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wiki:reisegoetter

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Reisegötter

Gefahren

Reisende setzen sich dem Unbekannten aus. Dies beginnt mit dem Überschreiten der Schwelle, setzt sich fort beim Verlassen der Siedlung durch das Tor und durch den Zaun, der die Felder einhegt. Reisende folgen dem Pfad, einem Weg, einer Piste durch die Wildnis, insbesondere beim Durchschreiten von Gewässern oder Überschreiten von Pässen, dem Wetter ausgesetzt und den wilden Tieren. Das Unbekannte weckt Angst vor Gefahren und ein Bedürfnis nach Schutz und Orientierung. Bevor es Impfungen, Reiseführer und Ausrüsterläden gab, waren dafür Reisegötter zuständig. Reisegötter versehen daher ihre Aufgaben insbesondere an Kreuzungen, Pässen, Furten, Quellen, Oasen usw., oft erinnert ein *Steinmann daran sie anzurufen, im tibetischen Himalaya sind es Gebetsfahnen, in Europa auch Feldkreuze.

Reisegötter

»Reisegötter« (engl. travel deities) sind Schutzgottheiten, die angerufen werden, wenn reisetypische Schwellen und Grenzen überschritten und sicherheitsstiftende Ordnung verlassen werden. Man kennt sie in den Altertumswissenschaften als Türgottheiten und als Wegegottheiten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie an Übergängen wirken, dort, wo richtungsweisende Entscheidungen zu treffen sind. Aus dieser Sicht werden sie auch *liminal deities genannt und psychologisch-anthropologisch interpretiert, weil die Übergänge nicht nur äußerlich sondern auch innerlich erfolgen.

Grenzgänger

*Grenzgänger, die solche Übergänger selbstverständlich passieren oder sogar immer wieder lustvoll suchen, gelten als faszinierend, jedoch suspekt. Die *Abenteurer der Moderne gehören dazu, Ritter ebenso wie Helden, aber auch Hexen, Schamanen, Eremiten, die Angehörigen des Fahrenden Volkes und manche Reisende.

Nomadische Wurzeln

Das Bild des »guten Hirten« hat als Metapher bis heute überdauert: bärtig, groß und stark, voller Lebenskraft, gegen Mensch und Tier gerüstet schützt er seine Herde. Seine Attribute decken sich denen der Reisegötter und mit denen der Fürsten - weltlicher ebenso wie geistlicher. Es scheint, als bezögen diese Reisegötter ihre Kräfte aus der nomadischen Kultur von Abel im Gegensatz zum hausbauenden Schmied Kain:

  • Der Hund wurde zuerst zum Begleiter des Nomaden und ist ein Symbol für Schutz.
  • Ziegen stehen für Fruchtbarkeit, der Ziegenbock für Männlichkeit; sie wurden von nomadisierenden Hirten domestiziert
  • Das Rad und der *Wagen stammen aus der nomadischen Kultur, sie symbolisieren Beweglichkeit und Lebe.
  • Der Stab ist für Nomaden bis heute wichtigstes Werkzeug und Waffe
  • Das Überschreiten von * Grenzen führt bis heute weltweit zu Konflikten zwischen Nomaden und Seßhaften.

Schutzgottheiten

Manche Schutzgottheiten haben christlich geformt bis heute überdauert, so etwa * Christophorus als Schutzpatron der Reisenden. Ihm vergleichbar finden sich als Beschützer der Reisenden:

  • Hekate galt bereits in vorgriechischer Zeit als Göttin der Wegkreuzungen, Schwellen und Übergänge. Sie bewachte die Tore zwischen den Welten, hatte Zugang zur Unterwelt. Ihr wesentliches Attribute war die Fackel, sie wird mit Hunden zusammen gezeigt und mit Hermes verbunden, beide werden an Vollmond verehrt. Ihre Beinamen sind unter anderem: Enodia (die am Wege), Kleidukos (die Schlüsseltragende), Phosphoros (Lichtbringerin), Propolos (Führende), Propylaia (Torhüterin), Trioditis oder Trivia (Dreiwege). 1)
  • Der griechische Gott Hermes schützte die Reisenden, als Hermes Kriophoros trägt er ein Lamm (das spätere Sinnbild für Christus) auf den Schultern. Der Hermesstab (lat. Caduceus) wird von zwei einander anblickenden Schlangen umwunden; auf dem Kopf trägt Hermes den geflügelten Reisehut 2). Der Hermeskult ist der älteste der griechischen Mythologie; der Tierträger ist ein Hirtengott und »Hundebezwinger«. Hermes begleitet die Seelen der verstorbenen in die Unterwelt und übergibt sie dem Fährmann Charon, der sie über den Totenfluss Styx bringt. Hermes ist auch als Bote der Götter immer unterwegs. Seine Botschaften fordern Einsicht und Verständnis; noch heute bezeichnet man die Wissenschaft vom »Deuten und Verstehen« als Hermeneutik.
  • Der römische Mercur, benannt nach merx, dem Markt, ist ein Beschützer der reisenden Kaufleute und ebenfalls Götterbote und Seelenbegleiter, gleicht mit Flügelhut und Schlangenstab 3) völlig dem Hermes, nur dass sein Totenfluss Acheron heißt, außerdem trägt er meist einen Geldbeutel (marsupium). Sein Beiname Chrysorrhapis 4) verweist auf den goldenen Stab; ein Widder und sein Ruf als Erfinder des wollenen Mantels verweisen auf seine Hirtenwurzeln.
  • Der etruskische Gott Turms ist wiederum absolut identisch mit Merkur, zeigt dieselben Merkmale. 5)
  • Im nördlichen Europa verschmolz Merkur mit dem keltischen Reisegott Cissonius zu Mercur Cissonius, der ebenfalls mit Flügelhut und Heroldsstab dargestellt wurde; sein Name wurde als Tapferer oder auch (Ziegen-)Wagenfahrer gedeutet. Ebenfalls römisch-keltisch ist Mercurius Arvernus.
  • Den vorigen vergleichbar bringt in der ägyptischen Mythologie Anubis die Seelen der Verstorbenen zum Fährmann Thot, der sie über den Totenfluss Eridanos geleitet. Anubis wird vorwiegend mit einem Hunde- oder Schakalkopf dargestellt sowie mit einem spiralfömigen, gegabelten Was-Zepter; welches gedeutet wird als Phallus-Symbol und als Stock, mit dem Schlangen gefangen wurden.
  • Pushan 6) ist ein vedischer Gott aus der Rigveda, der Wächter der Wege und Beschützer der Reisenden, er begleitet auch die Toten in die Unterwelt. Er schützt die Haustiere und führt Vieh gesund in den Stall zurück. Dargestellt wird er als bärtiger Mann mit Speer und einem von Ziegen gezogenen Wagen. Die Kundalinischlange umwindet den Lingam. Pushan verkörperte Aspekte, die später Shiva zukamen. Er war als vedischer Gott jedoch weit älter und wird dem viehzüchtenden vedischen Stamm der Bharadvajas zugeordnet, hier insbesondere den Ziegen zugehörig. »All this almost indicates the Indo-European infra-structure for the common ancestor of Pusan and Hermes.« 7)
  • Kṣitigarbha (Sanskrit), ein Bodhisattva, ist in Indien seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. nachweisbar und wurde in ganz Asien populär als Dìzàng (chin.), Jizō (jap.), Địa tạng (vietn.), ji jang (kor.) 8). Kṣitigarbha trägt einen Mönchsstab (khakkhara) und gilt als Beschützer von Kindern und Reisenden sowie als Begleiter in die Unterwelt.
  • Als Jizō ist Kṣitigarbha in Japan einer der Dōsojin (Gottheiten der Wege, Straßen und Grenzen) und geleitet verstorbene Kinder über den Totenfluss Sanzu in die Unterwelt. Er wird durch Steine (oft in Phallusform) am Wegesrand repäsentiert, insbesondere an Dorfgrenzen, Gebirgspässen, Kreuzwegen und Brücken 9)
  • Funato no Kami ist in der japanischen Shintō-Religion der (phallische) Gott der Wege, erkennbar am Stock 10)
  • Dem lithauischen Reisegott Kielu Dziewos (auch: Kelių/Keliu dievas, Kellukis) wurde in Steinen am Wegesrand gehuldigt, ebenso wie es die Hermes- oder Merkursteine am Weg gab, insbesondere an Kreuzwegen.
  • Im germanischen Götterhimmel entspricht ihnen Hermodr, der Mutige. Er reitet auf dem achtbeinigen Sleipnir in die Unterwelt und begegnet der Totengöttin Hel, gilt als Götterbote und Schutzherr der Boten.

Das Profil der Schutzgottheiten

Das Bild dieser »Reisegötter« weist zwischen Nordeuropa, Ostasien und dem südlichen Indien wiederkehrende Merkmale auf 11). Sprachwissenschaftlich besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Pushan, Pan und Hermes 12). Rekonstruiert wurde ein gemeinsamer proto-indo-europäischer Gott *Péh₂usōn 13). Diese Reisegötter sind:

  • Grenzbewacher (engl. liminal deities) an Straßenkreuzungen, Pässen, Übergängen
  • Beschützer des Handels an den Stellen der Begegnung
  • Boten der Götter mit dem Heroldsstab:
    Cissonius, Merkur, Hermes, Thot;
  • Psychopompos, Seelengeleiter vom Diesseits ins Jenseits:
    Hermes, Anubis, Christophorus
  • Helfer bei Übergängen:
    • einer der 14 Nothelfer: Christophorus
    • einer der 12 olympischen Götter: Hermes
    • einer der 12 Adityas, vedischen Schutzgottheiten: Pushan
    • einer der shintoistischen Dōsojin: Jizō
  • Sohn des Göttervaters:
    Anubis: Sohn des Sonnengottes Re; Hermes: Sohn von Zeus und Maia; Hermodr: Odins Sohn.
  • Symbol der Lebenskraft, etwa mit dem Stab als Phallussymbol und Steinen wie dem indischen Lingam;
  • Symbol der Heilkraft, etwa mit den Schlangen, die den Stab umwinden, oder der Kundalini-Schlange;
  • Symbol der Sonne, mit dem Rad und dem von Ziegen gezogenen Götterwagen:
    Thor, Cissonius, Mercurius Gebrinius (gallisch gabros: Widder), Pushan;
  • werden an Steinhaufen oder über Steine verehrt:
    • der acervus mercurii 14)
    • der Steinhaufen des Merkur
    • die Hermes-Steine
    • die Phallus-Steine des Jizō
    • der Lingam im Hinduismus
    • die Steine des Kielu Dziewos

Bevor es Haustiere gab, wurde ;
in den christlichen Kirchen steht der Krummstab für den guten Hirten und symbolisiert kirchliche Macht;
als Insignie der Macht ist er seit rund 5.000 Jahren nachweisbar (ägyptisches Altes Reich). Fernmobilreisende mögen darin manches auch heute noch wiederfinden.


Hans Findeisen
Das Tier als Gott, Dämon und Ahne
Kosmos Bändchen 209 Franck'sche Buchhandlung 1956
Adam Breysig
Wörterbuch der Bildersprache oder
kurzgefaßte und belehrende Angaben symbolischer und allegorischer Bilder (etc.)

mit 3119 lithographischen Monogrammen und einer Karte
Friedrich Christian Wilhelm Vogel Leipzig 1830

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1)
S. I. Johnston
Crossroads
Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 88 (1991) 217–224
2)
Rolf Hurschmann
Petasos
In: Der Neue Pauly (DNP). Enzyklopädie der Antike
Band 9, Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01479-7, Sp. 660
3)
Aloys Ludwig Hirt
Götter und Heroen der Griechen und Römer
nach alten Denkmälern bildlich dargestellt auf XLVII Tafeln, nebst deren Erklärung.
August Rücker, 1826
4)
Χρυσόῤῥαπις, der goldene Ruthenträger
5)
Masssimo Pallotino
Etruskologie: Geschichte und Kultur der Etrusker
Springer 1988
6)
Laurie L. Patton
Bringing the Gods to Mind : Mantra and Ritual in Early Indian Sacrifice
Berkeley University of California Press 2005
7)
Sukumari Bhattarcharji
The Indian Theogony
A comparative study of Indian mythology. From the Vedas to the Puranas
Delhi 1988, s. z.B. S. 187, Fussnote 1
8)
Heinz Bechert
Der Buddhismus I: Der indische Buddhismus und seine Verzweigungen
Kohlhammer Verlag 1999, Kap. 1.3 Kṣitigarbha [Jizō]
9)
Martin Kraatz
Jizō Bosatsu: Ein buddhistischer „Heiliger„ in Japan
Photographien und Gegenstände. Begleitheft zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Marburg, 6. September - 23. Oktober 1994
Marburg: Religionskundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg 3
10)
Karl Florenz
Die historischen Quellen der Shintō-Religion
Aus dem Altjapanischen und Chinesischem übersetzt und erklärt.
1919, S. 139
11)
H. Collitz
Wodan, Hermes und Pushan \\Festskrift tillägnad Hugo Pipping pȧ hans sextioȧrsdag den 5 November 1924, S. 574–587
12)
M. L. West, Morris West\\ Indo-European Poetry and Myth
OUP Oxford, 2007 ISBN 9780199280759
Kap. 7 Nymphs and Gnomes
13)
Mallory, J. P.; Adams, D. Q.
The Oxford Introduction to Proto-Indo-European and the Proto-Indo-European World. England: Oxford University Press 2006, S. 434. ISBN 978-0-19-929668-2
14)
Joh. Cunradi Dieterici
Antiquitates Biblicæ, in quibus decreta, prophetiæ, sermones, consuetudines
Sumptibus Jacobi Godofredi Seyler, 1671, S. 513 f.
wiki/reisegoetter.1592120876.txt.gz · Zuletzt geändert: 2020/06/14 07:47 von norbert

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