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wiki:unterwegs-sein

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Unterwegs-Sein

Wer unterwegs ist, muss fort. 
Deutsches Sprichwörter-Lexicon von K.F.W. Wander

Als underwegen bereits im Althochdeutschen nachweisbar. Dieser eigenartige und aus dem Deutschen nur unzureichend in andere Sprachen übersetzbare Begriff kann in der Regel nur gemeinsam mit einem Verb benutzt werden. Daher ist es einerseits nicht anders als (aktiv) handelnd denkbar, andererseits bedeutet es allein durch Bewegung (passiv) offen zu sein für das, was kommt. Als Phrasem ist sein Bedeutungsgehalt nicht aus den Grundwörtern `unter´ + `Weg´ ableitbar, sondern umfasst mindestens folgende Bedeutungen 1):

  • wenig zuhause [also wegorientiert]
  • sich auf dem Weg irgendwohin befindend
    [also zielorientiert]
  • draußen/auf der Straße
    [genauer: auf dem Weg > also handlungsorientiert]
  • auf/während der Reise
    [oder auf der Fahrt, dem Gang u.a.]
  • abgeschickte Post
    [ Sendung, Boten, Nachrichten > also etwas Neues überbringend]
  • schwanger
    [also entsteht etwas Neues]

Es fällt erstens auf, dass die Fortbewegung selbst unaugesprochen vorausgesetzt wird und dass die Art der Fortbewegung (zu Fuß, mit Fahrrad oder Fahrzeug) für das Unterwegs-sein irrelevant ist.
Zum anderen sind auch Ortsangaben unbedeutend, denn die Bedeutungen `fort von zuhause´ und `hin zu etwas´ dienen nur dazu die zielorientierte Handlung zwischen zwei beliebigen Orten anzuzeigen, denn „zuhause“ kann Wohnort, Herkunftsort, Heimat sein.
Schließlich mus selbst die Absicht nicht konkret sein, sondern liegt im überbringen oder entstehen von etwas Neuem aus dem Unterwegs-sein selbst heraus.
Dieses Konzept Eins-zu-Eins in andere Sprachen zu übersetzen ist nur begrenzt möglich und sehr schwierig im Italienischen, Norwegischen, Russischen und Serbischen. Selbst im Englischen (on the way, on the road) oder Französischen (en route) werden nicht alle Bedeutungen abgedeckt und kompliziertere Formulierungen benötigt, siehe:

  • Scheller-Boltz, Dennis
    unterwegs: Deutsche Idiomatik im Spiegel der Sprachen.
    In: Koroliov, Sonja/ Weinberger, Helmut/ Scheller-Boltz, Dennis/ Scharr, Kurt (Hrsg.) (2019): Am Zug – Aufbruch, Aktion und Reaktion in den Literaturen und Kulturen Ost- und Südosteuropas. Eine Festschrift für Andrea Zink zum 60. Geburtstag. Innsbruck: innsbruck university press, 208-222 Online.

Reise - Fahrt - Gang ?

`Reisen´ wird heute meist als Oberbegriff verwendet für die Arten der Fortbewegung im Sinne des Unterwegs-seins, aber auch

  • als ein „sich fortbewegen“ von Ort zu Ort;
  • als Dreischritt von Aufbruch - Fahren - ein Ziel erreichen;
  • als zielgerichtete Fortbewegung (mit einem Verkehrsmittel) über eine größere Entfernung;
  • als eines von 21 altgermanischen Nomina der Fortbewegung (Breidbach 1997, siehe Fortbewegung);
  • als spezielle Form des Unterwegs-sein;
  • als Oberbegriff für alle Formen des Unterwegs-seins, etwa Fahrt, Gang, Wandern, Pilgern.

Zwar treffen einzelne Aspekte zu, jedoch fällt auf, dass dies inhaltlich unzureichend, untereinander nicht konsistent oder gar widersprüchlich ist. Davon abweichend dient hier der Begriff des Unterwegs-seins als terminus technicus für den gemeinsamen, allgemeinen Bedeutungsgehalt der spezielleren Begriffe.
Diese Betrachtungsweise erlaubt es, „das Reisen“ als speziellen Begriff neben andere (Fahrt, Gang, Wandern, Pilgern usw.) zu setzen, weil diese alle ein Unterwegs-sein unter jeweils anderem Blickwinkel sind. Ein Beispiel: Der „Gang nach Canossa“ von 1077 war keine „Fahrt“, weil König Heinrich IV. auf erleichternde Hilfsmittel verzichten musste. Er war auch keine Reise, weil ihm der aggressive Aspekt fehlte, der damals mit dem Reisen als Aufstehen für eine kriegerische Unternehmung verbunden wurde, denn der König kam als Büßer und Bittsteller und bat Papst Gregor VII. den Kirchenbann aufzuheben.
Der heutige Gebrauch verwischt dagegen solche Unterschiede, die im geschichtlichen Rückblick deutlicher zu erkennen sind. Das Unterwegs-sein als Oberbegriff zu setzen erlaubt daher eine umfassendere Betrachtung.

  • Winfried Breidbach
    Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen.
    Peter Lang 1994 Diss. Köln

Die Ablaufstruktur des Unterwegs-seins

Reisebilder
Absichten
1 Aufbruch 2 sich-fortbewegen
& „hin zu etwas“
3 Ankunft
Weltbild 6 Heimkehr 5 Heimfahrt 4 Umkehr

Das Unterwegs-sein endet weder am Ziel noch bei der Heimkehr, sondern hat den Charakter eines anhaltenden Prozesses, der in allen Beteiligten nachwirkt: in der Herkunftsgesellschaft, bei den Gastgebern, bei Reisenden, Fahrenden, Pilgernden. Auch sind die Phasen 4 bis 6 nicht einfach ein Spiegelbild der Phasen 1 bis 3, denn sie unterscheiden sich qualitativ. Das kann jeder erfahren, der eine unbekannte Strecke zunächst in einer Richtung und dann zurück hinter sich bringt oder sich an jenem Scheitelpunkt der Reise befindet, wo er sich für oder gegen eine Rückkehr entscheidet. Anhand der sechs Phasen werden verwandte Phänomene unterscheidbar:

  • Flucht: Freiwilliger Aufbruch und Unterwegs-sein als „fort von etwas“ .
  • Migration: Es gibt keine Umkehr.
  • Vertreibung: Erzwungener Aufbruch und Unterwegs-sein als „fort von etwas“ , keine Umkehr.
  • Verbannung: wie Vertreibung, jedoch Umkehr irgendwann möglich.
  • Heimatlosigkeit: keine Ankunft am Ziel.
  • Der ewige Wanderer: Unterwegs-sein, jedoch ohne „hin zu etwas“.

Diesem Prozess und seinen Phasen eignet eine gewisse Dauer, sonst wäre der Besuch beim Nachbarn oder der Gang zum Briefkasten eine Reise. Da das natürliche Zeitgefühl des Menschen durch den Rhythmus von Tagen geprägt ist, müsste das Unterwegs-sein mindestens sechs Tage dauern, damit jede Phase erlebt werden kann. (Die Fremdenverkehrswirtschaft definiert Reisen als mindestens fünf Tage zwischen Aufbruch und Heimkehr.)

Die Gemeinsamkeiten im Unterwegs-sein

Es gibt Reisende und Fahrende, Wanderer und Pilger. Von Unterwegs-Seienden spricht man dagegen nicht. Menschen, die handelnd die obige Struktur durchlaufen, werden

Die Unterschiede im Unterwegs-sein

Alle gebräuchlichen Begriffe für die Formen des Unterwegs-seins sind kulturell geprägt, also auch von den Zeitläuften abhängig.

  • Die Umschreibung mit `sich fortbewegen´ betrachtet das beobachtbare Phänomen, indem die menschliche Dynamik ausgedrückt wird, setzt aber erstens einen `Weg´ voraus, der weglose Reisen (Erkundungen, Forschungsfahrt, Expedition) ausschließt, und umfasst zweitens nur die ersten beiden Phasen des oben strukturierten Prozesses.
  • Der Gang verengt diese Perspektive auf die dem Menschen urtümlichste Form der Fortbewegung . Das urgermanische Wurzelverb *gan-gan spiegelt durch die Verdoppelung der Silben das rhythmische Schwingen der Beine. Der Gang ist zwar eine notwendige Voraussetzung des Reisens, definiert eine solche jedoch nicht hinreichend.
  • `Wandern´ ist verwandt mit `wenden´ und `wandeln´, also `(sich) verändern´. Das Altnordische bezeichnet den Wanderer als vǫnsuðr bildlich für `Der Schwingende´ 2). Dieselbe Vorstellung findet sich auch im Persischen und Arabischen (mosāfer مسافر von Musāfahat `die Flügel schwingen´) und im I-Ging-Zeichen I-Ging-Zeichen 56: Der Wanderer 旅 lǚ. `Achse´ bedeutet schwingen, daher auch `Achsel´, weil die Arme beim Gehen schwingen.
  • Die Fahrt verweist im ursprünglichen Sinne auf ein Hilfsmittel, setzt also die ältesten technischen Fuhrwerke voraus: Schleifen, Schlitten, Boote, zuletzt Karren und Wagen und/oder Last- und Zugtiere.
  • Das Reisen erhält erst später in mittelhochdeutscher Zeit die Bedeutung von `unterwegs-sein´ (Heidenreise, Preußenreise) mit einer aggressiven Bedeutung bereits im Althochdeutschen (reisa), die im englischen rise on noch anklingt: Aufstehen und etwas unternehmen, meist im Sinne von Segel setzen, kämpfen, plündern, rauben (ahd. rīsan = sich erheben, steigen, fallen).
    Solch eine aggressive Bedeutung findet sich hier und da einzelsprachlich auch für die Fahrt, nicht aber für den Gang.

Die Legitimation des Aufbruchs

Ursächlich für die Begriffswechsel erscheint ursprünglich die unterschiedliche Legitimation des Aufbruchs des Einzelnen aus der Gemeinschaft. Damit erhielt die Unternehmung einen Sinn für alle:

  • der Gesandte als Vertreter und Sprecher
  • der Bote als Überbringer
  • der Waidmann als Jäger zur Nahrungsuche
  • der reisige Gaster als Krieger

Diese Legitimation unterliegt den Zeitläuften und kann sich ändern. In `Urlaub´ ist die Erlaubnis noch zu erkennen. Urlaub wird gewährt, weil sich die Gemeinschaft davon einen Nutzen verspricht und sei es die Wiederherstellung der Arbeitskraft. Dagegen bildeb jenseits von Fernweh oder Reiselust, Erlebnis oder Abenteuer völlig andere Kategorien.

Ein Lebensgefühl

»Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, 
sehnsüchtig schreit die Ferne, 
und ich drehe mich im Bett herum 
und denke : „Reisen ...“« 
Kurt Tucholsky (1890-1935)

Wer unterwegs ist (lat. viamus), denkt nicht groß über diesen Reise-Zustand nach. Dieses Unterwegs-Sein nach der Rückkehr daheim leben zu wollen, ist symptomatisch für eine Ansteckung durch ein Reise-Virus (da gibt es unterschiedliche Formen). Manche sind immun dagegen, aber das ist nicht unbedingt ein Vorteil, denn »Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte« meinte Kurt Tucholsky.
Dieses Lebensgefühl kann sehr unterschiedlichen Gruppen von Reisenden innewohnen und ist als sinnspendende Lebenslust bereits in der Antike bekannt:

Ubi bene, ibi patria.
Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland.
Cicero (römisch, 106-43 v. Chr.) zitiert Teukros, Tusculanae disputationes 5, 108
und ähnlich Aristophanes (griechisch, ca. 450 bis 380 v. Chr.), Plutos 1151

Daheim: Ein Hafen fürs Fernweh

Che Guevara beschrieb die Rückkehr in die Heimat als Tod und Wiedergeburt und meinte »Ich bin nicht Ich«. Das Problem ist, dass Heimgekehrte und Zurückgebliebene sich in mancher Hinsicht nicht mehr verstehen. Der Reisende erzählt und die Zuhörer stülpen ein Stereotyp darüber, gegen das der Erzähler sich vergebens wehrt. Also sucht er Menschen, die ihn verstehen, findet zu Fernreisemobil- und Globetrottertreffen oder sucht Gleichgesinnte im Club. So lange er nicht unterwegs sein kann, sind »Globetrottertreffen die zweitschönste Art unterwegs zu sein« meint Günther Schumacher-Loose und so lange ist der Club ein Hafen fürs Fernweh. In Treffen und Clubs bildet sich eine Reiseszene kulturell aus; die sozialen Medien sind jedenfalls für die Reiseszene nachgeordnet, da ihnen das reisetypische Bewegen und persönliche Begegnen fehlt.

Vom Reisen erzählen: Geschichten und Geschichte

Die Vermittlung von Welt über Medien findet traditionell über Erzählen und über Literatur statt und erzeugt damit Bilder in der Vorstellung. Die besten Geschichten hört man in einer Runde Weitgereister am Lagerfeuer. Reiseliteratur entsteht, wenn das Erzähltalent ausgeprägt ist und das Bedürfnis, sein Erlebtes auszudrücken stark genug. Reiseliteratur ist erfolgreich, weil viele von einem solchen Unterwegs-Sein träumen, jedoch den Aufbruch nicht wagen. Reisebilder wirken natürlich noch besser. Zwar fällt mangelndes Talent schneller auf, jedoch übertrumpfen Bilder bei der Vermittlung über den Bildschirm den Text um ein Vielfaches.
Das Lebensgefühl des Unterwegs-Seins findet letztlich seinen zeittypischen Ausdruck insbesondere in den Genres Reiseliteratur, Road Movie, Road Music. Besondere Formen werden zur Mode und erzeugen einen Markt; hat es sich jedoch überlebt, ist es nur selten in Ausstellungen oder Museen zu bestaunen, weil es keine Erzählung mehr dazu gibt. Eine rote Linie des Unterwegs-Seins zeigt die Zeitleiste der Reisegenerationen.

Was ist Reisen? Was macht dieses Lebensgefühl von Reisenden aus? Der Versuch, seine Bedingungen und Voraussetzungen zu analysieren,findet Ansatzpunkte über:

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1)
Deutsches Universalwörterbuch Duden 2007 mit [Anmerkungen des Verfassers]
wiki/unterwegs-sein.1642313339.txt.gz · Zuletzt geändert: 2022/01/16 06:08 von norbert

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