Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


wiki:walz

Unterschiede

Hier werden die Unterschiede zwischen zwei Versionen der Seite angezeigt.

Link zu der Vergleichsansicht

Beide Seiten, vorherige ÜberarbeitungVorherige Überarbeitung
Nächste Überarbeitung
Vorherige Überarbeitung
Nächste ÜberarbeitungBeide Seiten, nächste Überarbeitung
wiki:walz [2020/08/03 05:15] norbertwiki:walz [2020/09/25 13:28] norbert
Zeile 34: Zeile 34:
 Was bewog junge Burschen nach der Lehre dazu, Monate und Jahre auf die Walz zu gehen, die Sicherheit von Heimat, Beruf, Elternhaus aufzugeben zugunsten Hunger und Not, einer ungewissen Zukunft, ausgeliefert dem Wetter und der Willkür fremder Menschen? Die Antwort ist vielschichtig:\\  Was bewog junge Burschen nach der Lehre dazu, Monate und Jahre auf die Walz zu gehen, die Sicherheit von Heimat, Beruf, Elternhaus aufzugeben zugunsten Hunger und Not, einer ungewissen Zukunft, ausgeliefert dem Wetter und der Willkür fremder Menschen? Die Antwort ist vielschichtig:\\ 
 //„Schon in der frühesten Jugendzeit war mein [Heinrichs] sehnlichster Wunsch, zu reisen. Nicht per Bahn oder per Schiff, nein, auf Schusters Rappen wollte ich die Welt durchwandern. Durch meiner Hände Arbeit wollte ich mir mein Brot verdienen. Abwechselnd arbeiten und weiterziehen war mein Vorhaben. Darum erlernte ich auch das Handwerk, das mir, obgleich meinen Wünschen nicht ganz entsprechend, zum Wandern am vortrefflichsten schien: ich wurde Friseur, oder, wie es unter Walzbrüdern heißt, `Doktor der Schaumschlägerkunst´.“// \\  //„Schon in der frühesten Jugendzeit war mein [Heinrichs] sehnlichster Wunsch, zu reisen. Nicht per Bahn oder per Schiff, nein, auf Schusters Rappen wollte ich die Welt durchwandern. Durch meiner Hände Arbeit wollte ich mir mein Brot verdienen. Abwechselnd arbeiten und weiterziehen war mein Vorhaben. Darum erlernte ich auch das Handwerk, das mir, obgleich meinen Wünschen nicht ganz entsprechend, zum Wandern am vortrefflichsten schien: ich wurde Friseur, oder, wie es unter Walzbrüdern heißt, `Doktor der Schaumschlägerkunst´.“// \\ 
-Seine Vorstellung einer Walz entspringt alten Zeiten: //„Den derben Knotenstock in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken, wurde die Welt durchkreuzt. Frohgemut ging es von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort; bald allein, bald in Gesellschaft von mehreren lustigen Brüdern.“// ((Heinrichs, S. 8)) \\ +Seine Vorstellung einer Walz entspringt alten Zeiten: //„Den derben [[wiki:stab|Knotenstock]] in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken, wurde die Welt durchkreuzt. Frohgemut ging es von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort; bald allein, bald in Gesellschaft von mehreren lustigen Brüdern.“// ((Heinrichs, S. 8)) \\ 
 Dieses Ideal ist nicht durch praktische Erfahrungen getrübt und Heinrichs kennt nur drei Dinge, die es stören: Dieses Ideal ist nicht durch praktische Erfahrungen getrübt und Heinrichs kennt nur drei Dinge, die es stören:
   * die moderne Technik: //„Schnellfahrende Eisenbahnen haben das poesievolle Wanderleben verdrängt. Im Zeitalter des Treibriemens und Rädergerassels geht das Sehnen und Trachten so manchen jungen Mannes nicht mehr hinüber nach den Städten unbekannter Länder, wo ihm Gelegenheit geboten würde, sein Fach zu vervollkommnen.“// ((Heinrichs, S. 7))   * die moderne Technik: //„Schnellfahrende Eisenbahnen haben das poesievolle Wanderleben verdrängt. Im Zeitalter des Treibriemens und Rädergerassels geht das Sehnen und Trachten so manchen jungen Mannes nicht mehr hinüber nach den Städten unbekannter Länder, wo ihm Gelegenheit geboten würde, sein Fach zu vervollkommnen.“// ((Heinrichs, S. 7))
Zeile 59: Zeile 59:
 ==== Felleisen und Berliner  ==== ==== Felleisen und Berliner  ====
  
-Unsere Handwerksburschen sind alle Neulinge auf dem Reisesektor, bis auf Pfarre. Über die Ausrüstung wird nicht viel geredet, man beschränkt sich und nimmt, was man hat. Als Schroeder fluchtartig Trier verläßt, packt er Zahnbürste, Anzug, Selbstbinder ((Der Selbstbinder ist eine stets neu zu bindende Schleife, die nicht fest vernäht ist.)) und Kragen in seinen Koffer ((Schroeder, S. 6)) und vermißt schon bald Handtuch und Seife. ((Schroeder, S. 41)) Über den Koffer schimpft er oft, irgendwann zerfällt er ihm buchstäblich in der Hand und er improvisiert - bindet die Hosenbeine seiner zweiten Hose unten ab und stopft alles hinein, was er hat. Das ganze bezeichnet er als Berliner ((Der Berliner war leichter als das ältere Felleisen. Die ersten, die ihn trugen, waren die Klempner - sie hatten grüne Berliner. Maurer und Zimmerleute banden den Berliner in ein großes, buntbedrucktes Taschentuch, Schmiede hüllten das Bündel in ihr Schurzfell, sonstige Kunden in ein Wachstuch. (s. Wolf) Der Berliner wurde als Rolle gebunden und sah aus wie ein übergroßes Knallbonbon mit etwa dreißig Zentimter im Durchmesser, ungefähr siebzig Zentimeter lang. Das Wort ist seit etwa 1880 bekannt und dürfte aus dem jiddischen „be alil“ (mit der Werkstätte) entstanden sein: eine ironische Bezeichnung für die Gesellen, die in ihrem Bündel das Werkzeug mit sich trugen.)) und ist äußerst zufrieden damit, spürt gar nicht, daß er etwas auf dem Rücken trägt; andere tragen ein Felleisen ((Das Felleisen, ein Behältnis, in dem Fußreisende ihre Siebensachen transportierten, war bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich. Es bestand meist aus Leder, war innen mit grober Leinwand gefüttert und bis-weilen mit einem Schloß gesichert. Manche Felleisen der Handwerksburschen um 1840 hatten Räder, so daß sie mit einem Stock geschoben oder gezogen werden konnten. [Meyers Conversations-Lexikon 1840-1855] Bei der Fahrpost dienten zylindrische Felleisen als Behälter für Briefe und Pakete. Der Begriff Felleisen hat nichts mit Fell oder Eisen zu tun, sondern entstammt dem französischen valise (Handkoffer, Reisetasche) und dem älteren valisa (lat., ital.). Er wird synonym für [[wiki:ranzen|Ranzen]], [[wiki:rucksack|Rucksack]], [[wiki:mantelsack|Mantelsack]], Reisetasche, Reisesack, Packsattel benutzt. Manchmal wird er über die Achseln geworfen (Simplicissimus), mal auf den Rücken geschnallt und als Tornister getragen (Dewald). Das Wort ist seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts schriftlich bekannt als fellis)). 15 Monate, nachdem er Trier verlassen hat, filzt ihn die Polizei und wir erfahren, was er in seinen Taschen trägt: Gesellenbrief, Zeugnis, zwei Briefe, Paß, Geleitschein, Rasiermesser, Zahnbürste, Seife ... Viel ist es nicht. Vor Lindau trifft er einen sächsischen Kunden, der Vorräte für den Winter unter seiner Jacke trägt:// „An seinem Bauchriemen hängen aus kleinen Konservendosen zurecht geschusterte Blecheimerchen. In einem ist Fett, im anderen Butter, im dritten Schmalz; Öl verwahrt er in Flaschen. An einem Fleischerhaken, den er in der obersten Westentasche eingehakt, pendeln zwei Würste.“// ((Schroeder, S. 132)) \\  +Unsere Handwerksburschen sind alle Neulinge auf dem Reisesektor, bis auf Pfarre. Über die Ausrüstung wird nicht viel geredet, man beschränkt sich und nimmt, was man hat. Als Schroeder fluchtartig Trier verläßt, packt er Zahnbürste, Anzug, Selbstbinder ((Der Selbstbinder ist eine stets neu zu bindende Schleife, die nicht fest vernäht ist.)) und Kragen in seinen Koffer ((Schroeder, S. 6)) und vermißt schon bald Handtuch und Seife. ((Schroeder, S. 41)) Über den Koffer schimpft er oft, irgendwann zerfällt er ihm buchstäblich in der Hand und er improvisiert - bindet die Hosenbeine seiner zweiten Hose unten ab und stopft alles hinein, was er hat. Das ganze bezeichnet er als Berliner ((Der Berliner war leichter als das ältere Felleisen. Die ersten, die ihn trugen, waren die Klempner - sie hatten grüne Berliner. Maurer und Zimmerleute banden den Berliner in ein großes, buntbedrucktes Taschentuch, Schmiede hüllten das Bündel in ihr Schurzfell, sonstige Kunden in ein Wachstuch. (s. Wolf) Der Berliner wurde als Rolle gebunden und sah aus wie ein übergroßes Knallbonbon mit etwa dreißig Zentimter im Durchmesser, ungefähr siebzig Zentimeter lang. Das Wort ist seit etwa 1880 bekannt und dürfte aus dem jiddischen „be alil“ (mit der Werkstätte) entstanden sein: eine ironische Bezeichnung für die Gesellen, die in ihrem Bündel das Werkzeug mit sich trugen.)) und ist äußerst zufrieden damit, spürt gar nicht, daß er etwas auf dem Rücken trägt; andere tragen ein Felleisen ((Das Felleisen, ein Behältnis, in dem Fußreisende ihre Siebensachen transportierten, war bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich. Es bestand meist aus Leder, war innen mit grober Leinwand gefüttert und bis-weilen mit einem Schloß gesichert. Manche Felleisen der Handwerksburschen um 1840 hatten Räder, so daß sie mit einem [[wiki:stab|Stock]] geschoben oder gezogen werden konnten. [Meyers Conversations-Lexikon 1840-1855] Bei der Fahrpost dienten zylindrische Felleisen als Behälter für Briefe und Pakete. Der Begriff Felleisen hat nichts mit Fell oder Eisen zu tun, sondern entstammt dem französischen valise (Handkoffer, Reisetasche) und dem älteren valisa (lat., ital.). Er wird synonym für [[wiki:ranzen|Ranzen]], [[wiki:rucksack|Rucksack]], [[wiki:mantelsack|Mantelsack]], Reisetasche, Reisesack, Packsattel benutzt. Manchmal wird er über die Achseln geworfen (Simplicissimus), mal auf den Rücken geschnallt und als Tornister getragen (Dewald). Das Wort ist seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts schriftlich bekannt als fellis)). 15 Monate, nachdem er Trier verlassen hat, filzt ihn die Polizei und wir erfahren, was er in seinen Taschen trägt: Gesellenbrief, Zeugnis, zwei Briefe, Paß, Geleitschein, Rasiermesser, Zahnbürste, Seife ... Viel ist es nicht. Vor Lindau trifft er einen sächsischen Kunden, der Vorräte für den Winter unter seiner Jacke trägt:// „An seinem Bauchriemen hängen aus kleinen Konservendosen zurecht geschusterte Blecheimerchen. In einem ist Fett, im anderen Butter, im dritten Schmalz; Öl verwahrt er in Flaschen. An einem Fleischerhaken, den er in der obersten Westentasche eingehakt, pendeln zwei Würste.“// ((Schroeder, S. 132)) \\  
-Winnig gräbt auf dem Speicher den Ranzen seines Großvaters und dessen Eichenstock aus: //„Die Zeit schrieb damals einen Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Traggurten vor, welches Behältnis in der Sprache der reisenden Burschen Berliner hieß, und auf solchen Berliner war mein Sinn gerichtet, nur war dergleichen in unserer kleinen Stadt nicht zu beschaffen.“// ((Winnig, S. 5)) Bei seiner ersten Arbeitsstelle fällt er auf wegen seiner derben Wanderschuhe mit den breiten Nägeln und seiner Arbeitsjacke aus krausem Wollstoff, die den Regen abwies. ((Heinrichs, S. 24)) \\  +Winnig gräbt auf dem Speicher den Ranzen seines Großvaters und dessen [[wiki:stab|Eichenstock]] aus: //„Die Zeit schrieb damals einen Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Traggurten vor, welches Behältnis in der Sprache der reisenden Burschen Berliner hieß, und auf solchen Berliner war mein Sinn gerichtet, nur war dergleichen in unserer kleinen Stadt nicht zu beschaffen.“// ((Winnig, S. 5)) Bei seiner ersten Arbeitsstelle fällt er auf wegen seiner derben Wanderschuhe mit den breiten Nägeln und seiner Arbeitsjacke aus krausem Wollstoff, die den Regen abwies. ((Heinrichs, S. 24)) \\  
-Wie auch heute, ist die Ausrüstung ein Erkennungszeichen und ein Maßstab für den Grad der [[wiki:vertrauen|Vertrautheit]]:// „Er mochte um einige Jahre älter sein als ich, doch das hielt mich nicht ab, denselben anzureden; trug er ja auch Ränzel und Knotenstock. Nicht lange währte es, und wir hatten Freundschaft geschlossen.“//  +Wie auch heute, ist die Ausrüstung ein Erkennungszeichen und ein Maßstab für den Grad der [[wiki:vertrauen|Vertrautheit]]:// „Er mochte um einige Jahre älter sein als ich, doch das hielt mich nicht ab, denselben anzureden; trug er ja auch [[wiki:ranzen|Ränzel]] und [[wiki:stab|Knotenstock]]. Nicht lange währte es, und wir hatten Freundschaft geschlossen.“//  
-Alfred Pfarre zieht los mit einer nagelneuen Ausrüstung: Lodenjoppe und Rucksack, Stock und Gamaschen ((Pfarre, S. 9)), mit Hirschtalg werden die Stiefel wasserfest gemacht ((Pfarre, S. 50)), eine Pelerine ((ein ärmelloser Regenmantel)) dient als Regenschutz. ((Pfarre, S. 52))\\ +Alfred Pfarre zieht los mit einer nagelneuen Ausrüstung: Lodenjoppe und [[wiki:rucksack|Rucksack]][[wiki:stab|Stock]] und Gamaschen ((Pfarre, S. 9)), mit Hirschtalg werden die Stiefel wasserfest gemacht ((Pfarre, S. 50)), eine Pelerine ((ein ärmelloser Regenmantel)) dient als Regenschutz. ((Pfarre, S. 52))\\ 
 Winnig trägt sein Handwerkszeug mit sich: Kelle, Hammer, Lotwaage. Dies dient als Kennzeichen der Wanderschaft, und auch Schroeder zeigt ab und an seinen Zollstock. Heinrichs hat Scheren und Kämme dabei, verkauft sie aber bald zur Finanzierung seiner Reise.\\  Winnig trägt sein Handwerkszeug mit sich: Kelle, Hammer, Lotwaage. Dies dient als Kennzeichen der Wanderschaft, und auch Schroeder zeigt ab und an seinen Zollstock. Heinrichs hat Scheren und Kämme dabei, verkauft sie aber bald zur Finanzierung seiner Reise.\\ 
 Winnig wandert im Winter nur mit Jacke und Hemd. Unterwäsche gibt es nicht, selbst ein Halstuch hat er nicht. //„Heikel war die Versorgung mit sauberer Wäsche. Im Sommer wusch man das zweite Hemd in einem Bach, hängte es auf einen Busch zum Trocknen und legte sich daneben. Das war im Winter nicht möglich, und die Herbergen hatten noch keine Einrichtungen, in denen man die Wäsche vom Abend bis zum Morgen hätte waschen und trocknen können; dazu blieb dann nur der Sonntag ... Wenn der Herbergswirt aber niemand hatte, der den Sonntag am Waschfaß mit Wanderburschenwäsche verbringen wollte, so mußte man sein Hemd solange tragen, bis es einmal besser paßte. In diesem Punkte waren die konfessionellen Herbergen, von den Wanderburschen Heiligkeit genannt, am besten eingerichtet; nach ihrem Vorbilde haben von 1900 an die Gewerkschaften ein eigenes Herbergswesen aufgebaut.“// ((Winnig, S. 169)) \\  Winnig wandert im Winter nur mit Jacke und Hemd. Unterwäsche gibt es nicht, selbst ein Halstuch hat er nicht. //„Heikel war die Versorgung mit sauberer Wäsche. Im Sommer wusch man das zweite Hemd in einem Bach, hängte es auf einen Busch zum Trocknen und legte sich daneben. Das war im Winter nicht möglich, und die Herbergen hatten noch keine Einrichtungen, in denen man die Wäsche vom Abend bis zum Morgen hätte waschen und trocknen können; dazu blieb dann nur der Sonntag ... Wenn der Herbergswirt aber niemand hatte, der den Sonntag am Waschfaß mit Wanderburschenwäsche verbringen wollte, so mußte man sein Hemd solange tragen, bis es einmal besser paßte. In diesem Punkte waren die konfessionellen Herbergen, von den Wanderburschen Heiligkeit genannt, am besten eingerichtet; nach ihrem Vorbilde haben von 1900 an die Gewerkschaften ein eigenes Herbergswesen aufgebaut.“// ((Winnig, S. 169)) \\ 
Zeile 81: Zeile 81:
 Die größten Ausgaben entstanden für die Unterkunft, die Penne ((Die Penne kann sowohl eine Schlafstelle als auch eine Herberge, ein Gasthaus, ein Nachtquartier bezeichnen. Ein anderer Name dafür ist `Nest´.)). Schroeder findet sein Unterkommen einmal in Solingen bei der Heilsarmee, eine Goldmark kostet die Übernachtung, das ist teuer. Dreizehn Betten stehen im Raum, sind sauber bezogen, und ein Spind gehört dazu. ((Schroeder, S. 40 f.)) Später, auf der Walz und ohne Geld, erfährt er erst nach einigen Nächten im Freien (»Platte reißen«), daß jedes Dorf ihm eine Unterkunft geben muß. Beim Magistrat gibt's einen Gutschein, den er im Gasthaus einlösen kann. In anderen Dörfern wurde man einem Einwohner zugeteilt, der eine Nacht für einen zu sorgen hatte oder Unterstützungsvereine betrieben Heime.\\  Die größten Ausgaben entstanden für die Unterkunft, die Penne ((Die Penne kann sowohl eine Schlafstelle als auch eine Herberge, ein Gasthaus, ein Nachtquartier bezeichnen. Ein anderer Name dafür ist `Nest´.)). Schroeder findet sein Unterkommen einmal in Solingen bei der Heilsarmee, eine Goldmark kostet die Übernachtung, das ist teuer. Dreizehn Betten stehen im Raum, sind sauber bezogen, und ein Spind gehört dazu. ((Schroeder, S. 40 f.)) Später, auf der Walz und ohne Geld, erfährt er erst nach einigen Nächten im Freien (»Platte reißen«), daß jedes Dorf ihm eine Unterkunft geben muß. Beim Magistrat gibt's einen Gutschein, den er im Gasthaus einlösen kann. In anderen Dörfern wurde man einem Einwohner zugeteilt, der eine Nacht für einen zu sorgen hatte oder Unterstützungsvereine betrieben Heime.\\ 
 Andere Übernachtungsstellen findet er bei Mutter Grün ((Im Freien übernachten hieß „bei Mutter Grün“ oder „bei der grünen Bettfrau“, Schroeder, S. 213 u. Wolf)): mal im Wald, auch bei Schnee, im freien Feld, in einer Scheune, im Spritzenschuppen der Feuerwehr, in einer Kaserne, in einer Polizeizelle ... Da die Handwerksburschen immer nur 24 Stunden an einem Ort bleiben dürfen, muß das Problem Unterkunft täglich neu gelöst werden - ein Ausruhen gibt es nur am Sonntag, und auch dann nicht immer. Wer kein Geld mehr hatte, konnte bei der Polizei in einer Arrestzelle übernachten, doch sogar dafür kassierten die noch einige Groschen. Dann, in der kalten Jahreszeit, war es geraten, krank zu werden, um recht lange in einem warmen Krankenhaus gut verpflegt zu werden. Schroeder gibt fünf Zigaretten, um mit dem Handrücken über den von der Krätze befallenen Handrücken eines Speckjägers ((Als Speckjäger werden alte Kunden bezeichnet, die ihr ganzes Leben auf der Landstraße verbracht haben)) zu streichen, in der Hoffnung, sich ebenfalls zu infizieren. Die Methode gelingt: einige Dörfer weiter gibt es dann zum ersten Mal Geld für eine Fahrkarte zum nächsten Krankenhaus. Bevor man wirklich ins Krankenhaus geht, lassen sich noch einige Gemeinden schröpfen.\\  Andere Übernachtungsstellen findet er bei Mutter Grün ((Im Freien übernachten hieß „bei Mutter Grün“ oder „bei der grünen Bettfrau“, Schroeder, S. 213 u. Wolf)): mal im Wald, auch bei Schnee, im freien Feld, in einer Scheune, im Spritzenschuppen der Feuerwehr, in einer Kaserne, in einer Polizeizelle ... Da die Handwerksburschen immer nur 24 Stunden an einem Ort bleiben dürfen, muß das Problem Unterkunft täglich neu gelöst werden - ein Ausruhen gibt es nur am Sonntag, und auch dann nicht immer. Wer kein Geld mehr hatte, konnte bei der Polizei in einer Arrestzelle übernachten, doch sogar dafür kassierten die noch einige Groschen. Dann, in der kalten Jahreszeit, war es geraten, krank zu werden, um recht lange in einem warmen Krankenhaus gut verpflegt zu werden. Schroeder gibt fünf Zigaretten, um mit dem Handrücken über den von der Krätze befallenen Handrücken eines Speckjägers ((Als Speckjäger werden alte Kunden bezeichnet, die ihr ganzes Leben auf der Landstraße verbracht haben)) zu streichen, in der Hoffnung, sich ebenfalls zu infizieren. Die Methode gelingt: einige Dörfer weiter gibt es dann zum ersten Mal Geld für eine Fahrkarte zum nächsten Krankenhaus. Bevor man wirklich ins Krankenhaus geht, lassen sich noch einige Gemeinden schröpfen.\\ 
-Winnig erzählt von einer Zunftherberge, die von den Innungen der Stadt subventioniert wurde, und lobt sie in höchsten Tönen: sie war sauber, das Essen gut, der Wirt höflich, jede Zunft hatte einen eigenen Tisch, über dem das Erkennungszeichen der Zunft hing und der Preis war außerordentlich niedrig. So etwas war selten genug. Außen zeigten vier Schilder, daß dies die Gewerkherberge der Maurer, Zimmerer, Schneider und Sattler sei, wer eintreten wollte, mußte dies entsprechend den Regeln tun: //„Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.“// Nach dem Eintreten und als er den Wirt an seiner blauen Schürze erkennt, grüßt er: //„Mit Gunst und Erlaubnis!“// ((Winnig, S. 20)) Das Herbergsleben ist reglementiert: //„Der Wirt ging in seinen Verschlag, öffnete das Schiebefenster und nahm mir Stock und Ranzen ab, besah meine Papiere, legte sie in eine Lade und machte mich mit der Hausordnung bekannt. Um neun werde die Haustüre geschlossen, um zehn das Licht gelöscht, um sieben aufgestanden. Er sah mich noch einmal und genauer als zuvor an und meinte, ich sei wohl sauber ...“// ((Winnig, S. 21)) Papiere und Ranzen werden dem Herbergsvater übergeben. Neben den Zimmern werden auch Tische und Bänke in der Gaststube zum Schlafen genutzt, im Notfall wird zusätzlich Stroh aufgeschüttet. Abends gibt es saures Schweinefleisch oder Gulasch, Bier und Branntwein, das Essen kostete nur 32 Pfennige. Morgens stand warmes Wasser bereit; sich ausgiebig zu waschen, war kein Problem.\\ +Winnig erzählt von einer Zunftherberge, die von den Innungen der Stadt subventioniert wurde, und lobt sie in höchsten Tönen: sie war sauber, das Essen gut, der Wirt höflich, jede Zunft hatte einen eigenen Tisch, über dem das Erkennungszeichen der Zunft hing und der Preis war außerordentlich niedrig. So etwas war selten genug. Außen zeigten vier Schilder, daß dies die Gewerkherberge der Maurer, Zimmerer, Schneider und Sattler sei, wer eintreten wollte, mußte dies entsprechend den Regeln tun: //„Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.“// Nach dem Eintreten und als er den Wirt an seiner blauen Schürze erkennt, grüßt er: //„Mit Gunst und Erlaubnis!“// ((Winnig, S. 20)) Das Herbergsleben ist reglementiert: //„Der Wirt ging in seinen Verschlag, öffnete das Schiebefenster und nahm mir [[wiki:stab|Stock]] und [[wiki:ranzen|Ranzen]] ab, besah meine [[wiki:dokumente|Papiere]], legte sie in eine Lade und machte mich mit der Hausordnung bekannt. Um neun werde die Haustüre geschlossen, um zehn das Licht gelöscht, um sieben aufgestanden. Er sah mich noch einmal und genauer als zuvor an und meinte, ich sei wohl sauber ...“// ((Winnig, S. 21)) Papiere und Ranzen werden dem Herbergsvater übergeben. Neben den Zimmern werden auch Tische und Bänke in der Gaststube zum Schlafen genutzt, im Notfall wird zusätzlich Stroh aufgeschüttet. Abends gibt es saures Schweinefleisch oder Gulasch, Bier und Branntwein, das Essen kostete nur 32 Pfennige. Morgens stand warmes Wasser bereit; sich ausgiebig zu waschen, war kein Problem.\\ 
 Deutlich wird aber, daß solche Herbergen die Ausnahme waren. Roltsch erzählt:// „Wohl traf ich auf meiner Wanderung ganz gute Obdachlosenasyle, wie in Berlin, Chemnitz und Nürnberg an (von Hamburg, Köln, Frankfurt/Main will ich lieber schweigen), wohl auch einige Herbergen zur Heimat, in denen man sich wirklich heimisch fühlen konnte, wie in Soest, Glauchau, Erlangen - aber im großen und ganzen erblickte ich, wohin ich schaute, Unsauberkeit und Unwirtlichkeit. Diese Pennen, wie besonders die sogenannten wilden ... sind ... die Verbreitungsherde aller möglichen ansteckenden Krankheiten und Seuchen.“// ((Roltsch „Von unterwegs“, in: Trappmann, S. 135)) Jeder Kunde, der dort übernachten will, wird abends abgebient (»entlaust«).\\  Deutlich wird aber, daß solche Herbergen die Ausnahme waren. Roltsch erzählt:// „Wohl traf ich auf meiner Wanderung ganz gute Obdachlosenasyle, wie in Berlin, Chemnitz und Nürnberg an (von Hamburg, Köln, Frankfurt/Main will ich lieber schweigen), wohl auch einige Herbergen zur Heimat, in denen man sich wirklich heimisch fühlen konnte, wie in Soest, Glauchau, Erlangen - aber im großen und ganzen erblickte ich, wohin ich schaute, Unsauberkeit und Unwirtlichkeit. Diese Pennen, wie besonders die sogenannten wilden ... sind ... die Verbreitungsherde aller möglichen ansteckenden Krankheiten und Seuchen.“// ((Roltsch „Von unterwegs“, in: Trappmann, S. 135)) Jeder Kunde, der dort übernachten will, wird abends abgebient (»entlaust«).\\ 
 Eine wichtige Rolle spielen für Heinrichs die Unterkünfte des katholischen Gesellenvereins: //"Erst auf meiner mühevollen Reise habe ich diese großartige Einrichtung kennen gelernt. ... Wie oft kam es nicht vor, daß ich abends ermüdet, ermattet, durchnäßt, ja oft mittellos in einer fremden Stadt ankam. Zeigte mir dann mein "Wanderbüchlein" die frohe Botschaft an, daß die Stadt der Sitz eines katholischen Gesellenvereins war, so wußte ich sofort, wohin ich meine Schritte zu lenken hatte."// ((Heinrichs, S. 11)) Dort gab es dreimal täglich Essen und eine Übernachtung umsonst: //„Doch das Zahlgeld brauchte nicht aus der Börse geholt zu werden, es bestand in einem einfachen Dank an den Hausmeister und in dem schlichten, aber schönen Abschiedsgruße: Gott segne das ehrbare Handwerk.“ ((Heinrichs, S. 17))// ((Durch den richtigen Gruß identifizierten sich fremde Gesellen, zum Beispiel die Schuster: „Guten Tag! Gott ehre das Reich, Gott ehre das Handwerk, das Gelage und die Bruderschaft. Gott ehre den Herr Vater, die Frau Mutter, Brüder und Schwestern und alle ehrbaren frommen Schusterknechte, wie sie versammelt sein, sei gleich, ob hier und anderswo.“ zit. nach Völger, S. 37)) Die Gesellenvereine findet er in Österreich und Ungarn bis nach Dunaföldvar an der serbischen Grenze, dann gibt es sie erst wieder in Rom und in der Schweiz. Für Protestanten wie Pfarre waren die katholischen Gesellenvereine geschlossen.\\  Eine wichtige Rolle spielen für Heinrichs die Unterkünfte des katholischen Gesellenvereins: //"Erst auf meiner mühevollen Reise habe ich diese großartige Einrichtung kennen gelernt. ... Wie oft kam es nicht vor, daß ich abends ermüdet, ermattet, durchnäßt, ja oft mittellos in einer fremden Stadt ankam. Zeigte mir dann mein "Wanderbüchlein" die frohe Botschaft an, daß die Stadt der Sitz eines katholischen Gesellenvereins war, so wußte ich sofort, wohin ich meine Schritte zu lenken hatte."// ((Heinrichs, S. 11)) Dort gab es dreimal täglich Essen und eine Übernachtung umsonst: //„Doch das Zahlgeld brauchte nicht aus der Börse geholt zu werden, es bestand in einem einfachen Dank an den Hausmeister und in dem schlichten, aber schönen Abschiedsgruße: Gott segne das ehrbare Handwerk.“ ((Heinrichs, S. 17))// ((Durch den richtigen Gruß identifizierten sich fremde Gesellen, zum Beispiel die Schuster: „Guten Tag! Gott ehre das Reich, Gott ehre das Handwerk, das Gelage und die Bruderschaft. Gott ehre den Herr Vater, die Frau Mutter, Brüder und Schwestern und alle ehrbaren frommen Schusterknechte, wie sie versammelt sein, sei gleich, ob hier und anderswo.“ zit. nach Völger, S. 37)) Die Gesellenvereine findet er in Österreich und Ungarn bis nach Dunaföldvar an der serbischen Grenze, dann gibt es sie erst wieder in Rom und in der Schweiz. Für Protestanten wie Pfarre waren die katholischen Gesellenvereine geschlossen.\\ 
Zeile 158: Zeile 158:
 ==== Kunden und Vagabunden ==== ==== Kunden und Vagabunden ====
 Die Bezeichnung Kunden wird oft wahllos benutzt und meint alle Gruppen. Kunde heißt eigentlich Kundiger, im altniederrheinischen war der //cunde// ein Späher und Kundschafter. In jedem Fall weiß er mehr als andere, ist also ausgezeichnet gegenüber anderen. Das wird deutlich, wenn sich zwei Kunden auf der Straße begegneten. Der Frage //„Kunde?“// mußte geantwortet werden mit //„Ken Mathes?//“ ((Bis 1939 grüßten sich Kunden so auf der Landstraße, auch wenn vielen der Sinn dieser Grußformel nicht klarwar, denn oftmals wurde auch Ken Mathias oder Ken Mathilde geantwortet.)) Der Fragende möchte wissen, ob der andere überhaupt ein Kunde (=Kundiger) ist, ob er also evtl Auskunft geben kann. Die Antwort hat nichts mit dem Vornamen Mathes zu tun, sondern rührt von Medine (=Landstraße) und heißt daher soviel wie „Ich kenne die Landstraße“. ((Wolf, Stichwort Ken und Kunde))\\  Die Bezeichnung Kunden wird oft wahllos benutzt und meint alle Gruppen. Kunde heißt eigentlich Kundiger, im altniederrheinischen war der //cunde// ein Späher und Kundschafter. In jedem Fall weiß er mehr als andere, ist also ausgezeichnet gegenüber anderen. Das wird deutlich, wenn sich zwei Kunden auf der Straße begegneten. Der Frage //„Kunde?“// mußte geantwortet werden mit //„Ken Mathes?//“ ((Bis 1939 grüßten sich Kunden so auf der Landstraße, auch wenn vielen der Sinn dieser Grußformel nicht klarwar, denn oftmals wurde auch Ken Mathias oder Ken Mathilde geantwortet.)) Der Fragende möchte wissen, ob der andere überhaupt ein Kunde (=Kundiger) ist, ob er also evtl Auskunft geben kann. Die Antwort hat nichts mit dem Vornamen Mathes zu tun, sondern rührt von Medine (=Landstraße) und heißt daher soviel wie „Ich kenne die Landstraße“. ((Wolf, Stichwort Ken und Kunde))\\ 
-Obwohl Kunden und Vagabunden sehr lax mit Moral umgehen, konnte man ihnen nicht unbedingt kriminelle Absichten unterstellen. Wohl waren sie Outlaws, Outcasts, Gesetzlose, die um ihr Überleben kämpften. Das ging oft nur außerhalb der bürgerlichen Moral und Gesetze. Doch hatten sie ihre Sprache, eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Ehre und Kameradschaft waren ihnen vertraut und viele waren stolz darauf, Kunde zu sein. Der Weg zurück in die Gesellschaft blieb ihnen nicht versperrt, auch wenn sie sozial ausgestoßen und heimatlos waren. \\ Andererseits war der Weg ins kriminelle Milieu einfach, da sich die Gauner in der gleichen Infrastruktur bewegten. Pfarre erinnert sich: „...lernte ich den Betrieb in der Herberge zur Heimat kennen. Aber waren das „Kunden“, „Monarchen“, „Speckjäger“ oder anders benannte „Ritter der Landstraße“? Nein! Soviel kannte ich nun doch schon die verlumpten, aber harmlosen Wandergestalten. Was sich hier zusammenfand, das kam nicht aus dem Chausseegraben, das gedieh nur auf dem Asphalt der Großstadt. Das nahe Oktoberfest hatte Nepper, Bauernfänger und Taschendiebe herangelockt.“ ((Pfarre, S. 12 f.)) \\ +Obwohl Kunden und Vagabunden sehr lax mit Moral umgehen, konnte man ihnen nicht unbedingt kriminelle Absichten unterstellen. Wohl waren sie Outlaws, Outcasts, Gesetzlose, die um ihr Überleben kämpften. Das ging oft nur außerhalb der bürgerlichen Moral und Gesetze. Doch hatten sie ihre Sprache, eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln. [[wiki:ehre|Ehre]] und Kameradschaft waren ihnen vertraut und viele waren stolz darauf, Kunde zu sein. Der Weg zurück in die Gesellschaft blieb ihnen nicht versperrt, auch wenn sie sozial ausgestoßen und heimatlos waren. \\ Andererseits war der Weg ins kriminelle Milieu einfach, da sich die Gauner in der gleichen Infrastruktur bewegten. Pfarre erinnert sich: „...lernte ich den Betrieb in der Herberge zur Heimat kennen. Aber waren das „Kunden“, „Monarchen“, „Speckjäger“ oder anders benannte „Ritter der Landstraße“? Nein! Soviel kannte ich nun doch schon die verlumpten, aber harmlosen Wandergestalten. Was sich hier zusammenfand, das kam nicht aus dem Chausseegraben, das gedieh nur auf dem Asphalt der Großstadt. Das nahe Oktoberfest hatte Nepper, Bauernfänger und Taschendiebe herangelockt.“ ((Pfarre, S. 12 f.)) \\ 
 ==== Schieben und Balance ==== ==== Schieben und Balance ====
 Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, Betrug wurden Schiebung genannt. Eine dufte Schiebung war klug und durchdacht, eine linke Schiebung war faul.)). Unter Schiebung verstand man Taschenspielerei, Gaunereien, Betrug. So sammelten zwei Kunden in jedem Ort die Messer und Scheren, ohne einen Schleifstein zu besitzen. Mit etwas Schmirgel wurden sie blank poliert, mit Schellack die Griffe optisch verbessert:// „Es kam uns auch nicht darauf an, die Messer zu schärfen, dann hätten wir ja auf ehrliche Weise unser Brot verdient.“// ((Pfarre, S. 22)) Da gibt es dann den „Sibirier“: //„Andere nannten ihn auch den Anarchisten. Er muckte (( `Mucken´ bedeutet Betteln mit einem Trick.)) mit roten Fleppen ((`Fleppen´ sind die Papiere, Dokumente, Pässe, 'rot' ist das unehrliche)), d.h. er bettelte die Sozialisten- und Anarchistenvereinigungen an. Wenn er dort leer ausging, konnte man ihn zum Beichten gehen sehen. Im Beichtstuhl focht er bei dem Geistlichen.“// Der „Schweizer“ spielte den Grafen, investierte ihn gute Kleidung und besaß sonst nichts. Dann besuchte er die Amerikaner in den guten Hotels und erzählte ihnen eine Geschichte, die ihm Geld brachte. Zwei andere, Polen, gingen jeden Abend auf die Balance. ((`Balance´ ist der Ausdruck für eine gefährliche Bettelei, die schon mehr Erpressung ist.)) Ihnen allen gemeinsam war es, mit betrügerischen Absichten vorzugehen.\\  Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, Betrug wurden Schiebung genannt. Eine dufte Schiebung war klug und durchdacht, eine linke Schiebung war faul.)). Unter Schiebung verstand man Taschenspielerei, Gaunereien, Betrug. So sammelten zwei Kunden in jedem Ort die Messer und Scheren, ohne einen Schleifstein zu besitzen. Mit etwas Schmirgel wurden sie blank poliert, mit Schellack die Griffe optisch verbessert:// „Es kam uns auch nicht darauf an, die Messer zu schärfen, dann hätten wir ja auf ehrliche Weise unser Brot verdient.“// ((Pfarre, S. 22)) Da gibt es dann den „Sibirier“: //„Andere nannten ihn auch den Anarchisten. Er muckte (( `Mucken´ bedeutet Betteln mit einem Trick.)) mit roten Fleppen ((`Fleppen´ sind die Papiere, Dokumente, Pässe, 'rot' ist das unehrliche)), d.h. er bettelte die Sozialisten- und Anarchistenvereinigungen an. Wenn er dort leer ausging, konnte man ihn zum Beichten gehen sehen. Im Beichtstuhl focht er bei dem Geistlichen.“// Der „Schweizer“ spielte den Grafen, investierte ihn gute Kleidung und besaß sonst nichts. Dann besuchte er die Amerikaner in den guten Hotels und erzählte ihnen eine Geschichte, die ihm Geld brachte. Zwei andere, Polen, gingen jeden Abend auf die Balance. ((`Balance´ ist der Ausdruck für eine gefährliche Bettelei, die schon mehr Erpressung ist.)) Ihnen allen gemeinsam war es, mit betrügerischen Absichten vorzugehen.\\ 
Zeile 189: Zeile 189:
 ===== 8 Und heute? ===== ===== 8 Und heute? =====
 Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki:grundfreiheiten|Gewerbefreiheit]] im 19. Jahrhundert hatte diese Bewegung ihren Zenit überschritten. Winnig kam sich 1897 in den großen Städten fehl am Platze vor. Die Industrialisierung Europas und die sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen führten in Schüben immer mal wieder zu einem Anstieg der Massen auf den Straßen. Doch nun nahmen Arbeiter, Wanderarbeiter und Lumpenproletariat die Stelle der Gesellen ein. 1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später waren es bereits wieder 450.000. ((Trappmann, S. 15)) Immer spiegelte sich in den Wanderungsbewegungen die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Die Nationalsozialisten brachten ab 1933 die Vagabunden mit allen Mitteln von der Straße: Arbeitslager, Verhaftung, Razzien, [[wiki:muendigkeit|Entmündigung]], Psychiatrisierung und sechs Jahre Krieg beseitigten fast alle Spuren der Heimatlosen. ((Kadereit)) Auch für die „Nicht-Seßhaften“ von heute ist die Landstraße meist ohne Romantik, sondern hat eher mit dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg zu tun.\\  Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki:grundfreiheiten|Gewerbefreiheit]] im 19. Jahrhundert hatte diese Bewegung ihren Zenit überschritten. Winnig kam sich 1897 in den großen Städten fehl am Platze vor. Die Industrialisierung Europas und die sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen führten in Schüben immer mal wieder zu einem Anstieg der Massen auf den Straßen. Doch nun nahmen Arbeiter, Wanderarbeiter und Lumpenproletariat die Stelle der Gesellen ein. 1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später waren es bereits wieder 450.000. ((Trappmann, S. 15)) Immer spiegelte sich in den Wanderungsbewegungen die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Die Nationalsozialisten brachten ab 1933 die Vagabunden mit allen Mitteln von der Straße: Arbeitslager, Verhaftung, Razzien, [[wiki:muendigkeit|Entmündigung]], Psychiatrisierung und sechs Jahre Krieg beseitigten fast alle Spuren der Heimatlosen. ((Kadereit)) Auch für die „Nicht-Seßhaften“ von heute ist die Landstraße meist ohne Romantik, sondern hat eher mit dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg zu tun.\\ 
-Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit Ehrbarkeit ((Früher Rotwelsch: Halsbinde, heute Krawatte)), Staude ((Hemd)), Schlapphut, Stenz ((Stock)) und schwarzen Cordhosen. Auch wenn sie nicht mehr Teil einer gesellschaftlichen Massenbewegung sind, so erhalten sie doch die Traditionen aufrecht. Sie werden „als Exoten bestaunt in einer durchtechnisierten, profitorientierten Welt“. ((Schiemann)) Sie tragen immer noch den Berliner mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und scheniegeln ((Arbeiten, von Schinagole (jidd. = Schubkarre))) bei Krautern ((Krauter wird der Handwerksmeister genannt, insbesondere der zunftlose auf dem freien Land)). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. Sogar eine „Confédération Compagnonnages“ der europäischen Gesellenzünfte gibt es.\\ +Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit //Ehrbarkeit// ((Früher Rotwelsch: Halsbinde, heute Krawatte)), //Staude// ((Hemd)), //Schlapphut, Stenz// (([[wiki:stab|Stock]])) und schwarzen Cordhosen. Auch wenn sie nicht mehr Teil einer gesellschaftlichen Massenbewegung sind, so erhalten sie doch die Traditionen aufrecht. Sie werden „als Exoten bestaunt in einer durchtechnisierten, profitorientierten Welt“. ((Schiemann)) Sie tragen immer noch den //Berliner// mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und //scheniegeln// ((Arbeiten, von Schinagole (jidd. = Schubkarre))) bei //Krautern// ((Krauter wird der Handwerksmeister genannt, insbesondere der zunftlose auf dem freien Land)). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. Sogar eine „Confédération Compagnonnages“ der europäischen Gesellenzünfte gibt es.\\ 
 Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? Ihre Zahl nimmt zu, entsprechend der Arbeitslosenquote. 1971 lebte ein Reporter eine Woche lang als Penner, schlief im Düsseldorfer Nachtasyl der Franziskaner und in der Hamburger Mönckebergstraße. Acht Tage Betteln brachten ihm 31,88 Mark ein. Und die Gespräche im Asyl hätten auch 50 Jahre früher stattfinden können. Der eine will in den Süden, nach Spanien, //wo´s warm is´.// Eine Nutte schüttet sich die Bierreste aus den Gläsern zusammen, den //Klapperschluck//. ((Klappern bedeutet im rotwelschen betteln.)) 1975 ziehen wieder zwei Reporter mit den Pennern los. Da treffen sie dann beispielsweise den Ex-Söldner, der jedes Jahr sechs- bis achtmal kreuz und quer durch Deutschland zieht, zu Fuß, per Anhalter oder mit Zug und „Bahnbenutzungsgenehmigung“ des Sozialamtes, von einer der 700 Herbergen zur nächsten. Und sie werden immer noch „abgebient“, nach Läusen untersucht. In der Celler Herberge zur Heimat will der Diakon 1,30 Mark pro Nacht und für die Flasche Bier 1,10. Gegessen wird auf Kommando: nach sieben Minuten sind Graupensuppe und Brot verschlungen. Am nächsten Tag geht es weiter, denn in den meisten Herbergen darf man nur alle sechs bis zwölf Monate übernachten. //„Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen - weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber ((Mit Berber werden seit ein, zwei Jahrzehnten die modernen Landstreicher und Vagabunden bezeichnet. Es scheint eine Neuschöpfung des Rotwelschen zu sein.)) Einzelgänger, die keinem trauen.“// ((Holzach)) \\  Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? Ihre Zahl nimmt zu, entsprechend der Arbeitslosenquote. 1971 lebte ein Reporter eine Woche lang als Penner, schlief im Düsseldorfer Nachtasyl der Franziskaner und in der Hamburger Mönckebergstraße. Acht Tage Betteln brachten ihm 31,88 Mark ein. Und die Gespräche im Asyl hätten auch 50 Jahre früher stattfinden können. Der eine will in den Süden, nach Spanien, //wo´s warm is´.// Eine Nutte schüttet sich die Bierreste aus den Gläsern zusammen, den //Klapperschluck//. ((Klappern bedeutet im rotwelschen betteln.)) 1975 ziehen wieder zwei Reporter mit den Pennern los. Da treffen sie dann beispielsweise den Ex-Söldner, der jedes Jahr sechs- bis achtmal kreuz und quer durch Deutschland zieht, zu Fuß, per Anhalter oder mit Zug und „Bahnbenutzungsgenehmigung“ des Sozialamtes, von einer der 700 Herbergen zur nächsten. Und sie werden immer noch „abgebient“, nach Läusen untersucht. In der Celler Herberge zur Heimat will der Diakon 1,30 Mark pro Nacht und für die Flasche Bier 1,10. Gegessen wird auf Kommando: nach sieben Minuten sind Graupensuppe und Brot verschlungen. Am nächsten Tag geht es weiter, denn in den meisten Herbergen darf man nur alle sechs bis zwölf Monate übernachten. //„Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen - weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber ((Mit Berber werden seit ein, zwei Jahrzehnten die modernen Landstreicher und Vagabunden bezeichnet. Es scheint eine Neuschöpfung des Rotwelschen zu sein.)) Einzelgänger, die keinem trauen.“// ((Holzach)) \\ 
 Was hat sich da schon viel geändert in den letzten 100 Jahren? Selbst Entromantisierung, Zerschlagung von Strukturen und Traditionen erreichen nicht die Wurzeln und Ursachen des Unterwegsseins. Der Wandertrieb findet sich in allen Menschen und bei vielen ist er stärker als das Bedürfnis nach Sicherheit. Hieraus nährt sich eine jede Wanderbewegung. Zeiten wie der Zweite Weltkrieg mögen einige Jahre nachbeben, so daß sich die meisten Menschen angesichts ihrer Erfahrungen für die Sicherheit entscheiden. Dann setzt erneut die Zeit der Wanderer ein. Das Wiederaufflackern der Wanderbewegungen begann etwa in den fünziger Jahren. Klaus Trappmann bringt es auf den Punkt:// „Als langjährige Gammler hatten wir begonnen, aus der Enge der Fünfziger Jahre auszubrechen. Die Straße wurde zum Inbegriff unserer Wut und unserer Hoffnungen. Zwischen Kerouacs „On the road“, den frühen Liedern Bob Dylans und den ersten Vietnamdemonstrationen liegen nur wenige Jahre. Rocker, Trebegänger ((Trebegänger sind im Berlinerischen Herumtreiber)), Knackis und umherschweifende Haschrebellen (( Nach 1968 bis 1970 entstand in der K I und der Wieland-Kommune in Berlin aus politisch engagierten Leuten der „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“. Von dieser Gruppe aus führt eine Entwicklungslinie zur RAF)) interessierten uns nicht so sehr als Opfer des Kapitals, sondern weil wir uns einig glaubten in der Verweigerung und in unserer Verzweiflung.“// (( Trappmann, s. Vorwort)) Was hat sich da schon viel geändert in den letzten 100 Jahren? Selbst Entromantisierung, Zerschlagung von Strukturen und Traditionen erreichen nicht die Wurzeln und Ursachen des Unterwegsseins. Der Wandertrieb findet sich in allen Menschen und bei vielen ist er stärker als das Bedürfnis nach Sicherheit. Hieraus nährt sich eine jede Wanderbewegung. Zeiten wie der Zweite Weltkrieg mögen einige Jahre nachbeben, so daß sich die meisten Menschen angesichts ihrer Erfahrungen für die Sicherheit entscheiden. Dann setzt erneut die Zeit der Wanderer ein. Das Wiederaufflackern der Wanderbewegungen begann etwa in den fünziger Jahren. Klaus Trappmann bringt es auf den Punkt:// „Als langjährige Gammler hatten wir begonnen, aus der Enge der Fünfziger Jahre auszubrechen. Die Straße wurde zum Inbegriff unserer Wut und unserer Hoffnungen. Zwischen Kerouacs „On the road“, den frühen Liedern Bob Dylans und den ersten Vietnamdemonstrationen liegen nur wenige Jahre. Rocker, Trebegänger ((Trebegänger sind im Berlinerischen Herumtreiber)), Knackis und umherschweifende Haschrebellen (( Nach 1968 bis 1970 entstand in der K I und der Wieland-Kommune in Berlin aus politisch engagierten Leuten der „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“. Von dieser Gruppe aus führt eine Entwicklungslinie zur RAF)) interessierten uns nicht so sehr als Opfer des Kapitals, sondern weil wir uns einig glaubten in der Verweigerung und in unserer Verzweiflung.“// (( Trappmann, s. Vorwort))
Zeile 264: Zeile 264:
   - //Die Tragödie Frankreichs//. Leipzig: List 1944. 347S.\\    - //Die Tragödie Frankreichs//. Leipzig: List 1944. 347S.\\ 
  
----- 
 ====== Anhang ====== ====== Anhang ======
 ==== Geschichten des Individuellen Reisens ==== ==== Geschichten des Individuellen Reisens ====
Zeile 276: Zeile 275:
 |7|[[wiki:fussreisen|Geschichte der Fußreisen]]|Trotter 93|1999| |7|[[wiki:fussreisen|Geschichte der Fußreisen]]|Trotter 93|1999|
  
-siehe auch 
 ===== Wir Globetrotter ===== ===== Wir Globetrotter =====
 In der Reihe //Wir Globetrotter// erschienen von Norbert Lüdtke: In der Reihe //Wir Globetrotter// erschienen von Norbert Lüdtke:
wiki/walz.txt · Zuletzt geändert: 2024/03/17 04:56 von norbert

Donate Powered by PHP Valid HTML5 Valid CSS Driven by DokuWiki