst für täglich zwanzig Pfennige, ein viertel Liter Bier kostet sechs, ein Branntwein drei Pfennige. ((Winnig, S. 169)) Einmal gerät er in Bedrängnis: //„Wenn wir jetzt keine Arbeit fanden, war das Unglück da. Geld hatten wir nicht mehr, und zum Reisen waren wir zu elend. Dann mußten wir betteln. Und beim Betteln würde man uns ertappen und festnehmen, und ich würde dann für mein ganzes Leben wegen Bettelns bestraft sein.“// ((Winnig, S. 173)) Betteln war verboten und die Polizei war scharf hinter den Kunden her. Doch es war selten, daß jemand walzte, ohne zu betteln.\\ 
  
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 Gern zogen die Handwerksburschen im 19. Jahrhundert nach Frankreich, Italien, Österreich. Es gab dort weniger Grenzen als in den Fürstentümern Deutschlands.// „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden. Das unaufhörliche Passieren von Schlagbäumen, und das Durchschnüffeln des Wanderbuches von Constablern und Stadtsoldaten aller Art ist mit viel Verdruß verbunden und lästig genug für einen ordentlichen Gesellen, der nichts will, als sich in der Welt umsehen und sein Metier tüchtig erlernen.“// ((Hoffmann, S. 81))\\  Gern zogen die Handwerksburschen im 19. Jahrhundert nach Frankreich, Italien, Österreich. Es gab dort weniger Grenzen als in den Fürstentümern Deutschlands.// „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden. Das unaufhörliche Passieren von Schlagbäumen, und das Durchschnüffeln des Wanderbuches von Constablern und Stadtsoldaten aller Art ist mit viel Verdruß verbunden und lästig genug für einen ordentlichen Gesellen, der nichts will, als sich in der Welt umsehen und sein Metier tüchtig erlernen.“// ((Hoffmann, S. 81))\\ 
 Ab 1839 reisten die Gesellen auch vermehrt in den nahen Osten. ((Der türkische Sultan Mahmud II. und sein Nachfolger öffneten ab 1839 die Grenzen vermehrt dem Westen.)) Dabei stand sicher nicht die handwerkliche Fortbildung in Palästina im Vordergrund, eher Abenteuerlust. Das Motiv der Pilgerschaft und der Glaube, auf der Wanderschaft durch Gott beschützt zu sein, verbanden sich mit der Idee der Walz. Später baute sogar das preußische Konsulat in Jerusalem eine eigene Gesellenherberge. Etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf. \\  Ab 1839 reisten die Gesellen auch vermehrt in den nahen Osten. ((Der türkische Sultan Mahmud II. und sein Nachfolger öffneten ab 1839 die Grenzen vermehrt dem Westen.)) Dabei stand sicher nicht die handwerkliche Fortbildung in Palästina im Vordergrund, eher Abenteuerlust. Das Motiv der Pilgerschaft und der Glaube, auf der Wanderschaft durch Gott beschützt zu sein, verbanden sich mit der Idee der Walz. Später baute sogar das preußische Konsulat in Jerusalem eine eigene Gesellenherberge. Etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf. \\ 
-Die Mehrzahl der Wanderer jedoch blieb in Deutschland, denn man brauchte einen Paß, um die Grenze (offiziell) zu passieren. //„Alte Kunden hielten sich an einen bestimmten Landstrich, in dem sie mit Art und Brauch der Bewohner vertraut waren, die Wege und die Herbergen, die guten und die schlechten Orte, die Gendarmen und die Gefängnisse kannten. Diesen Landstrich, der selten über die Grenzen einer Provinz hinausgriff, verließen sie nicht oder nur notgedrungen, etwa wenn ihnen eine hohe Bettelstrafe drohte. Weder junge Wanderburschen noch alte Kunden wichen dem Wetter aus, sie kürzten die täglichen Wege, aber sie zogen morgens ab. Der Krankheit gaben wohl junge Burschen nach, aber nicht die alten Reisläufer ((Reisläufer ist hier in übertragenem Sinne zu verstehen. Der Begriff meint ursprünglich junge Burschen (meist Schweizer), die sich ab dem 15. Jahrhundert zusammenschlossen, um in anderen Ländern Kriegsdienste zu leisten. Diese umherziehenden Gruppen wurden Reiseläufer oder Reisläufer genannt. [Grimms Wörterbuch])) der Landstraße, ich habe nie gehört, daß einer in der Herberge krank zurückgeblieben oder ins Krankenhaus geschafft worden sei; sie wanderten auch dann, wenn sie den [[wiki:grenze_zwischen_leben_und_tod|Tod]] in den Knochen fühlten, und suchten sich lieber draußen einen geschützten Winkel zum Sterben, als daß sie sich in Menschenhände gegeben hätten.“// ((Winnig, S. 164 f.)) Winnig schreibt diese Gedanken angesichts eines eisigen Winters nieder, in dem er draußen auf der Landstraße selber viel gefroren hat und zudem einen toten Kunden im Schutz einer Feldscheune fand.\\ +Die Mehrzahl der Wanderer jedoch blieb in Deutschland, denn man brauchte einen Paß, um die Grenze (offiziell) zu passieren. //„Alte Kunden hielten sich an einen bestimmten Landstrich, in dem sie mit Art und Brauch der Bewohner vertraut waren, die Wege und die Herbergen, die guten und die schlechten Orte, die Gendarmen und die Gefängnisse kannten. Diesen Landstrich, der selten über die Grenzen einer Provinz hinausgriff, verließen sie nicht oder nur notgedrungen, etwa wenn ihnen eine hohe Bettelstrafe drohte. Weder junge Wanderburschen noch alte Kunden wichen dem Wetter aus, sie kürzten die täglichen Wege, aber sie zogen morgens ab. Der Krankheit gaben wohl junge Burschen nach, aber nicht die alten Reisläufer ((Reisläufer ist hier in übertragenem Sinne zu verstehen. Der [[wiki:begriff|Begriff]] meint ursprünglich junge Burschen (meist Schweizer), die sich ab dem 15. Jahrhundert zusammenschlossen, um in anderen Ländern Kriegsdienste zu leisten. Diese umherziehenden Gruppen wurden Reiseläufer oder Reisläufer genannt. [Grimms Wörterbuch])) der Landstraße, ich habe nie gehört, daß einer in der Herberge krank zurückgeblieben oder ins Krankenhaus geschafft worden sei; sie wanderten auch dann, wenn sie den [[wiki:grenze_zwischen_leben_und_tod|Tod]] in den Knochen fühlten, und suchten sich lieber draußen einen geschützten Winkel zum Sterben, als daß sie sich in Menschenhände gegeben hätten.“// ((Winnig, S. 164 f.)) Winnig schreibt diese Gedanken angesichts eines eisigen Winters nieder, in dem er draußen auf der Landstraße selber viel gefroren hat und zudem einen toten Kunden im Schutz einer Feldscheune fand.\\ 
 Da das fahrende Volk auch weit hinter den Grenzen oft kontrolliert wurde, fiel man früher oder später auf, wenn man ohne Paß im Ausland war. Heinrichs schildert einen solchen Fall: //„Kaum eine Stunde waren wir von Deutschlands Grenzen entfernt. ... Plötzlich standen ... zwei dieser gefürchteten Beamten vor uns. Wieder hieß es kurz: `Papier vorzeigen.´ Wiederum konnte ich ungefährdet weiterziehen, aber mein treuer Kamerad? [Ihm] wurde der Schub prophezeit, das heißt, er würde vom nächsten Orte per Bahn zur Grenze befördert werden.“// ((Heinrichs, S. 55 f.))\\  Da das fahrende Volk auch weit hinter den Grenzen oft kontrolliert wurde, fiel man früher oder später auf, wenn man ohne Paß im Ausland war. Heinrichs schildert einen solchen Fall: //„Kaum eine Stunde waren wir von Deutschlands Grenzen entfernt. ... Plötzlich standen ... zwei dieser gefürchteten Beamten vor uns. Wieder hieß es kurz: `Papier vorzeigen.´ Wiederum konnte ich ungefährdet weiterziehen, aber mein treuer Kamerad? [Ihm] wurde der Schub prophezeit, das heißt, er würde vom nächsten Orte per Bahn zur Grenze befördert werden.“// ((Heinrichs, S. 55 f.))\\ 
 Schroeder trifft häufig Kunden, an bestimmten Orten tummeln sie sich, beispielsweise in Lindau. Ihre Reiseziele sind Hamburg, Pommern, Wien. Weit- und Fernreisende waren damals die Ausnahme, doch es gab sie. Er trifft zwei, die durch den Balkan in die Türkei wollen: //„Diese Tour hatten sie mir so verlockend geschildert, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich mit ihnen getigert. Doch solange ich Deutschland nicht kenne, nicht ganz angesehen habe, weiß ich nicht, was ich in anderen Ländern suchen soll.“// ((Schroeder, S. 152)) Dann trifft er einen alten Speckjäger, der seit 34 Jahren, also seit 1889, auf der Landstraße ist: //„Er kennt Indien, war fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion, machte als Tramp siebenmal von Newyork nach San Francisco, einmal die große Büffelstraße, und hat nachher von der Landstraße einfach nicht mehr weggekonnt, sie hat ihn festgehalten.“// ((Schroeder, S. 245))\\  Schroeder trifft häufig Kunden, an bestimmten Orten tummeln sie sich, beispielsweise in Lindau. Ihre Reiseziele sind Hamburg, Pommern, Wien. Weit- und Fernreisende waren damals die Ausnahme, doch es gab sie. Er trifft zwei, die durch den Balkan in die Türkei wollen: //„Diese Tour hatten sie mir so verlockend geschildert, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich mit ihnen getigert. Doch solange ich Deutschland nicht kenne, nicht ganz angesehen habe, weiß ich nicht, was ich in anderen Ländern suchen soll.“// ((Schroeder, S. 152)) Dann trifft er einen alten Speckjäger, der seit 34 Jahren, also seit 1889, auf der Landstraße ist: //„Er kennt Indien, war fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion, machte als Tramp siebenmal von Newyork nach San Francisco, einmal die große Büffelstraße, und hat nachher von der Landstraße einfach nicht mehr weggekonnt, sie hat ihn festgehalten.“// ((Schroeder, S. 245))\\ 
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 Da gibt es für die überwiegend männlichen Kunden nur wenig Möglichkeiten, dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sex Befriedigung zu verschaffen. Nur aus diesem Grund melden sich manche auf die unbeliebten Stellen als Hopfenzupfer. Pfarre erfährt:// „...wer nicht ganz weibstoll ist, hält das nicht aus. Für eine Reichsmark zwanzig von morgens fünf bis abends elf bei der flauen Brotsuppe tät´s keiner, wenn nicht das Nachtlager so schön wär. ... Mann und Weib, Kunde und Schickse, alles schläft bunt durcheinander in einer Scheune auf Heu und Stroh, so wie jeder will. Die paar Kinder, die dazwischen liegen, stören nicht. ... Aber auf Dauer wird´s zu ekelhaft.“// ((Pfarre, S. 15))\\  Da gibt es für die überwiegend männlichen Kunden nur wenig Möglichkeiten, dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sex Befriedigung zu verschaffen. Nur aus diesem Grund melden sich manche auf die unbeliebten Stellen als Hopfenzupfer. Pfarre erfährt:// „...wer nicht ganz weibstoll ist, hält das nicht aus. Für eine Reichsmark zwanzig von morgens fünf bis abends elf bei der flauen Brotsuppe tät´s keiner, wenn nicht das Nachtlager so schön wär. ... Mann und Weib, Kunde und Schickse, alles schläft bunt durcheinander in einer Scheune auf Heu und Stroh, so wie jeder will. Die paar Kinder, die dazwischen liegen, stören nicht. ... Aber auf Dauer wird´s zu ekelhaft.“// ((Pfarre, S. 15))\\ 
 Ein anderer Vagabund weiß einiges zum Thema Frau: //„Aber etwas anderes läuft [den Kunden] lange nach. Hängt lange an ihnen und reibt sie auf. Gräbt tiefe Falten in ihre Gesichter, drückt ihnen den Kopf nach vorn und beugt ihnen den Rücken. das ist das Weib. ... es war allen eine Not. ... Sie verleugneten es. Einige hielten es nicht aus. Sie vergewaltigten, was ihnen die Not in die Arme trieb, alte Frauen, Kinder. Doch das sind die allerwenigsten. ... Andere nahmen Arbeit an. Auf einem Gut oder so - um ein Weib zu bekommen. ... Dann kämpfen sie an gegen die Forderung ihrer Natur. ... Sie unterliegen. Und sie möchten sich die Hand abschlagen. Öfter. Wie als Knabe. ... Das sind die Einsamen. Andere sind den gleichen Weg gegangen mit mehr Glück. Sie finden immer wieder mal einen Freund. Einen Jüngeren. Sie wissen, daß keiner um diese Not herumkommt.“// ((Helmut Klose „Der Andere“ in: Trappmann, S. 289 ff.)) \\  Ein anderer Vagabund weiß einiges zum Thema Frau: //„Aber etwas anderes läuft [den Kunden] lange nach. Hängt lange an ihnen und reibt sie auf. Gräbt tiefe Falten in ihre Gesichter, drückt ihnen den Kopf nach vorn und beugt ihnen den Rücken. das ist das Weib. ... es war allen eine Not. ... Sie verleugneten es. Einige hielten es nicht aus. Sie vergewaltigten, was ihnen die Not in die Arme trieb, alte Frauen, Kinder. Doch das sind die allerwenigsten. ... Andere nahmen Arbeit an. Auf einem Gut oder so - um ein Weib zu bekommen. ... Dann kämpfen sie an gegen die Forderung ihrer Natur. ... Sie unterliegen. Und sie möchten sich die Hand abschlagen. Öfter. Wie als Knabe. ... Das sind die Einsamen. Andere sind den gleichen Weg gegangen mit mehr Glück. Sie finden immer wieder mal einen Freund. Einen Jüngeren. Sie wissen, daß keiner um diese Not herumkommt.“// ((Helmut Klose „Der Andere“ in: Trappmann, S. 289 ff.)) \\ 
-Der Begriff „schwul“ ist in der Kundensprache seit 1847 schriftlich nachgewiesen und Pfarre berichtet von Kunden, die auf der „schwulen Schiebung“ sind, sich als Strichjunge ihr Geld verdienen. Als einziger der Walzbrüder berichtet er von häufigen Begegnungen mit Homosexualität: mal platzt er in eine Toilette und weicht erschrocken zurück ((Pfarre, S. 200)), mal muß er sich selber den Nachstellungen reicher Italiener widersetzen ((Pfarre, S. 191)), dann wird er von einem anderen Kunden vor dem Übernachten in den römischen Katakomben gewarnt:// „Weißt Du, was die Kunden hier einhaken nennen? Sieh, Du mit Deinem Kindergesicht wirst schon schamrot, ich merk, Du kennst den Ausdruck auch schon. Also deshalb lieber nicht, Du würdest eingehakt werden. Das wäre Dein Ende.“// ((Pfarre, S. 159)) Man erklärt ihm, daß es in Italien keinen unbequemen §175 gibt, und //„...deshalb sind eben hier, ganz besonders in Rom, viele Menschen, die in Deutschland nicht mehr sein dürfen. Du, feine Menschen sind es, sogar sehr vornehme.“// ((Pfarre, S. 148))+Der [[wiki:begriff|Begriff]] „schwul“ ist in der Kundensprache seit 1847 schriftlich nachgewiesen und Pfarre berichtet von Kunden, die auf der „schwulen Schiebung“ sind, sich als Strichjunge ihr Geld verdienen. Als einziger der Walzbrüder berichtet er von häufigen Begegnungen mit Homosexualität: mal platzt er in eine Toilette und weicht erschrocken zurück ((Pfarre, S. 200)), mal muß er sich selber den Nachstellungen reicher Italiener widersetzen ((Pfarre, S. 191)), dann wird er von einem anderen Kunden vor dem Übernachten in den römischen Katakomben gewarnt:// „Weißt Du, was die Kunden hier einhaken nennen? Sieh, Du mit Deinem Kindergesicht wirst schon schamrot, ich merk, Du kennst den Ausdruck auch schon. Also deshalb lieber nicht, Du würdest eingehakt werden. Das wäre Dein Ende.“// ((Pfarre, S. 159)) Man erklärt ihm, daß es in Italien keinen unbequemen §175 gibt, und //„...deshalb sind eben hier, ganz besonders in Rom, viele Menschen, die in Deutschland nicht mehr sein dürfen. Du, feine Menschen sind es, sogar sehr vornehme.“// ((Pfarre, S. 148))
 ===== 5 Die Hierarchie der Landstraße ===== ===== 5 Die Hierarchie der Landstraße =====
 ==== Wandergeselle ==== ==== Wandergeselle ====
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 ==== Kunden und Vagabunden ==== ==== Kunden und Vagabunden ====
 Die Bezeichnung Kunden wird oft wahllos benutzt und meint alle Gruppen. Kunde heißt eigentlich Kundiger, im altniederrheinischen war der //cunde// ein Späher und Kundschafter. In jedem Fall weiß er mehr als andere, ist also ausgezeichnet gegenüber anderen. Das wird deutlich, wenn sich zwei Kunden auf der Straße begegneten. Der Frage //„Kunde?“// mußte geantwortet werden mit //„Ken Mathes?//“ ((Bis 1939 grüßten sich Kunden so auf der Landstraße, auch wenn vielen der Sinn dieser Grußformel nicht klarwar, denn oftmals wurde auch Ken Mathias oder Ken Mathilde geantwortet.)) Der Fragende möchte wissen, ob der andere überhaupt ein Kunde (=Kundiger) ist, ob er also evtl Auskunft geben kann. Die Antwort hat nichts mit dem Vornamen Mathes zu tun, sondern rührt von Medine (=Landstraße) und heißt daher soviel wie „Ich kenne die Landstraße“. ((Wolf, Stichwort Ken und Kunde))\\  Die Bezeichnung Kunden wird oft wahllos benutzt und meint alle Gruppen. Kunde heißt eigentlich Kundiger, im altniederrheinischen war der //cunde// ein Späher und Kundschafter. In jedem Fall weiß er mehr als andere, ist also ausgezeichnet gegenüber anderen. Das wird deutlich, wenn sich zwei Kunden auf der Straße begegneten. Der Frage //„Kunde?“// mußte geantwortet werden mit //„Ken Mathes?//“ ((Bis 1939 grüßten sich Kunden so auf der Landstraße, auch wenn vielen der Sinn dieser Grußformel nicht klarwar, denn oftmals wurde auch Ken Mathias oder Ken Mathilde geantwortet.)) Der Fragende möchte wissen, ob der andere überhaupt ein Kunde (=Kundiger) ist, ob er also evtl Auskunft geben kann. Die Antwort hat nichts mit dem Vornamen Mathes zu tun, sondern rührt von Medine (=Landstraße) und heißt daher soviel wie „Ich kenne die Landstraße“. ((Wolf, Stichwort Ken und Kunde))\\ 
-Obwohl Kunden und Vagabunden sehr lax mit Moral umgehen, konnte man ihnen nicht unbedingt kriminelle Absichten unterstellen. Wohl waren sie Outlaws, Outcasts, Gesetzlose, die um ihr Überleben kämpften. Das ging oft nur außerhalb der bürgerlichen Moral und Gesetze. Doch hatten sie ihre Sprache, eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Ehre und Kameradschaft waren ihnen vertraut und viele waren stolz darauf, Kunde zu sein. Der Weg zurück in die Gesellschaft blieb ihnen nicht versperrt, auch wenn sie sozial ausgestoßen und heimatlos waren. \\ Andererseits war der Weg ins kriminelle Milieu einfach, da sich die Gauner in der gleichen Infrastruktur bewegten. Pfarre erinnert sich: „...lernte ich den Betrieb in der Herberge zur Heimat kennen. Aber waren das „Kunden“, „Monarchen“, „Speckjäger“ oder anders benannte „Ritter der Landstraße“? Nein! Soviel kannte ich nun doch schon die verlumpten, aber harmlosen Wandergestalten. Was sich hier zusammenfand, das kam nicht aus dem Chausseegraben, das gedieh nur auf dem Asphalt der Großstadt. Das nahe Oktoberfest hatte Nepper, Bauernfänger und Taschendiebe herangelockt.“ ((Pfarre, S. 12 f.)) \\ +Obwohl Kunden und Vagabunden sehr lax mit Moral umgehen, konnte man ihnen nicht unbedingt kriminelle Absichten unterstellen. Wohl waren sie Outlaws, Outcasts, Gesetzlose, die um ihr Überleben kämpften. Das ging oft nur außerhalb der bürgerlichen Moral und Gesetze. Doch hatten sie ihre Sprache, eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln. [[wiki:ehre|Ehre]] und Kameradschaft waren ihnen vertraut und viele waren stolz darauf, Kunde zu sein. Der Weg zurück in die Gesellschaft blieb ihnen nicht versperrt, auch wenn sie sozial ausgestoßen und heimatlos waren. \\ Andererseits war der Weg ins kriminelle Milieu einfach, da sich die Gauner in der gleichen Infrastruktur bewegten. Pfarre erinnert sich: „...lernte ich den Betrieb in der Herberge zur Heimat kennen. Aber waren das „Kunden“, „Monarchen“, „Speckjäger“ oder anders benannte „Ritter der Landstraße“? Nein! Soviel kannte ich nun doch schon die verlumpten, aber harmlosen Wandergestalten. Was sich hier zusammenfand, das kam nicht aus dem Chausseegraben, das gedieh nur auf dem Asphalt der Großstadt. Das nahe Oktoberfest hatte Nepper, Bauernfänger und Taschendiebe herangelockt.“ ((Pfarre, S. 12 f.)) \\ 
 ==== Schieben und Balance ==== ==== Schieben und Balance ====
 Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, Betrug wurden Schiebung genannt. Eine dufte Schiebung war klug und durchdacht, eine linke Schiebung war faul.)). Unter Schiebung verstand man Taschenspielerei, Gaunereien, Betrug. So sammelten zwei Kunden in jedem Ort die Messer und Scheren, ohne einen Schleifstein zu besitzen. Mit etwas Schmirgel wurden sie blank poliert, mit Schellack die Griffe optisch verbessert:// „Es kam uns auch nicht darauf an, die Messer zu schärfen, dann hätten wir ja auf ehrliche Weise unser Brot verdient.“// ((Pfarre, S. 22)) Da gibt es dann den „Sibirier“: //„Andere nannten ihn auch den Anarchisten. Er muckte (( `Mucken´ bedeutet Betteln mit einem Trick.)) mit roten Fleppen ((`Fleppen´ sind die Papiere, Dokumente, Pässe, 'rot' ist das unehrliche)), d.h. er bettelte die Sozialisten- und Anarchistenvereinigungen an. Wenn er dort leer ausging, konnte man ihn zum Beichten gehen sehen. Im Beichtstuhl focht er bei dem Geistlichen.“// Der „Schweizer“ spielte den Grafen, investierte ihn gute Kleidung und besaß sonst nichts. Dann besuchte er die Amerikaner in den guten Hotels und erzählte ihnen eine Geschichte, die ihm Geld brachte. Zwei andere, Polen, gingen jeden Abend auf die Balance. ((`Balance´ ist der Ausdruck für eine gefährliche Bettelei, die schon mehr Erpressung ist.)) Ihnen allen gemeinsam war es, mit betrügerischen Absichten vorzugehen.\\  Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, Betrug wurden Schiebung genannt. Eine dufte Schiebung war klug und durchdacht, eine linke Schiebung war faul.)). Unter Schiebung verstand man Taschenspielerei, Gaunereien, Betrug. So sammelten zwei Kunden in jedem Ort die Messer und Scheren, ohne einen Schleifstein zu besitzen. Mit etwas Schmirgel wurden sie blank poliert, mit Schellack die Griffe optisch verbessert:// „Es kam uns auch nicht darauf an, die Messer zu schärfen, dann hätten wir ja auf ehrliche Weise unser Brot verdient.“// ((Pfarre, S. 22)) Da gibt es dann den „Sibirier“: //„Andere nannten ihn auch den Anarchisten. Er muckte (( `Mucken´ bedeutet Betteln mit einem Trick.)) mit roten Fleppen ((`Fleppen´ sind die Papiere, Dokumente, Pässe, 'rot' ist das unehrliche)), d.h. er bettelte die Sozialisten- und Anarchistenvereinigungen an. Wenn er dort leer ausging, konnte man ihn zum Beichten gehen sehen. Im Beichtstuhl focht er bei dem Geistlichen.“// Der „Schweizer“ spielte den Grafen, investierte ihn gute Kleidung und besaß sonst nichts. Dann besuchte er die Amerikaner in den guten Hotels und erzählte ihnen eine Geschichte, die ihm Geld brachte. Zwei andere, Polen, gingen jeden Abend auf die Balance. ((`Balance´ ist der Ausdruck für eine gefährliche Bettelei, die schon mehr Erpressung ist.)) Ihnen allen gemeinsam war es, mit betrügerischen Absichten vorzugehen.\\ 
wiki/walz.txt · Zuletzt geändert: 2024/04/07 06:59 von norbert

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