Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


wiki:spaziergang

Dies ist eine alte Version des Dokuments!


Spaziergang

Spaziergang ist Müssiggangs Bruder.
Spatzeregång gjör laster mång. (schwed.)
Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexicon

Eine Variante des Gehens, verwandt mit Lustwandeln und Wanderlust, doch kein Wandern durch die Natur im strengen Sinne und ganz sicher weder Marsch noch Walz. Im Unterschied zum städtischen Bummeln und Flanieren ein Gang durch die kultivierte Natur. Ein Spaziergang bedarf eines guten Weges, keines Pfades, daher im Französischen allée und promenade, im veralteten Deutschen Wandelhalle und Spazierlaube.
Im Deutschen zuerst schriftlich bei Luther im 16. Jahrhundert belegt, war jedoch derzeit als »ein wüster Spaciergang« keine erbauliche Angelegenheit. Der Spaziergang betont das langsame, nicht notwendige Gehen, lustwandelndes sich Fortbewegen im Zwischenraum (lat. spatium); im Unterschied zur Fußreise ohne Ziel und damit die mittelalterliche stabilitas loci in Frage stellend. Lustwandeln und Augenlust (Neugier) brachen mit den strengen mittelalterlichen christlichen Glaubensbekenntnissen.

Das muss man sich leisten können und so erscheint der Spaziergang in der Neuzeit zuerst beim Adel und erreicht seinen modischen Höhepunkt in bürgerlichen Kreisen in den Jahrzehnten um 1800, unsterblich geworden in Goethes Szene des Osterspaziergangs im Faust:
»Aus dem hohlen finstern Tor Dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heute so gern.« Aufbruch also, hinaus in die Gärten und Parks, aber bitte nur zwischen Sonntagsbraten und Kaffeetafel. Mehr wäre Abenteuer, weiter wäre Wildnis. Mit der zunehmenden Bedeutung von Freizeit diente der Spazierstock kleinbürgerlichen Kreisen als Symbol für Muße, also eben nicht arbeiten zu müssen, mit dem Flaneur als Helden, der mit dem Stock die Zeit totschlägt, behütet durch seinen Hut.

Spaziergang durch die Sprachen

Vermutlich kam der Begriff über das italienische `loggia da spasseggiar´ ins Deutsche, also zwar als ein Begriff, in dem ein mediterranes Lebensgefühl wie der Strand (ital. spiaggia) aufscheint, ist jedoch als `spazieren´ auch schon im Mittelhochdeutschen zu finden und mit `spät´ und `sputen´ aus gemeinsamer indogermanischer Wurzel *sp(h)ē(i)- im Sinne von ‘gedeihen, sich ausdehnen, vorwärtskommen, Erfolg haben, gelingen’ eher anstrengend.
Je nach Sprache und Land wird diese Tätigkeit unterschiedlich bewertet. Sie wird überwiegend positiv gesehen im italienischen la passeggiata, im französischen le promenade, im spanischen el paseo und ist beim russischen гулять gulyat' ein unverzichtbarer Teil genüßlicher Tagesgestaltung. Die literarischen Formen verbinden den Spaziergang oft mit Einsamkeit. Neudeutsch finden sich Streetwalking and Flänerie; die »Wissenschaft vom Spaziergang« nennt sich Promenadologie (engl. strollology).
Dagegen verbindet das Englische `to stroll´ damit eine abwertende Nebenbedeutung im Sinne von Umherstrolchen, Vagabundieren.
persisch Pīyāda-rawī, arabisch Mishwār al-mashy مشوار المشي

Der Spaziergang in der Kunst

  • 1500: Albrecht Dürer: Der Spaziergang. Kupferstich
  • 1520: Leyden, L.: Der Spaziergang: Die Promenade. Kupferstich
  • 1585: Hans Sachs: Ein Spaciergang beschehen von einem Vatter und Sohn.
  • 1628: Stumpf, J.: Hortulus Illustris. & verè Chrsitianus, Das ist, Ein Fürstlich vn[d] Christliches Rosengärtlein: In welchem nit allein allerley wolriechende Blümlein, heylsame Kräutlein … zu finden, sondern auch der Spaziergang in gewisse Tag vertheilet. Coburg: Gruner.
  • 1639: Martin Opitz: Der Spaziergang (Gedicht, vor 1639)
  • 1692: Herbst, G. etal.: Des Schlesischen Gärtners Lustiger Spatziergang/ Oder nützlicher Garten-Discurs: Darinnen gründlicher Bericht zu finden/ welcher Gestalt 1. Obst-Gärten/ 2. Küchen-Gärten/ 3. Wein-Gärten/ 4. Blumen-Gärten und 5. Medicin-Gärten … anzurichten/ und … zu erhalten seyn ; … in fünff Theile zusammen getragen.
  • 1795: Friedrich Schiller: Spaziergang (Gedicht)
  • 1803: Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (Reisebericht)
  • 1816: Maximilian von Schenkendorf: Der Spaziergang (Gedicht)
  • 1841: Joseph von Eichendorff : Spaziergang (Gedicht in 20 Versen)
  • 1847: Adalbert Stifter Der Waldgänger (Novelle)
  • 1851: Carl Spitzweg Philosoph im Park (Öl auf Leinwand, 27,5× 34 cm Von der Heydt-Museum Wuppertal)
  • 1857: Henry David Thoreau: Spazieren (Essay)
  • 1864: Oskar Wisnieski: Spaziergang (Öl auf Leinwand 92×56 cm Nationalgalerie Berlin)
  • 1878: Max Klinger Spaziergänger/ Der Überfall (Öl auf Leinwand 37× 86 cm Nationalgalerie Berlin)
  • 1912: August Macke: Spaziergang in Blumen (Öl auf Leinwand 63,5×48,5 cm Nationalgalerie Berlin)
  • 1912: Ernst Barlach Der Spaziergänger (Stukko, getönt, 51×24,8×12,2 cm Nationalgalerie Berlin)
  • 1913: Franz Kafka: Der plötzliche Spaziergang (Erzählung in zwei Sätzen)
  • 1913: Georg Trakl: Der Spaziergang (Gedicht)
  • 1917: Robert Walser Der Spaziergang (Novelle)
  • 1925: Rainer Maria Rilke Spaziergang (Gedicht, vor 1926)
  • 1951: Ernst Jünger: Der Waldgang (Essay)
  • 1971: Thomas Bernhard: Gehen (Erzählung)
  • 1983: Otl Aicher: Gehen in der Wüste (Reisebericht)
  • 2018: Christoph Simon: Spaziergänger Zbinden (Roman)

  • Krebber, S.
    Der Spaziergang in der Kunst:
    Eine Untersuchung des Motives in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts
    Frankfurt am Main: P. Lang. 1990
  • Gudrun M. König
    Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs
    Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850
    Böhlau, Wien 1996, zugl. Dissertation, Universität Tübingen 1994
  • Sabine Eickenrodt
    Plötzlicher Spaziergang.
    Der Aufbruch als Topos einer literarischen Bewegungsform bei Kafka und Walser.
    In: Hans Richard Brittnacher, Magnus Klaue (Herausgeber):
    Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert.
    Böhlau-Verlag, Köln [u. a.] 2008
  • Schneider, H. J. E.
    Selbsterfahrung zu Fuss: Spaziergang und Wanderung als poetische und geschichtsphilosophische Reflexionsfigur im Zeitalter Rousseaus
    In: Söring, J.: Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur. Frankfurt am Main 2000, S. 133-154
  • Bertram Weisshaar (Hg.)
    Spaziergangswissenschaft in Praxis: Formate in Fortbewegung.
    Jovis 2013. ISBN 978-3-86859-242-9
  • Pasic, Ana-Marija, Sebastian Polmans
    Der Spaziergang in der Literatur
    Exemplarische Untersuchung anhand der Texte von Robert Walser, „Der Spaziergang“, und Thomas Bernhard, „Gehen“. München GRIN 2008, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:101:1-201010111238.
  • Pfeifer, Annie, Reto Sorg
    „Spazieren muss ich unbedingt“
    Robert Walser und die Kultur des Gehens.
    Paderborn : Wilhelm Fink, 2019. Tagungsband, darin:

Spazieren-Müssen in der 'Jetztzeit' : Robert Walsers Spaziergang als Ich-Novelle
Weltwahmehmen : Weltzurichten : die Programmatik der Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt
Gangarten der Aufklärung : Lessing
Walking is NotWriting : Performance and Poetics in Walser's der Spaziergang
Wo spielt Walsers Spaziergang? Stichworte zu seinem kultur- und literaturgeschichtlichen Ort
Der Spaziergang im Fassungsvergleich
„Die Verbindung mit der lebendigen Welt“ : Robert Walsers Ästhetik der Evidenz
Schreiben gehen : zu Robert Walsers idiografischer Beweglichkeit
Translating der Spaziergang : Translation as Walk
„Taking a Line for a Walk“ : Walser and Visual Ornament
Speed Politics : Walsers Gangarten und Gehtempi im Kontext seiner Poetik der Mobilität
The Walker as Collector
„Gott geht mit den Gedankenlosen“ : Versuch über den O-Ton in Robert Walsers Fortbewegungskunst
Der Spaziergang in Paul Klees künstlerischem Schaffen
'Promenades architecturales' : Robert Walsers Wohnungswanderungen
„Uns ist es nun einmal beschieden, spazieren zu gehen“ : Zu Carl Seeligs Wanderungen mit Robert Walser
Between Streetwalking and Flänerie : Rethinking Female „Fortbewegung“

wiki/spaziergang.1623644644.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/06/14 04:24 von norbert

Donate Powered by PHP Valid HTML5 Valid CSS Driven by DokuWiki