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wiki:walz

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wiki:walz [2020/06/05 13:33] norbertwiki:walz [2021/05/17 12:02] norbert
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 Kurzbiographien dieser Walzbrüder finden sich im letzten Kapitel. Schroeder und Heinrichs sind leidenschaftlich Reisende, während Winnig und Pfarre mit dem Reisen experimentieren und auf Distanz bleiben. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Erfahrungen zu bewerten. Allen diesen Reisenden ist eines gemeinsam: sie haben ein Buch geschrieben. Und jeder von ihnen hat eine ästhetisch-literarische Ader. Sie haben einen Hang zum Künstler und leben ihn mehr oder weniger aus: Pfarre ist ebenso wie Hasemann Bildhauer, möchte Dichter sein; Winnig ist Maurer und schriftstellert in seiner zweiten Lebenshälfte, ebenso wie Schroeder.\\  Kurzbiographien dieser Walzbrüder finden sich im letzten Kapitel. Schroeder und Heinrichs sind leidenschaftlich Reisende, während Winnig und Pfarre mit dem Reisen experimentieren und auf Distanz bleiben. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Erfahrungen zu bewerten. Allen diesen Reisenden ist eines gemeinsam: sie haben ein Buch geschrieben. Und jeder von ihnen hat eine ästhetisch-literarische Ader. Sie haben einen Hang zum Künstler und leben ihn mehr oder weniger aus: Pfarre ist ebenso wie Hasemann Bildhauer, möchte Dichter sein; Winnig ist Maurer und schriftstellert in seiner zweiten Lebenshälfte, ebenso wie Schroeder.\\ 
 Häufig verwendete rotwelsche Ausdrücke aus der Kunden- oder Gaunersprache werden in den Fußnoten erläutert. Häufig verwendete rotwelsche Ausdrücke aus der Kunden- oder Gaunersprache werden in den Fußnoten erläutert.
 +  In der Fremde will ich lernen 
 +  Biografien bayrischer Handwerker aus den letzten beiden Jahrhunderten 
 +  Haus der Bayrischen Geschichte, Text: Falk Ohorn 
 +  ISBN 3-937974-13-x 
 +  Der Historiker Ohorn recherchierte die Reisegeschichte von acht Handwerkern: 
 +  Ludwig Köck (»Abu El Kismet«), Seraphin Hoegner, Thomas Wimmer aus Siglfing,  
 +  Martin Irl aus Erding, Georg David Bilgram aus Memmingen und anderen.
 ===== 2 Meister, gebt mir die Papiere ===== ===== 2 Meister, gebt mir die Papiere =====
 Was bewog junge Burschen nach der Lehre dazu, Monate und Jahre auf die Walz zu gehen, die Sicherheit von Heimat, Beruf, Elternhaus aufzugeben zugunsten Hunger und Not, einer ungewissen Zukunft, ausgeliefert dem Wetter und der Willkür fremder Menschen? Die Antwort ist vielschichtig:\\  Was bewog junge Burschen nach der Lehre dazu, Monate und Jahre auf die Walz zu gehen, die Sicherheit von Heimat, Beruf, Elternhaus aufzugeben zugunsten Hunger und Not, einer ungewissen Zukunft, ausgeliefert dem Wetter und der Willkür fremder Menschen? Die Antwort ist vielschichtig:\\ 
 //„Schon in der frühesten Jugendzeit war mein [Heinrichs] sehnlichster Wunsch, zu reisen. Nicht per Bahn oder per Schiff, nein, auf Schusters Rappen wollte ich die Welt durchwandern. Durch meiner Hände Arbeit wollte ich mir mein Brot verdienen. Abwechselnd arbeiten und weiterziehen war mein Vorhaben. Darum erlernte ich auch das Handwerk, das mir, obgleich meinen Wünschen nicht ganz entsprechend, zum Wandern am vortrefflichsten schien: ich wurde Friseur, oder, wie es unter Walzbrüdern heißt, `Doktor der Schaumschlägerkunst´.“// \\  //„Schon in der frühesten Jugendzeit war mein [Heinrichs] sehnlichster Wunsch, zu reisen. Nicht per Bahn oder per Schiff, nein, auf Schusters Rappen wollte ich die Welt durchwandern. Durch meiner Hände Arbeit wollte ich mir mein Brot verdienen. Abwechselnd arbeiten und weiterziehen war mein Vorhaben. Darum erlernte ich auch das Handwerk, das mir, obgleich meinen Wünschen nicht ganz entsprechend, zum Wandern am vortrefflichsten schien: ich wurde Friseur, oder, wie es unter Walzbrüdern heißt, `Doktor der Schaumschlägerkunst´.“// \\ 
-Seine Vorstellung einer Walz entspringt alten Zeiten: //„Den derben Knotenstock in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken, wurde die Welt durchkreuzt. Frohgemut ging es von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort; bald allein, bald in Gesellschaft von mehreren lustigen Brüdern.“// ((Heinrichs, S. 8)) \\ +Seine Vorstellung einer Walz entspringt alten Zeiten: //„Den derben [[wiki:stab|Knotenstock]] in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken, wurde die Welt durchkreuzt. Frohgemut ging es von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort; bald allein, bald in Gesellschaft von mehreren lustigen Brüdern.“// ((Heinrichs, S. 8)) \\ 
 Dieses Ideal ist nicht durch praktische Erfahrungen getrübt und Heinrichs kennt nur drei Dinge, die es stören: Dieses Ideal ist nicht durch praktische Erfahrungen getrübt und Heinrichs kennt nur drei Dinge, die es stören:
   * die moderne Technik: //„Schnellfahrende Eisenbahnen haben das poesievolle Wanderleben verdrängt. Im Zeitalter des Treibriemens und Rädergerassels geht das Sehnen und Trachten so manchen jungen Mannes nicht mehr hinüber nach den Städten unbekannter Länder, wo ihm Gelegenheit geboten würde, sein Fach zu vervollkommnen.“// ((Heinrichs, S. 7))   * die moderne Technik: //„Schnellfahrende Eisenbahnen haben das poesievolle Wanderleben verdrängt. Im Zeitalter des Treibriemens und Rädergerassels geht das Sehnen und Trachten so manchen jungen Mannes nicht mehr hinüber nach den Städten unbekannter Länder, wo ihm Gelegenheit geboten würde, sein Fach zu vervollkommnen.“// ((Heinrichs, S. 7))
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 ==== Die Walz als Ritus und Prüfung ==== ==== Die Walz als Ritus und Prüfung ====
-Gemeinsam scheint den Handwerksburschen, daß sie sofort nach Abschluß ihrer Lehre in die Fremde ziehen, alle sind etwa 18 Jahre alt. Sie treffen diese Entscheidung bewußt, gehen freiwillig, doch während Heinrichs seine Reise von langer Hand plant, ergreifen die anderen eher die Gunst des Augenblicks. ((Zu den [[wiki:motive_des_reisens|Motiven]] s. Wanderverordnung Schadendorf, S.43)) Bei Heinrichs scheint das Reisen eher Trieb zu sein und von Leidenschaft bestimmt - bei den anderen ist es mehr Reiselust ohne festes Ziel, ohne Zeitvorgabe. Jeden treibt es in die Welt, doch bleibt dieser Antrieb persönlicher Natur, oft unbewußt. Nach außen begründet wird die Reise als „Walz“ und ist somit gesellschaftlich hinreichend legitimiert. Sie ist nützlich: der Geselle lernt neue Arbeitstechniken, vervollkommnet sich handwerklich, gewinnt an Weltkenntnis und Weltoffenheit und kommt als ein Mensch zurück, der reif ist, Meister zu werden und vielleicht selbständig. Unausgesprochen bleiben andere gesellschaftlich nützliche Effekte: der wandernde Geselle macht Platz für neue Lehrlinge, den Heranwachsenden wird ein Ventil geboten, sich in der Welt auszutoben, ihre Grenzen zu finden. Jeder entscheided selbst, wie lange er fortbleibt, wohin er geht, wie er die Zeit nutzt - bis zu sechs Jahren auf der Walz wurden akzeptiert.\\  +Gemeinsam scheint den Handwerksburschen, daß sie sofort nach Abschluß ihrer Lehre in die Fremde ziehen, alle sind etwa 18 Jahre alt. Sie treffen diese Entscheidung bewußt, gehen freiwillig, doch während Heinrichs seine Reise von langer Hand plant, ergreifen die anderen eher die Gunst des Augenblicks. ((Zu den [[wiki:motive_des_reisens|Motiven]] s. Wanderverordnung Schadendorf, S.43)) Bei Heinrichs scheint das Reisen eher Trieb zu sein und von Leidenschaft bestimmt - bei den anderen ist es mehr Reiselust ohne festes Ziel, ohne Zeitvorgabe. Jeden treibt es in die Welt, doch bleibt dieser Antrieb persönlicher Natur, oft unbewußt. Nach außen begründet wird die Reise als „Walz“ und ist somit gesellschaftlich hinreichend legitimiert. Sie ist nützlich: der Geselle lernt neue Arbeitstechniken, vervollkommnet sich handwerklich, gewinnt an Weltkenntnis und [[wiki:offenheit|Weltoffenheit]] und kommt als ein Mensch zurück, der reif ist, Meister zu werden und vielleicht selbständig. Unausgesprochen bleiben andere gesellschaftlich nützliche Effekte: der wandernde Geselle macht Platz für neue Lehrlinge, den Heranwachsenden wird ein Ventil geboten, sich in der Welt auszutoben, ihre Grenzen zu finden. Jeder entscheided selbst, wie lange er fortbleibt, wohin er geht, wie er die Zeit nutzt - bis zu sechs Jahren auf der Walz wurden akzeptiert.\\  
-Die Walz ist auch Prüfstein für die Persönlichkeit: Aussteiger bleiben auf der Strecke, werden Kunden und Vagabunden. Umgekehrt kommen auch die Ängstlichen nicht weit - wer keinen Sinn im Reisen findet, ist schnell wieder zu Hause. Wer sich entscheidet für den Einstieg in die Gesellschaft, wird seßhaft bleiben - er kennt die andere Seite zu genau. Die Enge des Alltags mit ihren festen Ordnungen und Werten und der Familie als kleinster Struktureinheit steht im Gegensatz zur Offenheit der Landstraße mit ihrer flexiblen Moral und der Kameradschaft als kleinster Zelle.\\ +Die Walz ist auch Prüfstein für die Persönlichkeit: Aussteiger bleiben auf der Strecke, werden Kunden und Vagabunden. Umgekehrt kommen auch die Ängstlichen nicht weit - wer keinen Sinn im Reisen findet, ist schnell wieder zu Hause. Wer sich entscheidet für den Einstieg in die Gesellschaft, wird seßhaft bleiben - er kennt die andere Seite zu genau. Die Enge des Alltags mit ihren festen Ordnungen und Werten und der Familie als kleinster Struktureinheit steht im Gegensatz zur [[wiki:offenheit|Offenheit]] der Landstraße mit ihrer flexiblen Moral und der Kameradschaft als kleinster Zelle.\\ 
 Für jeden bringt die Reise einen persönlichen Fortschritt, eine besondere Erkenntnis oder Erfahrung. Winnig gesteht:// „Hinter meinem Entschluß hatte eine Hoffnung gestanden, die Hoffnung auf eine bedeutsame beglückende Wendung.“// ((Winnig, S. 246)) Er weiß selbst nicht, welche Wendung das dann nun sein soll. Er kann nur warten. Die Reise durch die Außenwelt ist eine Abkürzung für die innere Reise, ein Fortschritt im Mensch-sein. Pfarre bringt es die Erkenntnis, daß er zum Techniker geboren ist, er wechselt den Beruf. Bei Winnig ist es die Entscheidung für ein Schriftsteller-Dasein. Schroeder findet unterwegs seine neue Heimat und entscheidet sich für Solingen. Heinrichs findet die Erfüllung im Reisen, nur Krankheit zwingt ihn zum Abbruch. Zettler gründet eine eigene Firma. Hasemann findet eine Frau und seine berufliche Erfüllung im Holzschnitt. Für jeden bringt die Reise einen persönlichen Fortschritt, eine besondere Erkenntnis oder Erfahrung. Winnig gesteht:// „Hinter meinem Entschluß hatte eine Hoffnung gestanden, die Hoffnung auf eine bedeutsame beglückende Wendung.“// ((Winnig, S. 246)) Er weiß selbst nicht, welche Wendung das dann nun sein soll. Er kann nur warten. Die Reise durch die Außenwelt ist eine Abkürzung für die innere Reise, ein Fortschritt im Mensch-sein. Pfarre bringt es die Erkenntnis, daß er zum Techniker geboren ist, er wechselt den Beruf. Bei Winnig ist es die Entscheidung für ein Schriftsteller-Dasein. Schroeder findet unterwegs seine neue Heimat und entscheidet sich für Solingen. Heinrichs findet die Erfüllung im Reisen, nur Krankheit zwingt ihn zum Abbruch. Zettler gründet eine eigene Firma. Hasemann findet eine Frau und seine berufliche Erfüllung im Holzschnitt.
 ==== Felleisen und Berliner  ==== ==== Felleisen und Berliner  ====
  
-Unsere Handwerksburschen sind alle Neulinge auf dem Reisesektor, bis auf Pfarre. Über die Ausrüstung wird nicht viel geredet, man beschränkt sich und nimmt, was man hat. Als Schroeder fluchtartig Trier verläßt, packt er Zahnbürste, Anzug, Selbstbinder ((Der Selbstbinder ist eine stets neu zu bindende Schleife, die nicht fest vernäht ist.)) und Kragen in seinen Koffer ((Schroeder, S. 6)) und vermißt schon bald Handtuch und Seife. ((Schroeder, S. 41)) Über den Koffer schimpft er oft, irgendwann zerfällt er ihm buchstäblich in der Hand und er improvisiert - bindet die Hosenbeine seiner zweiten Hose unten ab und stopft alles hinein, was er hat. Das ganze bezeichnet er als Berliner ((Der Berliner war leichter als das ältere Felleisen. Die ersten, die ihn trugen, waren die Klempner - sie hatten grüne Berliner. Maurer und Zimmerleute banden den Berliner in ein großes, buntbedrucktes Taschentuch, Schmiede hüllten das Bündel in ihr Schurzfell, sonstige Kunden in ein Wachstuch. (s. Wolf) Der Berliner wurde als Rolle gebunden und sah aus wie ein übergroßes Knallbonbon mit etwa dreißig Zentimter im Durchmesser, ungefähr siebzig Zentimeter lang. Das Wort ist seit etwa 1880 bekannt und dürfte aus dem jiddischen „be alil“ (mit der Werkstätte) entstanden sein: eine ironische Bezeichnung für die Gesellen, die in ihrem Bündel das Werkzeug mit sich trugen.)) und ist äußerst zufrieden damit, spürt gar nicht, daß er etwas auf dem Rücken trägt; andere tragen ein Felleisen ((Das Felleisen, ein Behältnis, in dem Fußreisende ihre Siebensachen transportierten, war bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich. Es bestand meist aus Leder, war innen mit grober Leinwand gefüttert und bis-weilen mit einem Schloß gesichert. Manche Felleisen der Handwerksburschen um 1840 hatten Räder, so daß sie mit einem Stock geschoben oder gezogen werden konnten. [Meyers Conversations-Lexikon 1840-1855] Bei der Fahrpost dienten zylindrische Felleisen als Behälter für Briefe und Pakete. Der Begriff Felleisen hat nichts mit Fell oder Eisen zu tun, sondern entstammt dem französischen valise (Handkoffer, Reisetasche) und dem älteren valisa (lat., ital.). Er wird synonym für Ranzen, Rucksack, Mantelsack, Reisetasche, Reisesack, Packsattel benutzt. Manchmal wird er über die Achseln geworfen (Simplicissimus), mal auf den Rücken geschnallt und als Tornister getragen (Dewald). Das Wort ist seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts schriftlich bekannt als fellis)). 15 Monate, nachdem er Trier verlassen hat, filzt ihn die Polizei und wir erfahren, was er in seinen Taschen trägt: Gesellenbrief, Zeugnis, zwei Briefe, Paß, Geleitschein, Rasiermesser, Zahnbürste, Seife ... Viel ist es nicht. Vor Lindau trifft er einen sächsischen Kunden, der Vorräte für den Winter unter seiner Jacke trägt:// „An seinem Bauchriemen hängen aus kleinen Konservendosen zurecht geschusterte Blecheimerchen. In einem ist Fett, im anderen Butter, im dritten Schmalz; Öl verwahrt er in Flaschen. An einem Fleischerhaken, den er in der obersten Westentasche eingehakt, pendeln zwei Würste.“// ((Schroeder, S. 132)) \\  +Unsere Handwerksburschen sind alle Neulinge auf dem Reisesektor, bis auf Pfarre. Über die [[wiki:ausruestung|Ausrüstung]] wird nicht viel geredet, man beschränkt sich und nimmt, was man hat. Als Schroeder fluchtartig Trier verläßt, packt er Zahnbürste, Anzug, Selbstbinder ((Der Selbstbinder ist eine stets neu zu bindende Schleife, die nicht fest vernäht ist.)) und Kragen in seinen Koffer ((Schroeder, S. 6)) und vermißt schon bald Handtuch und Seife. ((Schroeder, S. 41)) Über den Koffer schimpft er oft, irgendwann zerfällt er ihm buchstäblich in der Hand und er improvisiert - bindet die Hosenbeine seiner zweiten Hose unten ab und stopft alles hinein, was er hat. Das ganze bezeichnet er als [[wiki:berliner|Berliner]] ((Der Berliner war leichter als das ältere [[wiki:felleisen|Felleisen]]. Die ersten, die ihn trugen, waren die Klempner - sie hatten grüne Berliner. Maurer und Zimmerleute banden den Berliner in ein großes, buntbedrucktes Taschentuch, Schmiede hüllten das Bündel in ihr Schurzfell, sonstige Kunden in ein Wachstuch. (s. Wolf) Der Berliner wurde als Rolle gebunden und sah aus wie ein übergroßes Knallbonbon mit etwa dreißig Zentimter im Durchmesser, ungefähr siebzig Zentimeter lang. Das Wort ist seit etwa 1880 bekannt und dürfte aus dem jiddischen „be alil“ (mit der Werkstätte) entstanden sein: eine ironische Bezeichnung für die Gesellen, die in ihrem Bündel das Werkzeug mit sich trugen.)) und ist äußerst zufrieden damit, spürt gar nicht, daß er etwas auf dem Rücken trägt; andere tragen ein Felleisen ((Das Felleisen, ein Behältnis, in dem Fußreisende ihre Siebensachen transportierten, war bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich. Es bestand meist aus Leder, war innen mit grober Leinwand gefüttert und bis-weilen mit einem Schloß gesichert. Manche Felleisen der Handwerksburschen um 1840 hatten Räder, so daß sie mit einem [[wiki:stab|Stock]] geschoben oder gezogen werden konnten. [Meyers Conversations-Lexikon 1840-1855] Bei der Fahrpost dienten zylindrische Felleisen als Behälter für Briefe und Pakete. Der [[wiki:begriff|Begriff]] Felleisen hat nichts mit Fell oder Eisen zu tun, sondern entstammt dem französischen valise (Handkoffer, Reisetasche) und dem älteren valisa (lat., ital.). Er wird synonym für [[wiki:ranzen|Ranzen]][[wiki:rucksack|Rucksack]][[wiki:mantelsack|Mantelsack]], Reisetasche, Reisesack, Packsattel benutzt. Manchmal wird er über die Achseln geworfen (Simplicissimus), mal auf den Rücken geschnallt und als Tornister getragen (Dewald). Das Wort ist seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts schriftlich bekannt als fellis)). 15 Monate, nachdem er Trier verlassen hat, filzt ihn die Polizei und wir erfahren, was er in seinen Taschen trägt: Gesellenbrief, Zeugnis, zwei Briefe, Paß, Geleitschein, Rasiermesser, Zahnbürste, Seife ... Viel ist es nicht. Vor Lindau trifft er einen sächsischen Kunden, der Vorräte für den Winter unter seiner Jacke trägt:// „An seinem Bauchriemen hängen aus kleinen Konservendosen zurecht geschusterte Blecheimerchen. In einem ist Fett, im anderen Butter, im dritten Schmalz; Öl verwahrt er in Flaschen. An einem Fleischerhaken, den er in der obersten Westentasche eingehakt, pendeln zwei Würste.“// ((Schroeder, S. 132)) \\  
-Winnig gräbt auf dem Speicher den Ranzen seines Großvaters und dessen Eichenstock aus: //„Die Zeit schrieb damals einen Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Traggurten vor, welches Behältnis in der Sprache der reisenden Burschen Berliner hieß, und auf solchen Berliner war mein Sinn gerichtet, nur war dergleichen in unserer kleinen Stadt nicht zu beschaffen.“// ((Winnig, S. 5)) Bei seiner ersten Arbeitsstelle fällt er auf wegen seiner derben Wanderschuhe mit den breiten Nägeln und seiner Arbeitsjacke aus krausem Wollstoff, die den Regen abwies. ((Heinrichs, S. 24)) \\  +Winnig gräbt auf dem Speicher den Ranzen seines Großvaters und dessen [[wiki:stab|Eichenstock]] aus: //„Die Zeit schrieb damals einen Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Traggurten vor, welches Behältnis in der Sprache der reisenden Burschen Berliner hieß, und auf solchen Berliner war mein Sinn gerichtet, nur war dergleichen in unserer kleinen Stadt nicht zu beschaffen.“// ((Winnig, S. 5)) Bei seiner ersten Arbeitsstelle fällt er auf wegen seiner derben Wanderschuhe mit den breiten Nägeln und seiner Arbeitsjacke aus krausem Wollstoff, die den Regen abwies. ((Heinrichs, S. 24)) \\  
-Wie auch heute, ist die Ausrüstung ein Erkennungszeichen und ein Maßstab für den Grad der Vertrautheit:// „Er mochte um einige Jahre älter sein als ich, doch das hielt mich nicht ab, denselben anzureden; trug er ja auch Ränzel und Knotenstock. Nicht lange währte es, und wir hatten Freundschaft geschlossen.“//  +Wie auch heute, ist die [[wiki:ausruestung|Ausrüstung]] ein Erkennungszeichen und ein Maßstab für den Grad der [[wiki:vertrauen|Vertrautheit]]:// „Er mochte um einige Jahre älter sein als ich, doch das hielt mich nicht ab, denselben anzureden; trug er ja auch [[wiki:ranzen|Ränzel]] und [[wiki:stab|Knotenstock]]. Nicht lange währte es, und wir hatten Freundschaft geschlossen.“//  
-Alfred Pfarre zieht los mit einer nagelneuen Ausrüstung: Lodenjoppe und Rucksack, Stock und Gamaschen ((Pfarre, S. 9)), mit Hirschtalg werden die Stiefel wasserfest gemacht ((Pfarre, S. 50)), eine Pelerine ((ein ärmelloser Regenmantel)) dient als Regenschutz. ((Pfarre, S. 52))\\ +Alfred Pfarre zieht los mit einer nagelneuen Ausrüstung: Lodenjoppe und [[wiki:rucksack|Rucksack]][[wiki:stab|Stock]] und Gamaschen ((Pfarre, S. 9)), mit Hirschtalg werden die Stiefel wasserfest gemacht ((Pfarre, S. 50)), eine Pelerine ((ein ärmelloser Regenmantel)) dient als Regenschutz. ((Pfarre, S. 52))\\ 
 Winnig trägt sein Handwerkszeug mit sich: Kelle, Hammer, Lotwaage. Dies dient als Kennzeichen der Wanderschaft, und auch Schroeder zeigt ab und an seinen Zollstock. Heinrichs hat Scheren und Kämme dabei, verkauft sie aber bald zur Finanzierung seiner Reise.\\  Winnig trägt sein Handwerkszeug mit sich: Kelle, Hammer, Lotwaage. Dies dient als Kennzeichen der Wanderschaft, und auch Schroeder zeigt ab und an seinen Zollstock. Heinrichs hat Scheren und Kämme dabei, verkauft sie aber bald zur Finanzierung seiner Reise.\\ 
 Winnig wandert im Winter nur mit Jacke und Hemd. Unterwäsche gibt es nicht, selbst ein Halstuch hat er nicht. //„Heikel war die Versorgung mit sauberer Wäsche. Im Sommer wusch man das zweite Hemd in einem Bach, hängte es auf einen Busch zum Trocknen und legte sich daneben. Das war im Winter nicht möglich, und die Herbergen hatten noch keine Einrichtungen, in denen man die Wäsche vom Abend bis zum Morgen hätte waschen und trocknen können; dazu blieb dann nur der Sonntag ... Wenn der Herbergswirt aber niemand hatte, der den Sonntag am Waschfaß mit Wanderburschenwäsche verbringen wollte, so mußte man sein Hemd solange tragen, bis es einmal besser paßte. In diesem Punkte waren die konfessionellen Herbergen, von den Wanderburschen Heiligkeit genannt, am besten eingerichtet; nach ihrem Vorbilde haben von 1900 an die Gewerkschaften ein eigenes Herbergswesen aufgebaut.“// ((Winnig, S. 169)) \\  Winnig wandert im Winter nur mit Jacke und Hemd. Unterwäsche gibt es nicht, selbst ein Halstuch hat er nicht. //„Heikel war die Versorgung mit sauberer Wäsche. Im Sommer wusch man das zweite Hemd in einem Bach, hängte es auf einen Busch zum Trocknen und legte sich daneben. Das war im Winter nicht möglich, und die Herbergen hatten noch keine Einrichtungen, in denen man die Wäsche vom Abend bis zum Morgen hätte waschen und trocknen können; dazu blieb dann nur der Sonntag ... Wenn der Herbergswirt aber niemand hatte, der den Sonntag am Waschfaß mit Wanderburschenwäsche verbringen wollte, so mußte man sein Hemd solange tragen, bis es einmal besser paßte. In diesem Punkte waren die konfessionellen Herbergen, von den Wanderburschen Heiligkeit genannt, am besten eingerichtet; nach ihrem Vorbilde haben von 1900 an die Gewerkschaften ein eigenes Herbergswesen aufgebaut.“// ((Winnig, S. 169)) \\ 
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 ==== Die Penunse ==== ==== Die Penunse ====
 Natürlich spielt das Geld, die Penunse ((das Wort kommt vermutlich aus dem Sorbischen pjenjezy oder dem polnischen penadz, wurde später auch zu Peseten verballhornt)) eine große Rolle. Keiner von den Gesellen zieht ohne Geld los, doch bei allen ist früher oder später der Geldbeutel leer. Dann gab es sehr verschiedene Strategien, sich Geld zu verschaffen. Am einfachsten machte es sich Alfred Pfarre: er fand keine Arbeit, mochte nicht betteln, also ließ er sich Geld von den Eltern schicken (in 8 Monaten 300 Mark), das allerdings nicht reichte. //„Über zwei Wochen ohne Geld, zwei Wochen Kampf um Brot und Bett, zwei lange, lange Wochen. Am zweiten Tag begann die Sorge, am dritten schon die Not.“// ((Pfarre, S. 176)) Und bald darauf:// „Nun kamen zwei Wochen ohne Geld. Von trockenen Brotknüsten allein konnte ich nicht leben, ich brauchte Geld zum Schlafen, jeden Tag acht Soldi ((Eine Lira ist einen Franc oder 80 Pfennige wert. Die Lira hat 100 Centesimi, fünf Centesimi sind ein Soldo. s. „Land u. Leute in Italien“)). Und auch an den Tagen wo der Brotknust fehlte, Geld zum Schlafen hatte ich auch da erhalten, wenn nicht um acht Uhr, dann um Mitternacht.“// ((Pfarre, S. 179))  Natürlich spielt das Geld, die Penunse ((das Wort kommt vermutlich aus dem Sorbischen pjenjezy oder dem polnischen penadz, wurde später auch zu Peseten verballhornt)) eine große Rolle. Keiner von den Gesellen zieht ohne Geld los, doch bei allen ist früher oder später der Geldbeutel leer. Dann gab es sehr verschiedene Strategien, sich Geld zu verschaffen. Am einfachsten machte es sich Alfred Pfarre: er fand keine Arbeit, mochte nicht betteln, also ließ er sich Geld von den Eltern schicken (in 8 Monaten 300 Mark), das allerdings nicht reichte. //„Über zwei Wochen ohne Geld, zwei Wochen Kampf um Brot und Bett, zwei lange, lange Wochen. Am zweiten Tag begann die Sorge, am dritten schon die Not.“// ((Pfarre, S. 176)) Und bald darauf:// „Nun kamen zwei Wochen ohne Geld. Von trockenen Brotknüsten allein konnte ich nicht leben, ich brauchte Geld zum Schlafen, jeden Tag acht Soldi ((Eine Lira ist einen Franc oder 80 Pfennige wert. Die Lira hat 100 Centesimi, fünf Centesimi sind ein Soldo. s. „Land u. Leute in Italien“)). Und auch an den Tagen wo der Brotknust fehlte, Geld zum Schlafen hatte ich auch da erhalten, wenn nicht um acht Uhr, dann um Mitternacht.“// ((Pfarre, S. 179)) 
-Dann gab es kleine Hilfen von Kunden, beim Deutschen Hilfsverein (manchmal), bei Pfarrern, im Konsulat oder der Botschaft (selten). Kuckuck ((Mit `Kuckuck´, dem Adler im Wappen, ist der (deutsche) Konsul gemeint)) und Kunde ist ein ergiebiges und für den Kunden unerfreuliches Thema, meint Pfarre. Nur selten hilft ihm das Konsulat. //„...rasch entledigt sich der Konsul [des Wanderers], wenn er mit ihm zu tun bekommt; er paßt nicht in sein System.“// ((Hasemann, S. VII)) Überbrückungsgeld wird gar nicht oder nur unter großen bürokratischen Hürden ausgezahlt, zu Weihnachten war es leichter, an Geld zu kommen. Als Pfarre um Einweisung in eine Krankenhaus bittet, wird er als Simulant abgetan. Andere Tage, Sammeltage, bestehen darin, zu warten: //„Aber irgend etwas kam schon. Ein Seemann, der sich amüsieren wollte, den man dann nach Wunsch unterbrachte, einen landsmännischen Touristen, der echtes Münchner trinken wollte, ein anderer Fremder, der das Varieté suchte oder vielleicht auch eine Dirne, alle diese wurden von feinem Kundenspürsinn aufgestöbert, all denen half man Neapel kennen zu lernen und alle mußten blechen ((Blech ist eine Bezeichnung für Geld und rührt vom hochdeutschen „dünnen, blitzenden Metall“ her)).“// ((Pfarre, S. 183)) Pfarre sinniert, nachdem er lange das Büro des deutschen Hilfsvereins in Neapel gesucht hatte: //„Was erreicht der Hilfsverein durch sein Verstecken? Doch nur, daß die Gerissenen ihn brauchen, die, für die er zwecklos ist. Diejenigen, denen sein Segen zugedacht ist, können nichts von ihm wissen.“// ((Pfarre, S. 180)) Dort erhält er eine Schlafkarte für das städtische Asyl, Geld gibt es nicht. Ein anderes Mal gibt ihm die Questura, die Armenbehörde einen Gutschein für Abendessen, Übernachtung, Frühstück. Jeden Tag muß man wieder vorstellig werden, bis dem Beamten die Geduld reißt und er einen hinauswirft. Die Kunden fochten ((Handwerksburschen gingen fechten, d.h. sie erbaten Brot oder Geld. Später bedeutete der Begriff „betteln“.)) jeden beliebigen Menschen an und besonders ergiebige Stellen wurden weitererzählt und „Winden“ genannt. Heinrichs benötigte mehrere hundert Mark für seine zweijährige Reise: Gespartes, Überweisungen von den Eltern, drei oder vier Arbeitsstellen, Unterstützungen durch die deutsche Hilfskasse bei den Konsulaten (120 Mark, die er beim deutschen Konsul in Alexandria erhielt, mußte er drei Jahre später zurückzahlen).\\ +Dann gab es kleine Hilfen von Kunden, beim Deutschen Hilfsverein (manchmal), bei Pfarrern, im Konsulat oder der Botschaft (selten). Kuckuck ((Mit `Kuckuck´, dem Adler im Wappen, ist der (deutsche) Konsul gemeint)) und Kunde ist ein ergiebiges und für den Kunden unerfreuliches Thema, meint Pfarre. Nur selten hilft ihm das Konsulat. //„...rasch entledigt sich der Konsul [des Wanderers], wenn er mit ihm zu tun bekommt; er paßt nicht in sein System.“// ((Hasemann, S. VII)) Überbrückungsgeld wird gar nicht oder nur unter großen bürokratischen Hürden ausgezahlt, zu Weihnachten war es leichter, an Geld zu kommen. Als Pfarre um Einweisung in eine Krankenhaus bittet, wird er als Simulant abgetan. Andere Tage, Sammeltage, bestehen darin, zu warten: //„Aber irgend etwas kam schon. Ein Seemann, der sich amüsieren wollte, den man dann nach Wunsch unterbrachte, einen landsmännischen Touristen, der echtes Münchner trinken wollte, ein anderer Fremder, der das Varieté suchte oder vielleicht auch eine Dirne, alle diese wurden von feinem Kundenspürsinn aufgestöbert, all denen half man Neapel kennen zu lernen und alle mußten blechen ((Blech ist eine Bezeichnung für Geld und rührt vom hochdeutschen „dünnen, blitzenden Metall“ her)).“// ((Pfarre, S. 183)) Pfarre sinniert, nachdem er lange das Büro des deutschen Hilfsvereins in Neapel gesucht hatte: //„Was erreicht der Hilfsverein durch sein Verstecken? Doch nur, daß die Gerissenen ihn brauchen, die, für die er zwecklos ist. Diejenigen, denen sein Segen zugedacht ist, können nichts von ihm wissen.“// ((Pfarre, S. 180)) Dort erhält er eine Schlafkarte für das städtische Asyl, Geld gibt es nicht. Ein anderes Mal gibt ihm die Questura, die Armenbehörde einen Gutschein für Abendessen, Übernachtung, Frühstück. Jeden Tag muß man wieder vorstellig werden, bis dem Beamten die Geduld reißt und er einen hinauswirft. Die Kunden fochten ((Handwerksburschen gingen fechten, d.h. sie erbaten Brot oder Geld. Später bedeutete der [[wiki:begriff|Begriff]] „betteln“.)) jeden beliebigen Menschen an und besonders ergiebige Stellen wurden weitererzählt und „Winden“ genannt. Heinrichs benötigte mehrere hundert Mark für seine zweijährige Reise: Gespartes, Überweisungen von den Eltern, drei oder vier Arbeitsstellen, Unterstützungen durch die deutsche Hilfskasse bei den Konsulaten (120 Mark, die er beim deutschen Konsul in Alexandria erhielt, mußte er drei Jahre später zurückzahlen).\\ 
 Winnig arbeitet in den neunziger Jahren und erhält einmal einen Wochenlohn von 11 Mark, was ihm wenig erscheint, er staunt aber über einen Wochenlohn von 60 Mark, das sei das gleiche, was sein Vater im Monat verdiene. Umgerechnet bedeutet das einen Stundenverdienst von 22 bis 45 Pfennige bei einer 48-Stunden-Woche. ((Winnig, S. 22)) Ein Kunde erzählt ihm, wie er sich drei Monate in Genua über Wasser gehalten hat: //„Du darfst nicht warten, bis dir einer Arbeit gibt, du mußt einfach zufassen, wo du etwas siehst; wenn sie dich nicht wegjagen, bezahlen sie dich auch; das ist so Sitte.“// ((Winnig, S. 137)) Winnig verdient immer genug, um davon leben zu können, er kalkuliert eine Mark täglich für Unterkunft und Essen: Abendessen, Nachtlager und Morgenkaffee für siebzig Pfennig, Brot und Zukost, Obst und Wurst für täglich zwanzig Pfennige, ein viertel Liter Bier kostet sechs, ein Branntwein drei Pfennige. ((Winnig, S. 169)) Einmal gerät er in Bedrängnis: //„Wenn wir jetzt keine Arbeit fanden, war das Unglück da. Geld hatten wir nicht mehr, und zum Reisen waren wir zu elend. Dann mußten wir betteln. Und beim Betteln würde man uns ertappen und festnehmen, und ich würde dann für mein ganzes Leben wegen Bettelns bestraft sein.“// ((Winnig, S. 173)) Betteln war verboten und die Polizei war scharf hinter den Kunden her. Doch es war selten, daß jemand walzte, ohne zu betteln.\\  Winnig arbeitet in den neunziger Jahren und erhält einmal einen Wochenlohn von 11 Mark, was ihm wenig erscheint, er staunt aber über einen Wochenlohn von 60 Mark, das sei das gleiche, was sein Vater im Monat verdiene. Umgerechnet bedeutet das einen Stundenverdienst von 22 bis 45 Pfennige bei einer 48-Stunden-Woche. ((Winnig, S. 22)) Ein Kunde erzählt ihm, wie er sich drei Monate in Genua über Wasser gehalten hat: //„Du darfst nicht warten, bis dir einer Arbeit gibt, du mußt einfach zufassen, wo du etwas siehst; wenn sie dich nicht wegjagen, bezahlen sie dich auch; das ist so Sitte.“// ((Winnig, S. 137)) Winnig verdient immer genug, um davon leben zu können, er kalkuliert eine Mark täglich für Unterkunft und Essen: Abendessen, Nachtlager und Morgenkaffee für siebzig Pfennig, Brot und Zukost, Obst und Wurst für täglich zwanzig Pfennige, ein viertel Liter Bier kostet sechs, ein Branntwein drei Pfennige. ((Winnig, S. 169)) Einmal gerät er in Bedrängnis: //„Wenn wir jetzt keine Arbeit fanden, war das Unglück da. Geld hatten wir nicht mehr, und zum Reisen waren wir zu elend. Dann mußten wir betteln. Und beim Betteln würde man uns ertappen und festnehmen, und ich würde dann für mein ganzes Leben wegen Bettelns bestraft sein.“// ((Winnig, S. 173)) Betteln war verboten und die Polizei war scharf hinter den Kunden her. Doch es war selten, daß jemand walzte, ohne zu betteln.\\ 
  
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 ==== Hanf mit Unvernunft oder Lechum und Beza==== ==== Hanf mit Unvernunft oder Lechum und Beza====
-Geld ist nur Mittel zum Zweck, und der heißt meist „essen“. Durch Flammer lernt Heinrichs erste Techniken des Sich-Ernährens kennen: //„...ich hatte in Flammer ((Rotwelsch für Schmied)) einen hervorragenden Fechtmeister gefunden. Doch nicht gefochten wurde mit Säbel oder Rapier, an irgendeinem verborgenen Ort, sondern unser Schlachtfeld war die Tür eines guten Landbewohners und unsere Waffen der Hut in der Hand, die ärmlichste, hungrigste Miene und das allbekannte Sprüchlein vom armen reisenden Handwerksburschen, der sechs Wochen keinen warmen Löffel mehr zum Munde geführt hat.“// ((Heinrichs S. 26)) Diese Methode funktioniert so gut, daß Heinrichs und sein Gefährte oft dreimal täglich zu Mittag gegessen haben; ähnliches berichten andere Kunden. Wer Geld hatte, aß in der Herberge zur Heimat ((Als Herberge zur Heimat wurden die christlichen Herbergen bezeichnet)). Wer keines hatte, bekam ein, zwei Tage lang, je nach Gemeindeordnung, Gutscheine, die er dann in der Herberge zur Heimat einlösen konnte, aber die Qualität der Wandererfürsorge ließ zu wünschen übrig:// „Denn abgesehen von sogenanntem Kaffee und trockenem Brot (»Hanf« oder »Lechum«) enthält die Wandererfürsorge-Speisekarte fast ausschließlich weiter nichts als immer und immer nur dünne, fettlose Suppen, gekochte Kartoffeln und minderwertige Wurst (»Unvernunft«).“// ((Karl Roltsch „Von unterwegs“, in: Trappmann, S. 135)) Gab auch das nichts mehr her, so konnte man sich an die Klöster wenden, für die die Armenspeisung eine Pflicht war. Angenehm war das oft nicht: //„Vor uns stand im Vorraum eine mächtige Schüssel mit Suppe. Fleischstücke und Brot schwammen darin. Sogar ein paar Fettaugen. ... Die Kunden fraßen. Mit einer tierischen Gier beugten sie sich über die große Schüssel. Die Suppe lief vom Maule wieder zurück in die Schale. Die Kunden fraßen. Denn sie mußten noch in zwei anderen Klöstern fressen. Zwar konnten sie in einem satt werden, aber wie kann der Kunde dem anderen etwas schenken, etwas selbst nicht mitnehmen, das er bekommen kann. Der Kunde frißt, wenn er hungert. Der Kunde frißt, wenn er satt ist. Ich war hungrig, doch mich ekelte.“// ((Pfarre, S. 32))\\ +Geld ist nur Mittel zum Zweck, und der heißt meist „essen“, denn [[wiki:proviant|Proviant]] ist kanpp. Durch Flammer lernt Heinrichs erste Techniken des Sich-Ernährens kennen: //„...ich hatte in Flammer ((Rotwelsch für Schmied)) einen hervorragenden Fechtmeister gefunden. Doch nicht gefochten wurde mit Säbel oder Rapier, an irgendeinem verborgenen Ort, sondern unser Schlachtfeld war die Tür eines guten Landbewohners und unsere Waffen der Hut in der Hand, die ärmlichste, hungrigste Miene und das allbekannte Sprüchlein vom armen reisenden Handwerksburschen, der sechs Wochen keinen warmen Löffel mehr zum Munde geführt hat.“// ((Heinrichs S. 26)) Diese Methode funktioniert so gut, daß Heinrichs und sein Gefährte oft dreimal täglich zu Mittag gegessen haben; ähnliches berichten andere Kunden. Wer Geld hatte, aß in der Herberge zur Heimat ((Als Herberge zur Heimat wurden die christlichen Herbergen bezeichnet)). Wer keines hatte, bekam ein, zwei Tage lang, je nach Gemeindeordnung, Gutscheine, die er dann in der Herberge zur Heimat einlösen konnte, aber die Qualität der Wandererfürsorge ließ zu wünschen übrig:// „Denn abgesehen von sogenanntem Kaffee und trockenem Brot (»Hanf« oder »Lechum«) enthält die Wandererfürsorge-Speisekarte fast ausschließlich weiter nichts als immer und immer nur dünne, fettlose Suppen, gekochte Kartoffeln und minderwertige Wurst (»Unvernunft«).“// ((Karl Roltsch „Von unterwegs“, in: Trappmann, S. 135)) Gab auch das nichts mehr her, so konnte man sich an die Klöster wenden, für die die Armenspeisung eine Pflicht war. Angenehm war das oft nicht: //„Vor uns stand im Vorraum eine mächtige Schüssel mit Suppe. Fleischstücke und Brot schwammen darin. Sogar ein paar Fettaugen. ... Die Kunden fraßen. Mit einer tierischen Gier beugten sie sich über die große Schüssel. Die Suppe lief vom Maule wieder zurück in die Schale. Die Kunden fraßen. Denn sie mußten noch in zwei anderen Klöstern fressen. Zwar konnten sie in einem satt werden, aber wie kann der Kunde dem anderen etwas schenken, etwas selbst nicht mitnehmen, das er bekommen kann. Der Kunde frißt, wenn er hungert. Der Kunde frißt, wenn er satt ist. Ich war hungrig, doch mich ekelte.“// ((Pfarre, S. 32))\\ 
 Schroeder berichtet ähnliches: Er erhält in einem Dorf von einem Metzger eine Suppe vorgesetzt, nachdem er an dessen Türe betttelte:// „Ein beißender Dunst reizt die Kehle, scharf und sauer ... Aber der Geruch ekelt mich nicht, nein; die weißen, geringelten Madenwürmer sind es, die da herumschwimmen, wenn man den Brei rührt. ... Ich dränge die Würmer an den Tellerrand und versuche einen Löffel Suppe hinunterzuschlucken. Der Rachen brennt. Der Gaumen zieht sich zusammen! Wir werfen unsere Stühle rückwärts, reißen die Ladentüre auf und laufen, was gibts du, was hast du. ... Wir wagen nicht mehr zu betteln.“// ((Schroeder, S. 65)) Das war dann wohl auch der Zweck der Übung. Im übrigen focht man um Brot und war stark von Jahreszeit und Gegend abhängig: Im Allgäu schwelgen die Kunden im Käse, am Bodensee in Äpfeln und Pflaumen. Den Hering nennen sie Schwimmling, Eiher heißen Beza, gewöhnliche Leberwurst wird zu Granit, das Verbandsbuch deutet die Schnapsflasche an. Pfarre ißt in Italien Polenta, Reissuppe und andere Köstlichkeiten. Schroeder berichtet ähnliches: Er erhält in einem Dorf von einem Metzger eine Suppe vorgesetzt, nachdem er an dessen Türe betttelte:// „Ein beißender Dunst reizt die Kehle, scharf und sauer ... Aber der Geruch ekelt mich nicht, nein; die weißen, geringelten Madenwürmer sind es, die da herumschwimmen, wenn man den Brei rührt. ... Ich dränge die Würmer an den Tellerrand und versuche einen Löffel Suppe hinunterzuschlucken. Der Rachen brennt. Der Gaumen zieht sich zusammen! Wir werfen unsere Stühle rückwärts, reißen die Ladentüre auf und laufen, was gibts du, was hast du. ... Wir wagen nicht mehr zu betteln.“// ((Schroeder, S. 65)) Das war dann wohl auch der Zweck der Übung. Im übrigen focht man um Brot und war stark von Jahreszeit und Gegend abhängig: Im Allgäu schwelgen die Kunden im Käse, am Bodensee in Äpfeln und Pflaumen. Den Hering nennen sie Schwimmling, Eiher heißen Beza, gewöhnliche Leberwurst wird zu Granit, das Verbandsbuch deutet die Schnapsflasche an. Pfarre ißt in Italien Polenta, Reissuppe und andere Köstlichkeiten.
 ==== Die Kundenpennen ==== ==== Die Kundenpennen ====
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 Die größten Ausgaben entstanden für die Unterkunft, die Penne ((Die Penne kann sowohl eine Schlafstelle als auch eine Herberge, ein Gasthaus, ein Nachtquartier bezeichnen. Ein anderer Name dafür ist `Nest´.)). Schroeder findet sein Unterkommen einmal in Solingen bei der Heilsarmee, eine Goldmark kostet die Übernachtung, das ist teuer. Dreizehn Betten stehen im Raum, sind sauber bezogen, und ein Spind gehört dazu. ((Schroeder, S. 40 f.)) Später, auf der Walz und ohne Geld, erfährt er erst nach einigen Nächten im Freien (»Platte reißen«), daß jedes Dorf ihm eine Unterkunft geben muß. Beim Magistrat gibt's einen Gutschein, den er im Gasthaus einlösen kann. In anderen Dörfern wurde man einem Einwohner zugeteilt, der eine Nacht für einen zu sorgen hatte oder Unterstützungsvereine betrieben Heime.\\  Die größten Ausgaben entstanden für die Unterkunft, die Penne ((Die Penne kann sowohl eine Schlafstelle als auch eine Herberge, ein Gasthaus, ein Nachtquartier bezeichnen. Ein anderer Name dafür ist `Nest´.)). Schroeder findet sein Unterkommen einmal in Solingen bei der Heilsarmee, eine Goldmark kostet die Übernachtung, das ist teuer. Dreizehn Betten stehen im Raum, sind sauber bezogen, und ein Spind gehört dazu. ((Schroeder, S. 40 f.)) Später, auf der Walz und ohne Geld, erfährt er erst nach einigen Nächten im Freien (»Platte reißen«), daß jedes Dorf ihm eine Unterkunft geben muß. Beim Magistrat gibt's einen Gutschein, den er im Gasthaus einlösen kann. In anderen Dörfern wurde man einem Einwohner zugeteilt, der eine Nacht für einen zu sorgen hatte oder Unterstützungsvereine betrieben Heime.\\ 
 Andere Übernachtungsstellen findet er bei Mutter Grün ((Im Freien übernachten hieß „bei Mutter Grün“ oder „bei der grünen Bettfrau“, Schroeder, S. 213 u. Wolf)): mal im Wald, auch bei Schnee, im freien Feld, in einer Scheune, im Spritzenschuppen der Feuerwehr, in einer Kaserne, in einer Polizeizelle ... Da die Handwerksburschen immer nur 24 Stunden an einem Ort bleiben dürfen, muß das Problem Unterkunft täglich neu gelöst werden - ein Ausruhen gibt es nur am Sonntag, und auch dann nicht immer. Wer kein Geld mehr hatte, konnte bei der Polizei in einer Arrestzelle übernachten, doch sogar dafür kassierten die noch einige Groschen. Dann, in der kalten Jahreszeit, war es geraten, krank zu werden, um recht lange in einem warmen Krankenhaus gut verpflegt zu werden. Schroeder gibt fünf Zigaretten, um mit dem Handrücken über den von der Krätze befallenen Handrücken eines Speckjägers ((Als Speckjäger werden alte Kunden bezeichnet, die ihr ganzes Leben auf der Landstraße verbracht haben)) zu streichen, in der Hoffnung, sich ebenfalls zu infizieren. Die Methode gelingt: einige Dörfer weiter gibt es dann zum ersten Mal Geld für eine Fahrkarte zum nächsten Krankenhaus. Bevor man wirklich ins Krankenhaus geht, lassen sich noch einige Gemeinden schröpfen.\\  Andere Übernachtungsstellen findet er bei Mutter Grün ((Im Freien übernachten hieß „bei Mutter Grün“ oder „bei der grünen Bettfrau“, Schroeder, S. 213 u. Wolf)): mal im Wald, auch bei Schnee, im freien Feld, in einer Scheune, im Spritzenschuppen der Feuerwehr, in einer Kaserne, in einer Polizeizelle ... Da die Handwerksburschen immer nur 24 Stunden an einem Ort bleiben dürfen, muß das Problem Unterkunft täglich neu gelöst werden - ein Ausruhen gibt es nur am Sonntag, und auch dann nicht immer. Wer kein Geld mehr hatte, konnte bei der Polizei in einer Arrestzelle übernachten, doch sogar dafür kassierten die noch einige Groschen. Dann, in der kalten Jahreszeit, war es geraten, krank zu werden, um recht lange in einem warmen Krankenhaus gut verpflegt zu werden. Schroeder gibt fünf Zigaretten, um mit dem Handrücken über den von der Krätze befallenen Handrücken eines Speckjägers ((Als Speckjäger werden alte Kunden bezeichnet, die ihr ganzes Leben auf der Landstraße verbracht haben)) zu streichen, in der Hoffnung, sich ebenfalls zu infizieren. Die Methode gelingt: einige Dörfer weiter gibt es dann zum ersten Mal Geld für eine Fahrkarte zum nächsten Krankenhaus. Bevor man wirklich ins Krankenhaus geht, lassen sich noch einige Gemeinden schröpfen.\\ 
-Winnig erzählt von einer Zunftherberge, die von den Innungen der Stadt subventioniert wurde, und lobt sie in höchsten Tönen: sie war sauber, das Essen gut, der Wirt höflich, jede Zunft hatte einen eigenen Tisch, über dem das Erkennungszeichen der Zunft hing und der Preis war außerordentlich niedrig. So etwas war selten genug. Außen zeigten vier Schilder, daß dies die Gewerkherberge der Maurer, Zimmerer, Schneider und Sattler sei, wer eintreten wollte, mußte dies entsprechend den Regeln tun: //„Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.“// Nach dem Eintreten und als er den Wirt an seiner blauen Schürze erkennt, grüßt er: //„Mit Gunst und Erlaubnis!“// ((Winnig, S. 20)) Das Herbergsleben ist reglementiert: //„Der Wirt ging in seinen Verschlag, öffnete das Schiebefenster und nahm mir Stock und Ranzen ab, besah meine Papiere, legte sie in eine Lade und machte mich mit der Hausordnung bekannt. Um neun werde die Haustüre geschlossen, um zehn das Licht gelöscht, um sieben aufgestanden. Er sah mich noch einmal und genauer als zuvor an und meinte, ich sei wohl sauber ...“// ((Winnig, S. 21)) Papiere und Ranzen werden dem Herbergsvater übergeben. Neben den Zimmern werden auch Tische und Bänke in der Gaststube zum Schlafen genutzt, im Notfall wird zusätzlich Stroh aufgeschüttet. Abends gibt es saures Schweinefleisch oder Gulasch, Bier und Branntwein, das Essen kostete nur 32 Pfennige. Morgens stand warmes Wasser bereit; sich ausgiebig zu waschen, war kein Problem.\\ +Winnig erzählt von einer Zunftherberge, die von den Innungen der Stadt subventioniert wurde, und lobt sie in höchsten Tönen: sie war sauber, das Essen gut, der Wirt höflich, jede Zunft hatte einen eigenen Tisch, über dem das Erkennungszeichen der Zunft hing und der Preis war außerordentlich niedrig. So etwas war selten genug. Außen zeigten vier Schilder, daß dies die Gewerkherberge der Maurer, Zimmerer, Schneider und Sattler sei, wer eintreten wollte, mußte dies entsprechend den Regeln tun: //„Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.“// Nach dem Eintreten und als er den Wirt an seiner blauen Schürze erkennt, grüßt er: //„Mit Gunst und Erlaubnis!“// ((Winnig, S. 20)) Das Herbergsleben ist reglementiert: //„Der Wirt ging in seinen Verschlag, öffnete das Schiebefenster und nahm mir [[wiki:stab|Stock]] und [[wiki:ranzen|Ranzen]] ab, besah meine [[wiki:dokumente|Papiere]], legte sie in eine Lade und machte mich mit der Hausordnung bekannt. Um neun werde die Haustüre geschlossen, um zehn das Licht gelöscht, um sieben aufgestanden. Er sah mich noch einmal und genauer als zuvor an und meinte, ich sei wohl sauber ...“// ((Winnig, S. 21)) Papiere und Ranzen werden dem Herbergsvater übergeben. Neben den Zimmern werden auch Tische und Bänke in der Gaststube zum Schlafen genutzt, im Notfall wird zusätzlich Stroh aufgeschüttet. Abends gibt es saures Schweinefleisch oder Gulasch, Bier und Branntwein, das Essen kostete nur 32 Pfennige. Morgens stand warmes Wasser bereit; sich ausgiebig zu waschen, war kein Problem.\\ 
 Deutlich wird aber, daß solche Herbergen die Ausnahme waren. Roltsch erzählt:// „Wohl traf ich auf meiner Wanderung ganz gute Obdachlosenasyle, wie in Berlin, Chemnitz und Nürnberg an (von Hamburg, Köln, Frankfurt/Main will ich lieber schweigen), wohl auch einige Herbergen zur Heimat, in denen man sich wirklich heimisch fühlen konnte, wie in Soest, Glauchau, Erlangen - aber im großen und ganzen erblickte ich, wohin ich schaute, Unsauberkeit und Unwirtlichkeit. Diese Pennen, wie besonders die sogenannten wilden ... sind ... die Verbreitungsherde aller möglichen ansteckenden Krankheiten und Seuchen.“// ((Roltsch „Von unterwegs“, in: Trappmann, S. 135)) Jeder Kunde, der dort übernachten will, wird abends abgebient (»entlaust«).\\  Deutlich wird aber, daß solche Herbergen die Ausnahme waren. Roltsch erzählt:// „Wohl traf ich auf meiner Wanderung ganz gute Obdachlosenasyle, wie in Berlin, Chemnitz und Nürnberg an (von Hamburg, Köln, Frankfurt/Main will ich lieber schweigen), wohl auch einige Herbergen zur Heimat, in denen man sich wirklich heimisch fühlen konnte, wie in Soest, Glauchau, Erlangen - aber im großen und ganzen erblickte ich, wohin ich schaute, Unsauberkeit und Unwirtlichkeit. Diese Pennen, wie besonders die sogenannten wilden ... sind ... die Verbreitungsherde aller möglichen ansteckenden Krankheiten und Seuchen.“// ((Roltsch „Von unterwegs“, in: Trappmann, S. 135)) Jeder Kunde, der dort übernachten will, wird abends abgebient (»entlaust«).\\ 
 Eine wichtige Rolle spielen für Heinrichs die Unterkünfte des katholischen Gesellenvereins: //"Erst auf meiner mühevollen Reise habe ich diese großartige Einrichtung kennen gelernt. ... Wie oft kam es nicht vor, daß ich abends ermüdet, ermattet, durchnäßt, ja oft mittellos in einer fremden Stadt ankam. Zeigte mir dann mein "Wanderbüchlein" die frohe Botschaft an, daß die Stadt der Sitz eines katholischen Gesellenvereins war, so wußte ich sofort, wohin ich meine Schritte zu lenken hatte."// ((Heinrichs, S. 11)) Dort gab es dreimal täglich Essen und eine Übernachtung umsonst: //„Doch das Zahlgeld brauchte nicht aus der Börse geholt zu werden, es bestand in einem einfachen Dank an den Hausmeister und in dem schlichten, aber schönen Abschiedsgruße: Gott segne das ehrbare Handwerk.“ ((Heinrichs, S. 17))// ((Durch den richtigen Gruß identifizierten sich fremde Gesellen, zum Beispiel die Schuster: „Guten Tag! Gott ehre das Reich, Gott ehre das Handwerk, das Gelage und die Bruderschaft. Gott ehre den Herr Vater, die Frau Mutter, Brüder und Schwestern und alle ehrbaren frommen Schusterknechte, wie sie versammelt sein, sei gleich, ob hier und anderswo.“ zit. nach Völger, S. 37)) Die Gesellenvereine findet er in Österreich und Ungarn bis nach Dunaföldvar an der serbischen Grenze, dann gibt es sie erst wieder in Rom und in der Schweiz. Für Protestanten wie Pfarre waren die katholischen Gesellenvereine geschlossen.\\  Eine wichtige Rolle spielen für Heinrichs die Unterkünfte des katholischen Gesellenvereins: //"Erst auf meiner mühevollen Reise habe ich diese großartige Einrichtung kennen gelernt. ... Wie oft kam es nicht vor, daß ich abends ermüdet, ermattet, durchnäßt, ja oft mittellos in einer fremden Stadt ankam. Zeigte mir dann mein "Wanderbüchlein" die frohe Botschaft an, daß die Stadt der Sitz eines katholischen Gesellenvereins war, so wußte ich sofort, wohin ich meine Schritte zu lenken hatte."// ((Heinrichs, S. 11)) Dort gab es dreimal täglich Essen und eine Übernachtung umsonst: //„Doch das Zahlgeld brauchte nicht aus der Börse geholt zu werden, es bestand in einem einfachen Dank an den Hausmeister und in dem schlichten, aber schönen Abschiedsgruße: Gott segne das ehrbare Handwerk.“ ((Heinrichs, S. 17))// ((Durch den richtigen Gruß identifizierten sich fremde Gesellen, zum Beispiel die Schuster: „Guten Tag! Gott ehre das Reich, Gott ehre das Handwerk, das Gelage und die Bruderschaft. Gott ehre den Herr Vater, die Frau Mutter, Brüder und Schwestern und alle ehrbaren frommen Schusterknechte, wie sie versammelt sein, sei gleich, ob hier und anderswo.“ zit. nach Völger, S. 37)) Die Gesellenvereine findet er in Österreich und Ungarn bis nach Dunaföldvar an der serbischen Grenze, dann gibt es sie erst wieder in Rom und in der Schweiz. Für Protestanten wie Pfarre waren die katholischen Gesellenvereine geschlossen.\\ 
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 ==== In Trittlingen unterwegs ==== ==== In Trittlingen unterwegs ====
  
-Die Fußreise war ein Privileg der Unterschichten, ihr Verkehrsmittel war der Trittling ((Stiefel)); sie wurden geringgeschätzt ((Bausinger, S. 173)); besonders schlechte Erfahrungen machte Pfarre in Italien, dort schlägt ihm oft Verachtung entgegen. Hin und wieder sind andere Beförderungsmittel nötig. So versucht sich Heinrichs, krank, zwei Stunden an der Gotthardstraße, kehrt erschöpft um und nimmt die Gotthardbahn:// „Hier besteht nun die hochlöbliche Einrichtung, einem jeden Handwerksburschen, der von Italien kommt und nach Deutschland will, eine Freikarte für die Gotthardbahn zur Verfügung zu stellen. ... Doch welch eintönige Fahrt! 15 Kilometer ohne auch nur die Felsen zu sehen, die einen umgeben ...“// ((Heinrichs, S. 308))\\ +Die Fußreise war ein Privileg der Unterschichten, ihr Verkehrsmittel war der Trittling ((Stiefel)); sie wurden geringgeschätzt ((Bausinger, S. 173)); besonders schlechte Erfahrungen machte Pfarre in Italien, dort schlägt ihm oft Verachtung entgegen. Hin und wieder sind andere Beförderungsmittel nötig. So versucht sich Heinrichs, krank, zwei Stunden an der Gotthardstraße, kehrt erschöpft um und nimmt die Gotthardbahn:// „Hier besteht nun die hochlöbliche Einrichtung, einem jeden Handwerksburschen, der von Italien kommt und nach Deutschland will, eine Freikarte für die Gotthardbahn zur Verfügung zu stellen. ... Doch welch eintönige [[wiki:fahrt|Fahrt]]! 15 Kilometer ohne auch nur die Felsen zu sehen, die einen umgeben ...“// ((Heinrichs, S. 308))\\ 
 Ein alter Kunde erklärt Winnig in einer Bremerhavener Herberge, wie man nach Jerusalem gelangt: //„In Genua mußt du zum Hafen gehen und ausmachen, ob ein Schiff nach Alexandria fährt. ... Dann gehst du abends spät die Hafentreppe hinunter, springst leise ins Wasser und schwimmst nach dem Schiff. Du mußt dir das Schiff aber vorher angesehen haben und wissen, wo das Fallreep ist, denn am Fallreep mußt du in die Höhe klettern. Und oben mußt du dich verstecken. Dann mußt du warten, bis das Schiff auf hoher See ist. Das kann lange dauern, aber du mußt es aushalten, du darfst dich nicht eher blicken lassen. Wenn sie dich sehen, solange noch Land in der Nähe ist, geben sie ein Signal, und dann kommt ein Polizeiboot und holt dich weg. Wenn du aber aushältst, kommst du ohne Geld hinüber; sie geben dir ein paar Maulschellen, aber auch zu essen, und dann tust du, was sie dir sagen. Und du mußt willig sein und immer springen, wenn sie dich rufen oder schicken. Wenn du faul bist, setzen sie dich unterwegs an Land ...“// ((Winnig, S. 137))\\ Ein alter Kunde erklärt Winnig in einer Bremerhavener Herberge, wie man nach Jerusalem gelangt: //„In Genua mußt du zum Hafen gehen und ausmachen, ob ein Schiff nach Alexandria fährt. ... Dann gehst du abends spät die Hafentreppe hinunter, springst leise ins Wasser und schwimmst nach dem Schiff. Du mußt dir das Schiff aber vorher angesehen haben und wissen, wo das Fallreep ist, denn am Fallreep mußt du in die Höhe klettern. Und oben mußt du dich verstecken. Dann mußt du warten, bis das Schiff auf hoher See ist. Das kann lange dauern, aber du mußt es aushalten, du darfst dich nicht eher blicken lassen. Wenn sie dich sehen, solange noch Land in der Nähe ist, geben sie ein Signal, und dann kommt ein Polizeiboot und holt dich weg. Wenn du aber aushältst, kommst du ohne Geld hinüber; sie geben dir ein paar Maulschellen, aber auch zu essen, und dann tust du, was sie dir sagen. Und du mußt willig sein und immer springen, wenn sie dich rufen oder schicken. Wenn du faul bist, setzen sie dich unterwegs an Land ...“// ((Winnig, S. 137))\\
 Drei Monate hatte jener Kunde auf ein passendes Schiff gewartet. Hasemann geht direkter vor: //„Eine Stunde vor Abfahrt an Bord, hatte mir mal ein Kunde gesagt, dann in den Kohlenkasten oder Segelkajüte, bestimmtes Auftreten; wenn dir der Kapitän begegnet, nach dem Koch fragen!“// ((Hasemann, S. 190 f.)) Winnig setzt sich im allgemeinen kleine Tagesziele, selten fünf Meilen oder mehr und veranschlagt dafür eine Mark für Unterkunft und Essen. Bei fünf Meilen und mehr rechnet er eine weitere Mahlzeit, dann wird es teurer. ((Winnig, S. 169)) Fast zwei Jahre ist er so unterwegs, von Norddeutschland zum Bodensee, also eher gemütlich. In der gleichen Zeit tippelt Heinrichs nach Jerusalem und zurück, 15.000 Kilometer in 455 Reisetagen, das macht einen Schnitt von mehr als 30 Kilometern pro Tag mit Spitzen von 60, 70 Kilometern und alles mit großem Gepäck (20-40 kg).\\  Drei Monate hatte jener Kunde auf ein passendes Schiff gewartet. Hasemann geht direkter vor: //„Eine Stunde vor Abfahrt an Bord, hatte mir mal ein Kunde gesagt, dann in den Kohlenkasten oder Segelkajüte, bestimmtes Auftreten; wenn dir der Kapitän begegnet, nach dem Koch fragen!“// ((Hasemann, S. 190 f.)) Winnig setzt sich im allgemeinen kleine Tagesziele, selten fünf Meilen oder mehr und veranschlagt dafür eine Mark für Unterkunft und Essen. Bei fünf Meilen und mehr rechnet er eine weitere Mahlzeit, dann wird es teurer. ((Winnig, S. 169)) Fast zwei Jahre ist er so unterwegs, von Norddeutschland zum Bodensee, also eher gemütlich. In der gleichen Zeit tippelt Heinrichs nach Jerusalem und zurück, 15.000 Kilometer in 455 Reisetagen, das macht einen Schnitt von mehr als 30 Kilometern pro Tag mit Spitzen von 60, 70 Kilometern und alles mit großem Gepäck (20-40 kg).\\ 
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 Gern zogen die Handwerksburschen im 19. Jahrhundert nach Frankreich, Italien, Österreich. Es gab dort weniger Grenzen als in den Fürstentümern Deutschlands.// „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden. Das unaufhörliche Passieren von Schlagbäumen, und das Durchschnüffeln des Wanderbuches von Constablern und Stadtsoldaten aller Art ist mit viel Verdruß verbunden und lästig genug für einen ordentlichen Gesellen, der nichts will, als sich in der Welt umsehen und sein Metier tüchtig erlernen.“// ((Hoffmann, S. 81))\\  Gern zogen die Handwerksburschen im 19. Jahrhundert nach Frankreich, Italien, Österreich. Es gab dort weniger Grenzen als in den Fürstentümern Deutschlands.// „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden. Das unaufhörliche Passieren von Schlagbäumen, und das Durchschnüffeln des Wanderbuches von Constablern und Stadtsoldaten aller Art ist mit viel Verdruß verbunden und lästig genug für einen ordentlichen Gesellen, der nichts will, als sich in der Welt umsehen und sein Metier tüchtig erlernen.“// ((Hoffmann, S. 81))\\ 
 Ab 1839 reisten die Gesellen auch vermehrt in den nahen Osten. ((Der türkische Sultan Mahmud II. und sein Nachfolger öffneten ab 1839 die Grenzen vermehrt dem Westen.)) Dabei stand sicher nicht die handwerkliche Fortbildung in Palästina im Vordergrund, eher Abenteuerlust. Das Motiv der Pilgerschaft und der Glaube, auf der Wanderschaft durch Gott beschützt zu sein, verbanden sich mit der Idee der Walz. Später baute sogar das preußische Konsulat in Jerusalem eine eigene Gesellenherberge. Etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf. \\  Ab 1839 reisten die Gesellen auch vermehrt in den nahen Osten. ((Der türkische Sultan Mahmud II. und sein Nachfolger öffneten ab 1839 die Grenzen vermehrt dem Westen.)) Dabei stand sicher nicht die handwerkliche Fortbildung in Palästina im Vordergrund, eher Abenteuerlust. Das Motiv der Pilgerschaft und der Glaube, auf der Wanderschaft durch Gott beschützt zu sein, verbanden sich mit der Idee der Walz. Später baute sogar das preußische Konsulat in Jerusalem eine eigene Gesellenherberge. Etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf. \\ 
-Die Mehrzahl der Wanderer jedoch blieb in Deutschland, denn man brauchte einen Paß, um die Grenze (offiziell) zu passieren. //„Alte Kunden hielten sich an einen bestimmten Landstrich, in dem sie mit Art und Brauch der Bewohner vertraut waren, die Wege und die Herbergen, die guten und die schlechten Orte, die Gendarmen und die Gefängnisse kannten. Diesen Landstrich, der selten über die Grenzen einer Provinz hinausgriff, verließen sie nicht oder nur notgedrungen, etwa wenn ihnen eine hohe Bettelstrafe drohte. Weder junge Wanderburschen noch alte Kunden wichen dem Wetter aus, sie kürzten die täglichen Wege, aber sie zogen morgens ab. Der Krankheit gaben wohl junge Burschen nach, aber nicht die alten Reisläufer ((Reisläufer ist hier in übertragenem Sinne zu verstehen. Der Begriff meint ursprünglich junge Burschen (meist Schweizer), die sich ab dem 15. Jahrhundert zusammenschlossen, um in anderen Ländern Kriegsdienste zu leisten. Diese umherziehenden Gruppen wurden Reiseläufer oder Reisläufer genannt. [Grimms Wörterbuch])) der Landstraße, ich habe nie gehört, daß einer in der Herberge krank zurückgeblieben oder ins Krankenhaus geschafft worden sei; sie wanderten auch dann, wenn sie den [[wiki:grenze_zwischen_leben_und_tod|Tod]] in den Knochen fühlten, und suchten sich lieber draußen einen geschützten Winkel zum Sterben, als daß sie sich in Menschenhände gegeben hätten.“// ((Winnig, S. 164 f.)) Winnig schreibt diese Gedanken angesichts eines eisigen Winters nieder, in dem er draußen auf der Landstraße selber viel gefroren hat und zudem einen toten Kunden im Schutz einer Feldscheune fand.\\ +Die Mehrzahl der Wanderer jedoch blieb in Deutschland, denn man brauchte einen Paß, um die Grenze (offiziell) zu passieren. //„Alte Kunden hielten sich an einen bestimmten Landstrich, in dem sie mit Art und Brauch der Bewohner vertraut waren, die Wege und die Herbergen, die guten und die schlechten Orte, die Gendarmen und die Gefängnisse kannten. Diesen Landstrich, der selten über die Grenzen einer Provinz hinausgriff, verließen sie nicht oder nur notgedrungen, etwa wenn ihnen eine hohe Bettelstrafe drohte. Weder junge Wanderburschen noch alte Kunden wichen dem Wetter aus, sie kürzten die täglichen Wege, aber sie zogen morgens ab. Der Krankheit gaben wohl junge Burschen nach, aber nicht die alten Reisläufer ((Reisläufer ist hier in übertragenem Sinne zu verstehen. Der [[wiki:begriff|Begriff]] meint ursprünglich junge Burschen (meist Schweizer), die sich ab dem 15. Jahrhundert zusammenschlossen, um in anderen Ländern Kriegsdienste zu leisten. Diese umherziehenden Gruppen wurden Reiseläufer oder Reisläufer genannt. [Grimms Wörterbuch])) der Landstraße, ich habe nie gehört, daß einer in der Herberge krank zurückgeblieben oder ins Krankenhaus geschafft worden sei; sie wanderten auch dann, wenn sie den [[wiki:grenze_zwischen_leben_und_tod|Tod]] in den Knochen fühlten, und suchten sich lieber draußen einen geschützten Winkel zum Sterben, als daß sie sich in Menschenhände gegeben hätten.“// ((Winnig, S. 164 f.)) Winnig schreibt diese Gedanken angesichts eines eisigen Winters nieder, in dem er draußen auf der Landstraße selber viel gefroren hat und zudem einen toten Kunden im Schutz einer Feldscheune fand.\\ 
 Da das fahrende Volk auch weit hinter den Grenzen oft kontrolliert wurde, fiel man früher oder später auf, wenn man ohne Paß im Ausland war. Heinrichs schildert einen solchen Fall: //„Kaum eine Stunde waren wir von Deutschlands Grenzen entfernt. ... Plötzlich standen ... zwei dieser gefürchteten Beamten vor uns. Wieder hieß es kurz: `Papier vorzeigen.´ Wiederum konnte ich ungefährdet weiterziehen, aber mein treuer Kamerad? [Ihm] wurde der Schub prophezeit, das heißt, er würde vom nächsten Orte per Bahn zur Grenze befördert werden.“// ((Heinrichs, S. 55 f.))\\  Da das fahrende Volk auch weit hinter den Grenzen oft kontrolliert wurde, fiel man früher oder später auf, wenn man ohne Paß im Ausland war. Heinrichs schildert einen solchen Fall: //„Kaum eine Stunde waren wir von Deutschlands Grenzen entfernt. ... Plötzlich standen ... zwei dieser gefürchteten Beamten vor uns. Wieder hieß es kurz: `Papier vorzeigen.´ Wiederum konnte ich ungefährdet weiterziehen, aber mein treuer Kamerad? [Ihm] wurde der Schub prophezeit, das heißt, er würde vom nächsten Orte per Bahn zur Grenze befördert werden.“// ((Heinrichs, S. 55 f.))\\ 
 Schroeder trifft häufig Kunden, an bestimmten Orten tummeln sie sich, beispielsweise in Lindau. Ihre Reiseziele sind Hamburg, Pommern, Wien. Weit- und Fernreisende waren damals die Ausnahme, doch es gab sie. Er trifft zwei, die durch den Balkan in die Türkei wollen: //„Diese Tour hatten sie mir so verlockend geschildert, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich mit ihnen getigert. Doch solange ich Deutschland nicht kenne, nicht ganz angesehen habe, weiß ich nicht, was ich in anderen Ländern suchen soll.“// ((Schroeder, S. 152)) Dann trifft er einen alten Speckjäger, der seit 34 Jahren, also seit 1889, auf der Landstraße ist: //„Er kennt Indien, war fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion, machte als Tramp siebenmal von Newyork nach San Francisco, einmal die große Büffelstraße, und hat nachher von der Landstraße einfach nicht mehr weggekonnt, sie hat ihn festgehalten.“// ((Schroeder, S. 245))\\  Schroeder trifft häufig Kunden, an bestimmten Orten tummeln sie sich, beispielsweise in Lindau. Ihre Reiseziele sind Hamburg, Pommern, Wien. Weit- und Fernreisende waren damals die Ausnahme, doch es gab sie. Er trifft zwei, die durch den Balkan in die Türkei wollen: //„Diese Tour hatten sie mir so verlockend geschildert, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich mit ihnen getigert. Doch solange ich Deutschland nicht kenne, nicht ganz angesehen habe, weiß ich nicht, was ich in anderen Ländern suchen soll.“// ((Schroeder, S. 152)) Dann trifft er einen alten Speckjäger, der seit 34 Jahren, also seit 1889, auf der Landstraße ist: //„Er kennt Indien, war fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion, machte als Tramp siebenmal von Newyork nach San Francisco, einmal die große Büffelstraße, und hat nachher von der Landstraße einfach nicht mehr weggekonnt, sie hat ihn festgehalten.“// ((Schroeder, S. 245))\\ 
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 Alfred Pfarre ist es ein besonderes Bedürfnis, in Gesellschaft zu sein und kaum einmal reist er alleine. Auch in Italien trifft er immer wieder auf Gesellen, Kunden, Vagabunden. In Venedig den Luxemburger Journalisten Matthias Kientgen und einen badischen Gymnasiasten namens Wilhelm, einen dänischer Gärtner, einen deutschen Maler, dessen Freundin Helene Weil, den Sibirier, den Kanadier, den Russen, den großen Josef, den Heiland, einen Kundenphilosophen. In Rom findet er eine große Anzahl Kunden, die es sich dort heimisch gemacht haben, teilweise wohnen sie in den Katakomben, nicht so viele Kunden treiben sich in Neapel herum. Nur einmal trifft er in den vielen Monaten einen französischen Kunden, andere Nationalitäten sind etwas häufiger vertreten, doch die meisten sind Deutsche, sie sind oft //„...eine ganze Gruppe Heimatloser ..., Kunden, versumpfte Künstler, abgemusterte und weggelaufene Seeleute aus aller Herren Länder ... einen alten Speckjäger ... den kleinen buckligen Michael.“// \\  Alfred Pfarre ist es ein besonderes Bedürfnis, in Gesellschaft zu sein und kaum einmal reist er alleine. Auch in Italien trifft er immer wieder auf Gesellen, Kunden, Vagabunden. In Venedig den Luxemburger Journalisten Matthias Kientgen und einen badischen Gymnasiasten namens Wilhelm, einen dänischer Gärtner, einen deutschen Maler, dessen Freundin Helene Weil, den Sibirier, den Kanadier, den Russen, den großen Josef, den Heiland, einen Kundenphilosophen. In Rom findet er eine große Anzahl Kunden, die es sich dort heimisch gemacht haben, teilweise wohnen sie in den Katakomben, nicht so viele Kunden treiben sich in Neapel herum. Nur einmal trifft er in den vielen Monaten einen französischen Kunden, andere Nationalitäten sind etwas häufiger vertreten, doch die meisten sind Deutsche, sie sind oft //„...eine ganze Gruppe Heimatloser ..., Kunden, versumpfte Künstler, abgemusterte und weggelaufene Seeleute aus aller Herren Länder ... einen alten Speckjäger ... den kleinen buckligen Michael.“// \\ 
 Der Kontakt zu anderen war so ausgeprägt, wie man es wünschte. Im Gegensatz zu Schroeder, der fast nie allein war und Gruppen bevorzugte, floh Winnig die Gesellschaft der Handwerksburschen und Kunden: //„Ein halber Tag in Gesellschaft gewandert war eine willkommene Abwechslung, aber danach nahm ich mir wieder meine [[wiki:freiheit|Freiheit]], die Freiheit des Wanderns und Rastens und die Freiheit der Gedanken.“// ((Winnig, S. 244)) Interessant ist eine hingeworfene Bemerkung Winnigs, als ihm in der Rüdesheimer Herberge ein Fremder auffällt:// „...er war zwar wandermäßig angezogen, aber in der Art vornehmer Leute ... daß ich ihn für einen Touristen hielt, der hier die Gelegenheit zu sozialen Studien wahrnahm, wozu sich manche Leute damals bewogen fühlten, nachdem Pastor Göhre drei Monate Fabrikarbeiter gewesen war und ein Buch darüber geschrieben hatte.“// ((Winnig, S. 248))\\  Der Kontakt zu anderen war so ausgeprägt, wie man es wünschte. Im Gegensatz zu Schroeder, der fast nie allein war und Gruppen bevorzugte, floh Winnig die Gesellschaft der Handwerksburschen und Kunden: //„Ein halber Tag in Gesellschaft gewandert war eine willkommene Abwechslung, aber danach nahm ich mir wieder meine [[wiki:freiheit|Freiheit]], die Freiheit des Wanderns und Rastens und die Freiheit der Gedanken.“// ((Winnig, S. 244)) Interessant ist eine hingeworfene Bemerkung Winnigs, als ihm in der Rüdesheimer Herberge ein Fremder auffällt:// „...er war zwar wandermäßig angezogen, aber in der Art vornehmer Leute ... daß ich ihn für einen Touristen hielt, der hier die Gelegenheit zu sozialen Studien wahrnahm, wozu sich manche Leute damals bewogen fühlten, nachdem Pastor Göhre drei Monate Fabrikarbeiter gewesen war und ein Buch darüber geschrieben hatte.“// ((Winnig, S. 248))\\ 
-Gemeinsam wurde die Zeit kürzer, man konnte sich unterhalten, hatte jemanden, dem man vertrauen konnte, ein Stück Heimat in der Fremde. Heinrichs und Pfarre finden richtige Freunde auf der Landstraße, Menschen, die ihnen viel bedeuten und von denen sie sich nur schwer trennen; Winnig dagegen fühlte sich nahezu immer unter Fremden. Kam eine Gruppe von mehreren Kunden in einen Ort, so teilte man ein, wer in welchem Haus zu fechten hatte. Hinter dem Dorf wurde zusammengeworfen und gerecht geteilt. Schroeder wird einmal unterwegs sehr krank und ohne die Kunden, die er eben erst getroffen hatte, wäre er am Wegesrand liegengeblieben: //„Jetzt weiß ich, was Kameradschaft ist. Wohl steht man dem Bruder näher, man tut etwas für ihn, weil er zur Familie gehört, man hintergeht ihn auch nicht, was man vielleicht bei einem fremden Menschen tun würde ... Beim Kameraden aber kommen solche Gedanken noch nicht einmal auf. Wahre Kameradschaft zerschmettert die Hölle!“// ((Schroeder, S. 212))\\ +Gemeinsam wurde die Zeit kürzer, man konnte sich unterhalten, hatte jemanden, dem man *[[wiki:vertrauen|vertrauen]] konnte, ein Stück Heimat in der Fremde. Heinrichs und Pfarre finden richtige Freunde auf der Landstraße, Menschen, die ihnen viel bedeuten und von denen sie sich nur schwer trennen; Winnig dagegen fühlte sich nahezu immer unter Fremden. Kam eine Gruppe von mehreren Kunden in einen Ort, so teilte man ein, wer in welchem Haus zu fechten hatte. Hinter dem Dorf wurde zusammengeworfen und gerecht geteilt. Schroeder wird einmal unterwegs sehr krank und ohne die Kunden, die er eben erst getroffen hatte, wäre er am Wegesrand liegengeblieben: //„Jetzt weiß ich, was Kameradschaft ist. Wohl steht man dem Bruder näher, man tut etwas für ihn, weil er zur Familie gehört, man hintergeht ihn auch nicht, was man vielleicht bei einem fremden Menschen tun würde ... Beim Kameraden aber kommen solche Gedanken noch nicht einmal auf. Wahre Kameradschaft zerschmettert die Hölle!“// ((Schroeder, S. 212))\\ 
 //„Die wandernden Schleifer hatten damals einen Brauch, den sie als Geheimnis behandelten: alle Jahre um Johannis trafen sie sich irgendwo und hielten drei Tage lang ein Lager mit Zecherei und Schmauserei. dann standen ihre Wagen, fast dreißig an der Zahl, in der Dickung, und die Schleifer lagen abseits im Grase ...“// ((Winnig, S. 249)) //„Die wandernden Schleifer hatten damals einen Brauch, den sie als Geheimnis behandelten: alle Jahre um Johannis trafen sie sich irgendwo und hielten drei Tage lang ein Lager mit Zecherei und Schmauserei. dann standen ihre Wagen, fast dreißig an der Zahl, in der Dickung, und die Schleifer lagen abseits im Grase ...“// ((Winnig, S. 249))
  
 ===== 3 Die Walz als Gratwanderung ===== ===== 3 Die Walz als Gratwanderung =====
 ==== Vom Gesellen zum Vagabunden ==== ==== Vom Gesellen zum Vagabunden ====
-Pfarre geht mit Hamburger Wandervogel-Freunden auf eine vierwöchige Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald, dann sagt er sich: „Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, nun kommt deine Reise als Handwerksbursche, vielleicht bald als Landstreicher. ... Beginne nun endlich deine Fahrt und wage mutig den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.“ Er unterscheidet drei Arten zu reisen und hebt den Mut als bedeutsames Element der Walz hervor. Bereits klar im Blick ist der drohende Abstieg zum Vagabunden. Die Polizei ist scharf hinter den Handwerksburschen her und kontrollieren peinlich genau, wer die Grenze zum Vagabunden überschreitet: //„Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt ((Verratzen bedeutet im Rotwelschen verlieren, verraten und kommt von der Grundform „ratschen“)), denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.“// ((Schroeder, S. 118))\\ +Pfarre geht mit Hamburger Wandervogel-Freunden auf eine vierwöchige Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald, dann sagt er sich: „Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, nun kommt deine Reise als Handwerksbursche, vielleicht bald als Landstreicher. ... Beginne nun endlich deine [[wiki:fahrt|Fahrt]] und wage mutig den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.“ Er unterscheidet drei Arten zu reisen und hebt den Mut als bedeutsames Element der Walz hervor. Bereits klar im Blick ist der drohende Abstieg zum Vagabunden. Die Polizei ist scharf hinter den Handwerksburschen her und kontrollieren peinlich genau, wer die Grenze zum Vagabunden überschreitet: //„Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt ((Verratzen bedeutet im Rotwelschen verlieren, verraten und kommt von der Grundform „ratschen“)), denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.“// ((Schroeder, S. 118))\\ 
 Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //„Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht“// ((Pfarre, S. 22)) helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden. Rein äußerlich gleichen sich Gesellen, Vagabunden, Wanderarbeiter: sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, kein Geld, selten Arbeit und übertreten alle das Verbot der Bettelei. Immer wieder wird die Walz verteidigt als: //„jene einfache und bescheidene Art, die Welt zu beschuen, welche weder in den ersten Cafes und Hotels der Residenz, noch in die verkommensten Schnapskneipen der Provinzstädtchen, sondern in die Werkstätten berühmter und geachteter Meister führt, nicht um den Prahlhans mit des Vaters Talern, noch den Schnapsbruder mit den erbettelten Pfennigen, sondern den soliden Sohn schlichter bürgerlicher Eltern zu spielen, der, seine Kenntnisse erweiternd und sich ausbildend, mit dem Zeitgeist heute vorwärts schreitet, wie sein Vater vor einem Mannesalter, mit dem Geiste jener Zeit vorwärts schreitend, sich zum wackren Geschäftsmann herangebildet hat.“// ((J.M. Hornstein „Das Wandern, eine Lebensfrage des Gewerbestandes“ Neuburg /Donau 1857, S.4))\\  Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //„Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht“// ((Pfarre, S. 22)) helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden. Rein äußerlich gleichen sich Gesellen, Vagabunden, Wanderarbeiter: sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, kein Geld, selten Arbeit und übertreten alle das Verbot der Bettelei. Immer wieder wird die Walz verteidigt als: //„jene einfache und bescheidene Art, die Welt zu beschuen, welche weder in den ersten Cafes und Hotels der Residenz, noch in die verkommensten Schnapskneipen der Provinzstädtchen, sondern in die Werkstätten berühmter und geachteter Meister führt, nicht um den Prahlhans mit des Vaters Talern, noch den Schnapsbruder mit den erbettelten Pfennigen, sondern den soliden Sohn schlichter bürgerlicher Eltern zu spielen, der, seine Kenntnisse erweiternd und sich ausbildend, mit dem Zeitgeist heute vorwärts schreitet, wie sein Vater vor einem Mannesalter, mit dem Geiste jener Zeit vorwärts schreitend, sich zum wackren Geschäftsmann herangebildet hat.“// ((J.M. Hornstein „Das Wandern, eine Lebensfrage des Gewerbestandes“ Neuburg /Donau 1857, S.4))\\ 
 Winnig schafft es tatsächlich, sich zwei Jahre als Geselle über Wasser zu halten und findet Arbeit. Als er reist (um 1897) gibt es in Deutschland gerade einen Aufschwung, Arbeit ist leicht zu bekommen, das Ruhrgebiet boomt:// „Nach 1896 ging es dann aber aufwärts - so schnell, daß 1912 ein angesehener Publizist ernsthaft behauptete, allein jenes Wirtschaftswunder rechtfertige schon den deutschen Anspruch auf eine Vormachtstellung in der Welt.“// ((Bieber, S. 2)) \\  Winnig schafft es tatsächlich, sich zwei Jahre als Geselle über Wasser zu halten und findet Arbeit. Als er reist (um 1897) gibt es in Deutschland gerade einen Aufschwung, Arbeit ist leicht zu bekommen, das Ruhrgebiet boomt:// „Nach 1896 ging es dann aber aufwärts - so schnell, daß 1912 ein angesehener Publizist ernsthaft behauptete, allein jenes Wirtschaftswunder rechtfertige schon den deutschen Anspruch auf eine Vormachtstellung in der Welt.“// ((Bieber, S. 2)) \\ 
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 Da gibt es für die überwiegend männlichen Kunden nur wenig Möglichkeiten, dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sex Befriedigung zu verschaffen. Nur aus diesem Grund melden sich manche auf die unbeliebten Stellen als Hopfenzupfer. Pfarre erfährt:// „...wer nicht ganz weibstoll ist, hält das nicht aus. Für eine Reichsmark zwanzig von morgens fünf bis abends elf bei der flauen Brotsuppe tät´s keiner, wenn nicht das Nachtlager so schön wär. ... Mann und Weib, Kunde und Schickse, alles schläft bunt durcheinander in einer Scheune auf Heu und Stroh, so wie jeder will. Die paar Kinder, die dazwischen liegen, stören nicht. ... Aber auf Dauer wird´s zu ekelhaft.“// ((Pfarre, S. 15))\\  Da gibt es für die überwiegend männlichen Kunden nur wenig Möglichkeiten, dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sex Befriedigung zu verschaffen. Nur aus diesem Grund melden sich manche auf die unbeliebten Stellen als Hopfenzupfer. Pfarre erfährt:// „...wer nicht ganz weibstoll ist, hält das nicht aus. Für eine Reichsmark zwanzig von morgens fünf bis abends elf bei der flauen Brotsuppe tät´s keiner, wenn nicht das Nachtlager so schön wär. ... Mann und Weib, Kunde und Schickse, alles schläft bunt durcheinander in einer Scheune auf Heu und Stroh, so wie jeder will. Die paar Kinder, die dazwischen liegen, stören nicht. ... Aber auf Dauer wird´s zu ekelhaft.“// ((Pfarre, S. 15))\\ 
 Ein anderer Vagabund weiß einiges zum Thema Frau: //„Aber etwas anderes läuft [den Kunden] lange nach. Hängt lange an ihnen und reibt sie auf. Gräbt tiefe Falten in ihre Gesichter, drückt ihnen den Kopf nach vorn und beugt ihnen den Rücken. das ist das Weib. ... es war allen eine Not. ... Sie verleugneten es. Einige hielten es nicht aus. Sie vergewaltigten, was ihnen die Not in die Arme trieb, alte Frauen, Kinder. Doch das sind die allerwenigsten. ... Andere nahmen Arbeit an. Auf einem Gut oder so - um ein Weib zu bekommen. ... Dann kämpfen sie an gegen die Forderung ihrer Natur. ... Sie unterliegen. Und sie möchten sich die Hand abschlagen. Öfter. Wie als Knabe. ... Das sind die Einsamen. Andere sind den gleichen Weg gegangen mit mehr Glück. Sie finden immer wieder mal einen Freund. Einen Jüngeren. Sie wissen, daß keiner um diese Not herumkommt.“// ((Helmut Klose „Der Andere“ in: Trappmann, S. 289 ff.)) \\  Ein anderer Vagabund weiß einiges zum Thema Frau: //„Aber etwas anderes läuft [den Kunden] lange nach. Hängt lange an ihnen und reibt sie auf. Gräbt tiefe Falten in ihre Gesichter, drückt ihnen den Kopf nach vorn und beugt ihnen den Rücken. das ist das Weib. ... es war allen eine Not. ... Sie verleugneten es. Einige hielten es nicht aus. Sie vergewaltigten, was ihnen die Not in die Arme trieb, alte Frauen, Kinder. Doch das sind die allerwenigsten. ... Andere nahmen Arbeit an. Auf einem Gut oder so - um ein Weib zu bekommen. ... Dann kämpfen sie an gegen die Forderung ihrer Natur. ... Sie unterliegen. Und sie möchten sich die Hand abschlagen. Öfter. Wie als Knabe. ... Das sind die Einsamen. Andere sind den gleichen Weg gegangen mit mehr Glück. Sie finden immer wieder mal einen Freund. Einen Jüngeren. Sie wissen, daß keiner um diese Not herumkommt.“// ((Helmut Klose „Der Andere“ in: Trappmann, S. 289 ff.)) \\ 
-Der Begriff „schwul“ ist in der Kundensprache seit 1847 schriftlich nachgewiesen und Pfarre berichtet von Kunden, die auf der „schwulen Schiebung“ sind, sich als Strichjunge ihr Geld verdienen. Als einziger der Walzbrüder berichtet er von häufigen Begegnungen mit Homosexualität: mal platzt er in eine Toilette und weicht erschrocken zurück ((Pfarre, S. 200)), mal muß er sich selber den Nachstellungen reicher Italiener widersetzen ((Pfarre, S. 191)), dann wird er von einem anderen Kunden vor dem Übernachten in den römischen Katakomben gewarnt:// „Weißt Du, was die Kunden hier einhaken nennen? Sieh, Du mit Deinem Kindergesicht wirst schon schamrot, ich merk, Du kennst den Ausdruck auch schon. Also deshalb lieber nicht, Du würdest eingehakt werden. Das wäre Dein Ende.“// ((Pfarre, S. 159)) Man erklärt ihm, daß es in Italien keinen unbequemen §175 gibt, und //„...deshalb sind eben hier, ganz besonders in Rom, viele Menschen, die in Deutschland nicht mehr sein dürfen. Du, feine Menschen sind es, sogar sehr vornehme.“// ((Pfarre, S. 148))+Der [[wiki:begriff|Begriff]] „schwul“ ist in der Kundensprache seit 1847 schriftlich nachgewiesen und Pfarre berichtet von Kunden, die auf der „schwulen Schiebung“ sind, sich als Strichjunge ihr Geld verdienen. Als einziger der Walzbrüder berichtet er von häufigen Begegnungen mit Homosexualität: mal platzt er in eine Toilette und weicht erschrocken zurück ((Pfarre, S. 200)), mal muß er sich selber den Nachstellungen reicher Italiener widersetzen ((Pfarre, S. 191)), dann wird er von einem anderen Kunden vor dem Übernachten in den römischen Katakomben gewarnt:// „Weißt Du, was die Kunden hier einhaken nennen? Sieh, Du mit Deinem Kindergesicht wirst schon schamrot, ich merk, Du kennst den Ausdruck auch schon. Also deshalb lieber nicht, Du würdest eingehakt werden. Das wäre Dein Ende.“// ((Pfarre, S. 159)) Man erklärt ihm, daß es in Italien keinen unbequemen §175 gibt, und //„...deshalb sind eben hier, ganz besonders in Rom, viele Menschen, die in Deutschland nicht mehr sein dürfen. Du, feine Menschen sind es, sogar sehr vornehme.“// ((Pfarre, S. 148))
 ===== 5 Die Hierarchie der Landstraße ===== ===== 5 Die Hierarchie der Landstraße =====
 ==== Wandergeselle ==== ==== Wandergeselle ====
 Als Pfarre nach Fürth geht, weiß er sich auf dem Weg ins Vagabundentum: //„Ich war auf das Verbandsgeschenk angewiesen. Eine Mark erhielt ich. Mit dieser Mark wollte ich meine neue Zukunft gründen. In der Fürther Herberge zur Heimat erstand ich für 25 Pfennig einen Wanderschein. Auf diesen Schein konnte ich Verpflegungen erhalten. Mein zweiter Weg war nach dem städtischen Arbeitsnachweis. Dort traf ich einen Kunden, der mir die ganze Sache schon deichseln wollte. `Also, nun macht´s Dein Antrittsstoß. Erst läßt Du Dir eine Bescheinigung in Dein Wanderbuch schreiben, daß Du vergeblich um Arbeit angehauen hast, dann kommst Du wieder zu mir.´ Ich ging und kam erfolgreich zurück. Dann führte mich mein Lehrmeister vor ein anderes städtisches Gebäude und sagte: `Da gehst Du nun herein und kriegst dreißig Pfennige,´ und setzte lakonisch hinzu: `Ich kriege nichts, ich war erst vor drei Wochen da.´ Das mochte ich nun nicht. Aber ich begriff, daß ich mußte. Es war doch noch der ehrliche Weg auf der Landstraße.“// ((Pfarre, S. 13 f.))\\  Als Pfarre nach Fürth geht, weiß er sich auf dem Weg ins Vagabundentum: //„Ich war auf das Verbandsgeschenk angewiesen. Eine Mark erhielt ich. Mit dieser Mark wollte ich meine neue Zukunft gründen. In der Fürther Herberge zur Heimat erstand ich für 25 Pfennig einen Wanderschein. Auf diesen Schein konnte ich Verpflegungen erhalten. Mein zweiter Weg war nach dem städtischen Arbeitsnachweis. Dort traf ich einen Kunden, der mir die ganze Sache schon deichseln wollte. `Also, nun macht´s Dein Antrittsstoß. Erst läßt Du Dir eine Bescheinigung in Dein Wanderbuch schreiben, daß Du vergeblich um Arbeit angehauen hast, dann kommst Du wieder zu mir.´ Ich ging und kam erfolgreich zurück. Dann führte mich mein Lehrmeister vor ein anderes städtisches Gebäude und sagte: `Da gehst Du nun herein und kriegst dreißig Pfennige,´ und setzte lakonisch hinzu: `Ich kriege nichts, ich war erst vor drei Wochen da.´ Das mochte ich nun nicht. Aber ich begriff, daß ich mußte. Es war doch noch der ehrliche Weg auf der Landstraße.“// ((Pfarre, S. 13 f.))\\ 
-Sind diese Quellen erschöpft, so führt der Weg nachts ins Asyl und tags zum Betteln. Nur wer bettelt, überlebt. Pfarre kann das nicht, selbst die edelste Form der Bettelei, das Anfechten seiner Meister, bei denen er um Arbeit nachfragt, versagt er sich. ((„Suchte ein `fremder Geselle´ in der Stadt Arbeit, so ließ er sich entweder `Arbeit schauen´ oder er `ging aufs Geschenk´ . ... Wollte der Meister keinen Gesellen aufdingen, so gab es ein Geschenk, meist in der Form eines Umtrunks und einer Wegzehrung.“ (Völger, S. 38f.) )) So ist er hier und da auf eine Mark aus der Gewerkschaftskasse, Gutscheine der Asyle oder Stütze ((Stütze hat den Weg ins Hochdeutsche gefunden und bedeutet Arbeitslosen- oder Sozialunterstützung.)) vom Arbeitsamt angewiesen. Dazwischen hungert er oder findet Vagabunden, die ihn versorgen. \\ +Sind diese Quellen erschöpft, so führt der Weg nachts ins Asyl und tags zum Betteln. Nur wer bettelt, überlebt. Pfarre kann das nicht, selbst die edelste Form der Bettelei, das Anfechten seiner Meister, bei denen er um Arbeit nachfragt, versagt er sich. ((„Suchte ein `fremder Geselle´ in der Stadt Arbeit, so ließ er sich entweder `Arbeit schauen´ oder er `ging aufs Geschenk´ . ... Wollte der Meister keinen Gesellen aufdingen, so gab es ein Geschenk, meist in der Form eines Umtrunks und einer [[wiki:Wegzehrung|Wegzehrung]].“ (Völger, S. 38f.) )) So ist er hier und da auf eine Mark aus der Gewerkschaftskasse, Gutscheine der Asyle oder Stütze ((Stütze hat den Weg ins Hochdeutsche gefunden und bedeutet Arbeitslosen- oder Sozialunterstützung.)) vom Arbeitsamt angewiesen. Dazwischen hungert er oder findet Vagabunden, die ihn versorgen. 
 ==== Bettler und Fechtmeister ==== ==== Bettler und Fechtmeister ====
 Auch Schroeder fällt das Betteln schwer: //„Früher aß ich um diese Zeit zu Mittag, jetzt sind es drei Tage her, seit ich das letzte Mal gekaut habe. Ich kann eine Gaslaterne kitzeln, bis der Direktor lacht; ich habe in den zwei Tagen gelernt, einen Grünen zu ärgern, ohne daß dieser es merkt; aber betteln kann ich nicht!“// ((Schroeder, S. 64)) Dann reist er mit erfahrenen Kunden zusammen, zu fünft „putzen“ sie ein Dorf, essen mehrere Male und werfen anschließend zusammen: wollene Socken, eine neue Weste, drei Pfund Wurst, Zigaretten, Tabak, Brot. Nur Schroeder weiß nichts beizusteuern und bekommt gesagt:// „Wir hatten zuerst auch nur Brot gefechtet, Brot, Brot und noch einmal Brot, bis wir gewitzter wurden, aus uns hinausgingen und zusammenputzten, was wir zum Leben brauchten.“// Dann wird geteilt: für jeden gibt es zwei Zigarren, 12 Zigaretten, vierzig Gramm Tabak - Brüderlichkeit der Landstraße! Doch Schroeder lernt schnell und wird innerhalb weniger Monate ein Fechtmeister. Manche der Kunden und Vagabunden schaffen nie mehr den Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft, was nicht unbedingt an mangelnden Chancen lag, sondern an der Einstellung zum Leben: //„War das ein unruhiger Geselle! Auf allerlei Schiffen hatte er, als Münchner Kind, die ganze weite Erde befahren. Irgendeine Aschenbrödelarbeit hatte er immer gefunden und auch wohl so gute Menschen, wie er selbst einer war. Immer faßte er das Leben von der sonnigsten Seite auf, er, der nur für ein Butterbrot arbeitete, immer hatte er gelacht und noch immer lachte er, trotz Hunger, trotz aller Rücksichtslosigkeit gegen ihn. Und weil die Menschen ihn nicht ernst nahmen, hatte er sie und ihre Arbeit nicht ernst genommen.“// ((Pfarre, S. 177)) Das war der kleine bucklige Michael, der es nicht mehr schaffte, regelmäßig zu arbeiten und an einem festen Ort zu wohnen, obwohl ihm Verwandte die Gelegenheit dazu gaben. Er riß aus und flüchtete sich auf die Landstraße zurück.\\  Auch Schroeder fällt das Betteln schwer: //„Früher aß ich um diese Zeit zu Mittag, jetzt sind es drei Tage her, seit ich das letzte Mal gekaut habe. Ich kann eine Gaslaterne kitzeln, bis der Direktor lacht; ich habe in den zwei Tagen gelernt, einen Grünen zu ärgern, ohne daß dieser es merkt; aber betteln kann ich nicht!“// ((Schroeder, S. 64)) Dann reist er mit erfahrenen Kunden zusammen, zu fünft „putzen“ sie ein Dorf, essen mehrere Male und werfen anschließend zusammen: wollene Socken, eine neue Weste, drei Pfund Wurst, Zigaretten, Tabak, Brot. Nur Schroeder weiß nichts beizusteuern und bekommt gesagt:// „Wir hatten zuerst auch nur Brot gefechtet, Brot, Brot und noch einmal Brot, bis wir gewitzter wurden, aus uns hinausgingen und zusammenputzten, was wir zum Leben brauchten.“// Dann wird geteilt: für jeden gibt es zwei Zigarren, 12 Zigaretten, vierzig Gramm Tabak - Brüderlichkeit der Landstraße! Doch Schroeder lernt schnell und wird innerhalb weniger Monate ein Fechtmeister. Manche der Kunden und Vagabunden schaffen nie mehr den Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft, was nicht unbedingt an mangelnden Chancen lag, sondern an der Einstellung zum Leben: //„War das ein unruhiger Geselle! Auf allerlei Schiffen hatte er, als Münchner Kind, die ganze weite Erde befahren. Irgendeine Aschenbrödelarbeit hatte er immer gefunden und auch wohl so gute Menschen, wie er selbst einer war. Immer faßte er das Leben von der sonnigsten Seite auf, er, der nur für ein Butterbrot arbeitete, immer hatte er gelacht und noch immer lachte er, trotz Hunger, trotz aller Rücksichtslosigkeit gegen ihn. Und weil die Menschen ihn nicht ernst nahmen, hatte er sie und ihre Arbeit nicht ernst genommen.“// ((Pfarre, S. 177)) Das war der kleine bucklige Michael, der es nicht mehr schaffte, regelmäßig zu arbeiten und an einem festen Ort zu wohnen, obwohl ihm Verwandte die Gelegenheit dazu gaben. Er riß aus und flüchtete sich auf die Landstraße zurück.\\ 
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 ==== Kunden und Vagabunden ==== ==== Kunden und Vagabunden ====
 Die Bezeichnung Kunden wird oft wahllos benutzt und meint alle Gruppen. Kunde heißt eigentlich Kundiger, im altniederrheinischen war der //cunde// ein Späher und Kundschafter. In jedem Fall weiß er mehr als andere, ist also ausgezeichnet gegenüber anderen. Das wird deutlich, wenn sich zwei Kunden auf der Straße begegneten. Der Frage //„Kunde?“// mußte geantwortet werden mit //„Ken Mathes?//“ ((Bis 1939 grüßten sich Kunden so auf der Landstraße, auch wenn vielen der Sinn dieser Grußformel nicht klarwar, denn oftmals wurde auch Ken Mathias oder Ken Mathilde geantwortet.)) Der Fragende möchte wissen, ob der andere überhaupt ein Kunde (=Kundiger) ist, ob er also evtl Auskunft geben kann. Die Antwort hat nichts mit dem Vornamen Mathes zu tun, sondern rührt von Medine (=Landstraße) und heißt daher soviel wie „Ich kenne die Landstraße“. ((Wolf, Stichwort Ken und Kunde))\\  Die Bezeichnung Kunden wird oft wahllos benutzt und meint alle Gruppen. Kunde heißt eigentlich Kundiger, im altniederrheinischen war der //cunde// ein Späher und Kundschafter. In jedem Fall weiß er mehr als andere, ist also ausgezeichnet gegenüber anderen. Das wird deutlich, wenn sich zwei Kunden auf der Straße begegneten. Der Frage //„Kunde?“// mußte geantwortet werden mit //„Ken Mathes?//“ ((Bis 1939 grüßten sich Kunden so auf der Landstraße, auch wenn vielen der Sinn dieser Grußformel nicht klarwar, denn oftmals wurde auch Ken Mathias oder Ken Mathilde geantwortet.)) Der Fragende möchte wissen, ob der andere überhaupt ein Kunde (=Kundiger) ist, ob er also evtl Auskunft geben kann. Die Antwort hat nichts mit dem Vornamen Mathes zu tun, sondern rührt von Medine (=Landstraße) und heißt daher soviel wie „Ich kenne die Landstraße“. ((Wolf, Stichwort Ken und Kunde))\\ 
-Obwohl Kunden und Vagabunden sehr lax mit Moral umgehen, konnte man ihnen nicht unbedingt kriminelle Absichten unterstellen. Wohl waren sie Outlaws, Outcasts, Gesetzlose, die um ihr Überleben kämpften. Das ging oft nur außerhalb der bürgerlichen Moral und Gesetze. Doch hatten sie ihre Sprache, eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Ehre und Kameradschaft waren ihnen vertraut und viele waren stolz darauf, Kunde zu sein. Der Weg zurück in die Gesellschaft blieb ihnen nicht versperrt, auch wenn sie sozial ausgestoßen und heimatlos waren. \\ Andererseits war der Weg ins kriminelle Milieu einfach, da sich die Gauner in der gleichen Infrastruktur bewegten. Pfarre erinnert sich: „...lernte ich den Betrieb in der Herberge zur Heimat kennen. Aber waren das „Kunden“, „Monarchen“, „Speckjäger“ oder anders benannte „Ritter der Landstraße“? Nein! Soviel kannte ich nun doch schon die verlumpten, aber harmlosen Wandergestalten. Was sich hier zusammenfand, das kam nicht aus dem Chausseegraben, das gedieh nur auf dem Asphalt der Großstadt. Das nahe Oktoberfest hatte Nepper, Bauernfänger und Taschendiebe herangelockt.“ ((Pfarre, S. 12 f.)) \\ +Obwohl Kunden und Vagabunden sehr lax mit Moral umgehen, konnte man ihnen nicht unbedingt kriminelle Absichten unterstellen. Wohl waren sie [[wiki:outlaw|Outlaws]], Outcasts, Gesetzlose, die um ihr Überleben kämpften. Das ging oft nur außerhalb der bürgerlichen Moral und Gesetze. Doch hatten sie ihre Sprache, eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln. [[wiki:ehre|Ehre]] und Kameradschaft waren ihnen vertraut und viele waren stolz darauf, Kunde zu sein. Der Weg zurück in die Gesellschaft blieb ihnen nicht versperrt, auch wenn sie sozial ausgestoßen und heimatlos waren. \\ Andererseits war der Weg ins kriminelle Milieu einfach, da sich die Gauner in der gleichen Infrastruktur bewegten. Pfarre erinnert sich: „...lernte ich den Betrieb in der Herberge zur Heimat kennen. Aber waren das „Kunden“, „Monarchen“, „Speckjäger“ oder anders benannte „Ritter der Landstraße“? Nein! Soviel kannte ich nun doch schon die verlumpten, aber harmlosen Wandergestalten. Was sich hier zusammenfand, das kam nicht aus dem Chausseegraben, das gedieh nur auf dem Asphalt der Großstadt. Das nahe Oktoberfest hatte Nepper, Bauernfänger und Taschendiebe herangelockt.“ ((Pfarre, S. 12 f.)) \\ 
 ==== Schieben und Balance ==== ==== Schieben und Balance ====
-Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, Betrug wurden Schiebung genannt. Eine dufte Schiebung war klug und durchdacht, eine linke Schiebung war faul.)). Unter Schiebung verstand man Taschenspielerei, Gaunereien, Betrug. So sammelten zwei Kunden in jedem Ort die Messer und Scheren, ohne einen Schleifstein zu besitzen. Mit etwas Schmirgel wurden sie blank poliert, mit Schellack die Griffe optisch verbessert:// „Es kam uns auch nicht darauf an, die Messer zu schärfen, dann hätten wir ja auf ehrliche Weise unser Brot verdient.“// ((Pfarre, S. 22)) Da gibt es dann den „Sibirier“: //„Andere nannten ihn auch den Anarchisten. Er muckte (( `Mucken´ bedeutet Betteln mit einem Trick.)) mit roten Fleppen ((`Fleppen´ sind die Papiere, Dokumente, Pässe, 'rot' ist das unehrliche)), d.h. er bettelte die Sozialisten- und Anarchistenvereinigungen an. Wenn er dort leer ausging, konnte man ihn zum Beichten gehen sehen. Im Beichtstuhl focht er bei dem Geistlichen.“// Der „Schweizer“ spielte den Grafen, investierte ihn gute Kleidung und besaß sonst nichts. Dann besuchte er die Amerikaner in den guten Hotels und erzählte ihnen eine Geschichte, die ihm Geld brachte. Zwei andere, Polen, gingen jeden Abend auf die Balance. ((`Balance´ ist der Ausdruck für eine gefährliche Bettelei, die schon mehr Erpressung ist.)) Ihnen allen gemeinsam war es, mit betrügerischen Absichten vorzugehen.\\ +Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, Betrug wurden Schiebung genannt. Eine dufte Schiebung war klug und durchdacht, eine linke Schiebung war faul.)). Unter Schiebung verstand man Taschenspielerei, Gaunereien, Betrug. So sammelten zwei Kunden in jedem Ort die Messer und Scheren, ohne einen Schleifstein zu besitzen. Mit etwas Schmirgel wurden sie blank poliert, mit Schellack die Griffe optisch verbessert:// „Es kam uns auch nicht darauf an, die Messer zu schärfen, dann hätten wir ja auf ehrliche Weise unser Brot verdient.“// ((Pfarre, S. 22)) Da gibt es dann den „Sibirier“: //„Andere nannten ihn auch den Anarchisten. Er muckte (( `Mucken´ bedeutet Betteln mit einem [[wiki:kniff|Trick]].)) mit roten Fleppen ((`Fleppen´ sind die Papiere, Dokumente, Pässe, 'rot' ist das unehrliche)), d.h. er bettelte die Sozialisten- und Anarchistenvereinigungen an. Wenn er dort leer ausging, konnte man ihn zum Beichten gehen sehen. Im Beichtstuhl focht er bei dem Geistlichen.“// Der „Schweizer“ spielte den Grafen, investierte ihn gute Kleidung und besaß sonst nichts. Dann besuchte er die Amerikaner in den guten Hotels und erzählte ihnen eine Geschichte, die ihm Geld brachte. Zwei andere, Polen, gingen jeden Abend auf die Balance. ((`Balance´ ist der Ausdruck für eine gefährliche Bettelei, die schon mehr Erpressung ist.)) Ihnen allen gemeinsam war es, mit betrügerischen Absichten vorzugehen.\\ 
 ==== Karrner ==== ==== Karrner ====
 Hasemann kennt dazu noch den Karrner: //„Aus irgendeiner gottverlassenen Gegend, in der tatsächlich nur ein Haus stand, ist er aufgebrochen, nachdem auch noch die letzte Kuh gestorben ist, mit seinem Weibe, das er irrsinnig liebt. Er hat sich einen Wagen angeschafft mit einem fünffachen Knie als Schornstein. Ein Bett steht darin und ein kleiner Herd. Im Bette liegt ein Weib, hochschwanger, am Fenster vorn sind kleine Gardinen, die Fenster an der Seite sind verschlossen mit Seitenläden, wegen des Sonnenscheins, und nun zieht er diesen Wagen toujours die Landstraße längs. Unter dem Wagen läuft noch ein Hund, das einzige Vieh, das Treue besitzt in guten und schlechten Tagen.“// ((Hasemann, S. 64)) Hasemann vermutet, daß aus dem Karrner der Wanderzirkus entsteht, indem sich ihm Kunden anschließen. Hasemann kennt dazu noch den Karrner: //„Aus irgendeiner gottverlassenen Gegend, in der tatsächlich nur ein Haus stand, ist er aufgebrochen, nachdem auch noch die letzte Kuh gestorben ist, mit seinem Weibe, das er irrsinnig liebt. Er hat sich einen Wagen angeschafft mit einem fünffachen Knie als Schornstein. Ein Bett steht darin und ein kleiner Herd. Im Bette liegt ein Weib, hochschwanger, am Fenster vorn sind kleine Gardinen, die Fenster an der Seite sind verschlossen mit Seitenläden, wegen des Sonnenscheins, und nun zieht er diesen Wagen toujours die Landstraße längs. Unter dem Wagen läuft noch ein Hund, das einzige Vieh, das Treue besitzt in guten und schlechten Tagen.“// ((Hasemann, S. 64)) Hasemann vermutet, daß aus dem Karrner der Wanderzirkus entsteht, indem sich ihm Kunden anschließen.
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 ===== 8 Und heute? ===== ===== 8 Und heute? =====
 Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki:grundfreiheiten|Gewerbefreiheit]] im 19. Jahrhundert hatte diese Bewegung ihren Zenit überschritten. Winnig kam sich 1897 in den großen Städten fehl am Platze vor. Die Industrialisierung Europas und die sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen führten in Schüben immer mal wieder zu einem Anstieg der Massen auf den Straßen. Doch nun nahmen Arbeiter, Wanderarbeiter und Lumpenproletariat die Stelle der Gesellen ein. 1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später waren es bereits wieder 450.000. ((Trappmann, S. 15)) Immer spiegelte sich in den Wanderungsbewegungen die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Die Nationalsozialisten brachten ab 1933 die Vagabunden mit allen Mitteln von der Straße: Arbeitslager, Verhaftung, Razzien, [[wiki:muendigkeit|Entmündigung]], Psychiatrisierung und sechs Jahre Krieg beseitigten fast alle Spuren der Heimatlosen. ((Kadereit)) Auch für die „Nicht-Seßhaften“ von heute ist die Landstraße meist ohne Romantik, sondern hat eher mit dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg zu tun.\\  Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki:grundfreiheiten|Gewerbefreiheit]] im 19. Jahrhundert hatte diese Bewegung ihren Zenit überschritten. Winnig kam sich 1897 in den großen Städten fehl am Platze vor. Die Industrialisierung Europas und die sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen führten in Schüben immer mal wieder zu einem Anstieg der Massen auf den Straßen. Doch nun nahmen Arbeiter, Wanderarbeiter und Lumpenproletariat die Stelle der Gesellen ein. 1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später waren es bereits wieder 450.000. ((Trappmann, S. 15)) Immer spiegelte sich in den Wanderungsbewegungen die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Die Nationalsozialisten brachten ab 1933 die Vagabunden mit allen Mitteln von der Straße: Arbeitslager, Verhaftung, Razzien, [[wiki:muendigkeit|Entmündigung]], Psychiatrisierung und sechs Jahre Krieg beseitigten fast alle Spuren der Heimatlosen. ((Kadereit)) Auch für die „Nicht-Seßhaften“ von heute ist die Landstraße meist ohne Romantik, sondern hat eher mit dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg zu tun.\\ 
-Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit Ehrbarkeit ((Früher Rotwelsch: Halsbinde, heute Krawatte)), Staude ((Hemd)), Schlapphut, Stenz ((Stock)) und schwarzen Cordhosen. Auch wenn sie nicht mehr Teil einer gesellschaftlichen Massenbewegung sind, so erhalten sie doch die Traditionen aufrecht. Sie werden „als Exoten bestaunt in einer durchtechnisierten, profitorientierten Welt“. ((Schiemann)) Sie tragen immer noch den Berliner mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und scheniegeln ((Arbeiten, von Schinagole (jidd. = Schubkarre))) bei Krautern ((Krauter wird der Handwerksmeister genannt, insbesondere der zunftlose auf dem freien Land)). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. Sogar eine „Confédération Compagnonnages“ der europäischen Gesellenzünfte gibt es.\\ +Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit //Ehrbarkeit// ((Früher Rotwelsch: Halsbinde, heute Krawatte)), //Staude// ((Hemd)), //Schlapphut, Stenz// (([[wiki:stab|Stock]])) und schwarzen Cordhosen. Auch wenn sie nicht mehr Teil einer gesellschaftlichen Massenbewegung sind, so erhalten sie doch die Traditionen aufrecht. Sie werden „als Exoten bestaunt in einer durchtechnisierten, profitorientierten Welt“. ((Schiemann)) Sie tragen immer noch den //Berliner// mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und //scheniegeln// ((Arbeiten, von Schinagole (jidd. = Schubkarre))) bei //Krautern// ((Krauter wird der Handwerksmeister genannt, insbesondere der zunftlose auf dem freien Land)). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. Sogar eine „Confédération Compagnonnages“ der europäischen Gesellenzünfte gibt es.\\ 
 Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? Ihre Zahl nimmt zu, entsprechend der Arbeitslosenquote. 1971 lebte ein Reporter eine Woche lang als Penner, schlief im Düsseldorfer Nachtasyl der Franziskaner und in der Hamburger Mönckebergstraße. Acht Tage Betteln brachten ihm 31,88 Mark ein. Und die Gespräche im Asyl hätten auch 50 Jahre früher stattfinden können. Der eine will in den Süden, nach Spanien, //wo´s warm is´.// Eine Nutte schüttet sich die Bierreste aus den Gläsern zusammen, den //Klapperschluck//. ((Klappern bedeutet im rotwelschen betteln.)) 1975 ziehen wieder zwei Reporter mit den Pennern los. Da treffen sie dann beispielsweise den Ex-Söldner, der jedes Jahr sechs- bis achtmal kreuz und quer durch Deutschland zieht, zu Fuß, per Anhalter oder mit Zug und „Bahnbenutzungsgenehmigung“ des Sozialamtes, von einer der 700 Herbergen zur nächsten. Und sie werden immer noch „abgebient“, nach Läusen untersucht. In der Celler Herberge zur Heimat will der Diakon 1,30 Mark pro Nacht und für die Flasche Bier 1,10. Gegessen wird auf Kommando: nach sieben Minuten sind Graupensuppe und Brot verschlungen. Am nächsten Tag geht es weiter, denn in den meisten Herbergen darf man nur alle sechs bis zwölf Monate übernachten. //„Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen - weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber ((Mit Berber werden seit ein, zwei Jahrzehnten die modernen Landstreicher und Vagabunden bezeichnet. Es scheint eine Neuschöpfung des Rotwelschen zu sein.)) Einzelgänger, die keinem trauen.“// ((Holzach)) \\  Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? Ihre Zahl nimmt zu, entsprechend der Arbeitslosenquote. 1971 lebte ein Reporter eine Woche lang als Penner, schlief im Düsseldorfer Nachtasyl der Franziskaner und in der Hamburger Mönckebergstraße. Acht Tage Betteln brachten ihm 31,88 Mark ein. Und die Gespräche im Asyl hätten auch 50 Jahre früher stattfinden können. Der eine will in den Süden, nach Spanien, //wo´s warm is´.// Eine Nutte schüttet sich die Bierreste aus den Gläsern zusammen, den //Klapperschluck//. ((Klappern bedeutet im rotwelschen betteln.)) 1975 ziehen wieder zwei Reporter mit den Pennern los. Da treffen sie dann beispielsweise den Ex-Söldner, der jedes Jahr sechs- bis achtmal kreuz und quer durch Deutschland zieht, zu Fuß, per Anhalter oder mit Zug und „Bahnbenutzungsgenehmigung“ des Sozialamtes, von einer der 700 Herbergen zur nächsten. Und sie werden immer noch „abgebient“, nach Läusen untersucht. In der Celler Herberge zur Heimat will der Diakon 1,30 Mark pro Nacht und für die Flasche Bier 1,10. Gegessen wird auf Kommando: nach sieben Minuten sind Graupensuppe und Brot verschlungen. Am nächsten Tag geht es weiter, denn in den meisten Herbergen darf man nur alle sechs bis zwölf Monate übernachten. //„Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen - weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber ((Mit Berber werden seit ein, zwei Jahrzehnten die modernen Landstreicher und Vagabunden bezeichnet. Es scheint eine Neuschöpfung des Rotwelschen zu sein.)) Einzelgänger, die keinem trauen.“// ((Holzach)) \\ 
 Was hat sich da schon viel geändert in den letzten 100 Jahren? Selbst Entromantisierung, Zerschlagung von Strukturen und Traditionen erreichen nicht die Wurzeln und Ursachen des Unterwegsseins. Der Wandertrieb findet sich in allen Menschen und bei vielen ist er stärker als das Bedürfnis nach Sicherheit. Hieraus nährt sich eine jede Wanderbewegung. Zeiten wie der Zweite Weltkrieg mögen einige Jahre nachbeben, so daß sich die meisten Menschen angesichts ihrer Erfahrungen für die Sicherheit entscheiden. Dann setzt erneut die Zeit der Wanderer ein. Das Wiederaufflackern der Wanderbewegungen begann etwa in den fünziger Jahren. Klaus Trappmann bringt es auf den Punkt:// „Als langjährige Gammler hatten wir begonnen, aus der Enge der Fünfziger Jahre auszubrechen. Die Straße wurde zum Inbegriff unserer Wut und unserer Hoffnungen. Zwischen Kerouacs „On the road“, den frühen Liedern Bob Dylans und den ersten Vietnamdemonstrationen liegen nur wenige Jahre. Rocker, Trebegänger ((Trebegänger sind im Berlinerischen Herumtreiber)), Knackis und umherschweifende Haschrebellen (( Nach 1968 bis 1970 entstand in der K I und der Wieland-Kommune in Berlin aus politisch engagierten Leuten der „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“. Von dieser Gruppe aus führt eine Entwicklungslinie zur RAF)) interessierten uns nicht so sehr als Opfer des Kapitals, sondern weil wir uns einig glaubten in der Verweigerung und in unserer Verzweiflung.“// (( Trappmann, s. Vorwort)) Was hat sich da schon viel geändert in den letzten 100 Jahren? Selbst Entromantisierung, Zerschlagung von Strukturen und Traditionen erreichen nicht die Wurzeln und Ursachen des Unterwegsseins. Der Wandertrieb findet sich in allen Menschen und bei vielen ist er stärker als das Bedürfnis nach Sicherheit. Hieraus nährt sich eine jede Wanderbewegung. Zeiten wie der Zweite Weltkrieg mögen einige Jahre nachbeben, so daß sich die meisten Menschen angesichts ihrer Erfahrungen für die Sicherheit entscheiden. Dann setzt erneut die Zeit der Wanderer ein. Das Wiederaufflackern der Wanderbewegungen begann etwa in den fünziger Jahren. Klaus Trappmann bringt es auf den Punkt:// „Als langjährige Gammler hatten wir begonnen, aus der Enge der Fünfziger Jahre auszubrechen. Die Straße wurde zum Inbegriff unserer Wut und unserer Hoffnungen. Zwischen Kerouacs „On the road“, den frühen Liedern Bob Dylans und den ersten Vietnamdemonstrationen liegen nur wenige Jahre. Rocker, Trebegänger ((Trebegänger sind im Berlinerischen Herumtreiber)), Knackis und umherschweifende Haschrebellen (( Nach 1968 bis 1970 entstand in der K I und der Wieland-Kommune in Berlin aus politisch engagierten Leuten der „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“. Von dieser Gruppe aus führt eine Entwicklungslinie zur RAF)) interessierten uns nicht so sehr als Opfer des Kapitals, sondern weil wir uns einig glaubten in der Verweigerung und in unserer Verzweiflung.“// (( Trappmann, s. Vorwort))
  
 ===== 9 Überblick: Kennzeichen der Walz ===== ===== 9 Überblick: Kennzeichen der Walz =====
-In xder Übersicht fallen Ähnlichkleiten auf zwischen der Walz der Gesellen, dem Vagabundieren und dem heutigen Globetrotten, die sowohl positive als auch negative Aspekte haben können:\\ +In der Übersicht fallen Ähnlichkleiten auf zwischen der Walz der Gesellen, dem Vagabundieren und dem heutigen Globetrotten, die sowohl positive als auch negative Aspekte haben können:\\ 
   * Der Wanderlust, der Reiselust, dem Fernweh steht der Fluch der Unruhe, der Heimatlosigkeit und Nicht-Seßhaftigkeit gegenüber.    * Der Wanderlust, der Reiselust, dem Fernweh steht der Fluch der Unruhe, der Heimatlosigkeit und Nicht-Seßhaftigkeit gegenüber. 
   * Die Besitzlosigkeit, keine materielle Last zu haben bedeutet einerseits Sorgenlosigkeit, andererseits aber auch Mangel und tägliche Unsicherheit hinsichtlich der Grundbedürfnisse (Essen, Kleidung, Schlaf). „Wandert Kinder! Die Welt ist groß und prächtig, und habt ihr wirklich so teures Gut verloren und wollt es immer wieder wissen - wandert, dann wird das Verlorene noch im Werte steigen!“ ((Hasemann, S. 8. Dieser Punkt läßt sich noch ausführen unter der Berücksichtigung der Thesen von Greenblatt, Verlorene Besitztümer))   * Die Besitzlosigkeit, keine materielle Last zu haben bedeutet einerseits Sorgenlosigkeit, andererseits aber auch Mangel und tägliche Unsicherheit hinsichtlich der Grundbedürfnisse (Essen, Kleidung, Schlaf). „Wandert Kinder! Die Welt ist groß und prächtig, und habt ihr wirklich so teures Gut verloren und wollt es immer wieder wissen - wandert, dann wird das Verlorene noch im Werte steigen!“ ((Hasemann, S. 8. Dieser Punkt läßt sich noch ausführen unter der Berücksichtigung der Thesen von Greenblatt, Verlorene Besitztümer))
-  * Der Flexibilität in der Lebensplanung, der Offenheit der Lebensführung, der Phantasie bezüglich des Lebensstils steht die Unsicherheit bezüglich des Lebensweges, die Ziellosigkeit und Sinnlosigkeit gegenüber.+  * Der Flexibilität in der Lebensplanung, der [[wiki:offenheit|Offenheit]] der Lebensführung, der Phantasie bezüglich des Lebensstils steht die Unsicherheit bezüglich des Lebensweges, die Ziellosigkeit und Sinnlosigkeit gegenüber.
   * Freiheit von sozialen Bindungen und Ungebundenheit gegenüber anderen Menschen kann gesellschaftliches Außenseitertum bedeuten und zur Unfähigkeit zu sozialen Beziehungen führen.   * Freiheit von sozialen Bindungen und Ungebundenheit gegenüber anderen Menschen kann gesellschaftliches Außenseitertum bedeuten und zur Unfähigkeit zu sozialen Beziehungen führen.
 Den drohenden [[wiki:gefahr|Gefahren]] hat die Gesellschaft bereits früh entgegengesteuert. Die soziale Kontrolle übernimmt die Polizei, deren Aufgabe es ist, dem völligen Verfall sozialer Bindungen durch Druck und Strafe entgegenzusteuern: Papiere sind nötig zur Identifikation, Betteln und Platte reißen ((Platte reißen ist jede Form der Übernachtung in der Natur, außerhalb von Gebäuden)) sind verboten, Bemühungen zur Arbeitssuche werden in den Papieren dokumentiert ebenso wie Übernachtungen in Herbergen. Den drohenden [[wiki:gefahr|Gefahren]] hat die Gesellschaft bereits früh entgegengesteuert. Die soziale Kontrolle übernimmt die Polizei, deren Aufgabe es ist, dem völligen Verfall sozialer Bindungen durch Druck und Strafe entgegenzusteuern: Papiere sind nötig zur Identifikation, Betteln und Platte reißen ((Platte reißen ist jede Form der Übernachtung in der Natur, außerhalb von Gebäuden)) sind verboten, Bemühungen zur Arbeitssuche werden in den Papieren dokumentiert ebenso wie Übernachtungen in Herbergen.
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   - //Alle Achtung: Männer! 8 Werkmannsgeschichten//. Langen/Müller. München. 1936. 60 S. kl. 8°. (45. Tsd. Ex. bis 1943)\\    - //Alle Achtung: Männer! 8 Werkmannsgeschichten//. Langen/Müller. München. 1936. 60 S. kl. 8°. (45. Tsd. Ex. bis 1943)\\ 
-  - //Die vom Sonnendeck. Frohe Fahrt-Erlebnisse// erz. Herder. Freiburg(Br. 1937. 195 S. 8°. Abb.\\ +  - //Die vom Sonnendeck. Frohe [[wiki:fahrt|Fahrt]]-Erlebnisse// erz. Herder. Freiburg(Br. 1937. 195 S. 8°. Abb.\\ 
   - //Der lachende Hammer. Eulenspiegeleien, die nicht erfunden sind//. Herder. Freiburg/Br. 1937. 170 S. 8°. (3 Aufl., 2 Ausg. b. 1949)\\    - //Der lachende Hammer. Eulenspiegeleien, die nicht erfunden sind//. Herder. Freiburg/Br. 1937. 170 S. 8°. (3 Aufl., 2 Ausg. b. 1949)\\ 
   - //Lachende Kameradschaft.// Junge generation. Berlin. 1937. 95 S. 8°. (16 Aufl. in zwei Ausg. b. 1944)\\    - //Lachende Kameradschaft.// Junge generation. Berlin. 1937. 95 S. 8°. (16 Aufl. in zwei Ausg. b. 1944)\\ 
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   - //Die Tragödie Frankreichs//. Leipzig: List 1944. 347S.\\    - //Die Tragödie Frankreichs//. Leipzig: List 1944. 347S.\\ 
  
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 ====== Anhang ====== ====== Anhang ======
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wiki/walz.txt · Zuletzt geändert: 2024/04/07 06:59 von norbert

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