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wiki:reisefuehrer

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Die Wahl des Reiseführers

Reiseführer bilden zusammen mit Karten und Apodemiken das objektiv-nützliche Segment der Reiseliteratur; ihre älteste und einfachste Form ist das Itinerar.

Der mögliche Zweck eines Reiseführers

Ein Reiseführer ist sinnvoll, wenn

  • man Angst hat vor dem Unbekannten
    dann gibt der Reiseführer eine gefühlte Sicherheit, die hilft Risiken zu vermeiden;
  • man die Reisezeit optimal nutzen will
    dann ist der Reiseführer ein Handwerkszeug mit Adressen, Zeiten, Preisen …;
  • man neugierig ist auf Land und Leute
    dann ist der Reiseführer ein textorientierter Materialienband mit Fakten über Architektur, Land, Leute, Sprache, Kultur …
  • man den Genuß auf die Reise schon in der Vor-Reisezeit kitzeln möchte
    dann ist der Reiseführer ein »erotisches« Coffeetable-Buch für die Phantasie: zum Blättern, mit Bildern, Fotos, Anekdoten, Anregungen …

Der praktische Nutzen eines Reiseführer

Einmal unterwegs verengt sich der Zweck eiens Reiseführers auf den praktischen Nutzen, er wird zum Kompendium, der dem Reisenden in Alltagssituationen optimal hilft. Ein nützlicher Reiseführer für Individualreisen:

  • erleichtert die alltägliche Suche nach Verkehrsmitteln, Übernachtung, Essen & Trinken.
    Also: Bei allen Orten wird ein repräsentatives Angebot hinsichtlich der Kriterien Geld- & Zeitersparnis, Bequemlichkeit, Sauberkeit … vorgestellt.
  • erleichtert den Umgang mit dem Land und dessen Menschen.
    Also: Landesübliche Zustände und Verhaltensweisen, Strukturen und Funktionen werden dargestellt, Möglichkeiten zur Konfliktvermeidung und zur Anpassung werden empfohlen.
  • erleichtert es, ihn ständig zu nutzen.
    Also sind bei möglichst geringem Umfang (und Gewicht) möglichst viele Informationen möglichst einfach zugänglich. Alle Inhalte sind daran zu messen, wie klar und direkt sie diesen Zwecken dienen: Texte & Bilder, Karten & Register, Exkurse & Verzeichnisse …

So schlank kommen allerdings die wenigsten Werke daher. Alles, was über dieses Notwendige hinausgeht, spiegelt die besonderen Interessen von Autor, Verleger und Lektor, die sich wiederum am Markt orientieren. Bezahlen und schleppen muß es der Reisende. Er hat daher das Recht zu erfahren, was ihm zwischen den beiden Buchdeckeln angeboten wird. Gut, wenn der Verlag es offen anpreist, als: Kulturreiseführer, Reiseführer für umweltbewußtes Reisen, Bildreiseführer, Gruppenreiseführer …

Zusatzangebote machen die Reiseführerreihen unterscheidbar, sie entscheiden oftmals den Kauf. Aber liefern sie wirklich einen zusätzlichen Nutzen? Oder geht das erweiterte Angebot auf Kosten der grundlegenden Funktionen?

Geht's nicht auch ohne Reiseführer?

Ein Reiseführer tut genau das: Er führt den Reisenden so, wie das Schienennetz die Züge führt. Man kommt nicht überall an, aber wenn man Glück hat, kann man umsteigen. Im Ausland und in einer neuen Umgebung birgt der Reiseführer eine jedoch eine besondere Gefahr. Manch ein Nutzer neigt zur Ansicht: Was nicht im Reiseführer steht, existiert auch nicht. Wer so reist, für den wird das Reiseziel zum Spiegelbild des Reiseführers. Er vollzieht ausschließlich nach, was der Autor des Reiseführers in Worte und Werte gefaßt hat.

Auf die Sicherheit des Reiseführers zu verzichten, eröffnet neue Räume. Ein Trost mag sein, daß die Sicherheit des Reiseführers eine trügerische ist, denn man findet ja nur eine Information, die

  • mindestens ein Jahr alt ist (Recherche plus Schreiben plus Verlegen … - das dauert)
  • oft auf einer einmaligen Erfahrung beruht (und dann zufällig und willkürlich ist)
  • bewertet aus der besonderen Sicht eines erfahrenen, sprachkundigen, landeskundigen Autors (der vielleicht die Probleme eines unerfahrenen, sprachunkundigen, verängstigten Urlaubers nicht mehr versteht)

Weshalb also nicht gleich auf den Reiseführer verzichten und eigene Erfahrungen machen? Das erfordert natürlich eine abenteuerliche Einstellung! Dafür gibt es wertvolle Vorteile:

  • man macht eigene Entdeckungen und kann stolz darauf sein
  • man verläßt die Pfade, die alle Nutzer des Reiseführers wandeln
  • Neues erscheint unerwartet und wird zum tieferen Erlebnis

Entwickeln Sie eigene Reisesysteme, beispielsweise

  • Das System der kleinstmöglichen Abzweigung: Wählen Sie von zwei Wegen immer den kleineren, unscheinbareren, den alle anderen nicht gehen.
  • Das System des Zufalls: Formulieren Sie jeden Tag mehrere Reisealternativen und würfeln Sie dann eine aus.
Rachael Antony, Joël Henry
The Lonely Planet Guide Experimental Travel
Lonely Planet Australien 2005
Pappband 13,5x20 cm: 276 Seiten, zahlr. Textabb.

»Die Welt ist nicht mehr das, was sie mal war.« Globetrotter gibt es auch nicht mehr. Und überhaupt war früher alles früher. Solche Einstellungen scheinen auch in der englischsprachigen Travellerszene verbreitet zu sein, denn wie sonst ließe sich die Existenz dieses Buches erklären?
Wenn alle Meere befahren, alle Gipfel erklommen sind, wenn der Internetanschluß noch in der letzten Hütte zu finden ist, dann ist das Abenteuer aus der Welt. Es gibt nicht Einzigartiges mehr, daß sich reisend erreichen und zuhause kommunizieren ließe.
Dann ist die Zeit gekommen, experimentell zu reisen (das im Wortsinn über *per mit den Wörtern Ferne, Gefahr und Erfahrung verwandt ist). Kreative Globetrotter lassen sich was einfallen. Deren Ideen finden sich hier versammelt. Dieses Nachschlagewerk für jeden Globi, der schon alles gesehen hat ermöglicht den Zugang in völlig neue Welten des Reisens. 40 Reisemethoden werden vorgestellt; jedes der 40 Kapitel gibt dabei das Ziel an, nennt die Ausrüstung und beschreibt kurz die Methode, abschließend werden Erfahrungen berichtet. Am Beispiel von »Rent a tourist« geht das so:
»Explore the working life of the city and learn about the locals by renting yourself out to help with daily chores.«
Ausrüstung: »Paints or pens to make a sign, a sales pitch and a device to draw attention to yourself (eg loudspeaker, red flashing light).«
Methode: »Stand in the main square or plaza with a sign advertising yourself as a tourist “for rent”. If you have time, consider handing out a flyer tha lists your possible duties …«
Einige der anderen experimentellen Reiseformen lauten: Aesthetic Travel, Anachronistic Adventure, Ariadne’s Thread, Bureaucratic Odyssey, Dog Leg Travel, Ero Tourism, Experimental Honeymoon, Horse Head Adventure, Monopoly Travel, Slow Return Travel, Trip Poker … Natürlich gibt es auch Mascot Travel, aber das Gartenzwerg-Reisen ist ja in der dzg schon lange bekannt.

Erscheinungsjahr & Auflage - Maßstab für Qualität?

Was bedeutet die Jahreszahl »2021« auf den ersten Seiten des Buches? Den Zeitraum der Recherche durch den Autor? Den Redaktionsschluß? Den Abschluß der Redaktionsarbeit oder den Zeitpunkt der Drucklegung oder den der Auslieferung? Dazwischen können Monate oder gar Jahre liegen!

Test-Tip: Wurden touristisch bedeutsame Änderungen aus den letzten 12 Monaten berücksichtigt: ein neuer Flughafen, eine andere Währung, neue Vorwahlen, der Einreisebestimmung …? Bei Ländern mit deutlicher Inflationsrate läßt sich am angegebenen Wechselkurs der Aktualisierungszeitpunkt abschätzen.

  • Die erste Auflage kann ein Schnellschuß sein. Sie kommt immer unter Zeitdruck zustande, denn man möchte ja die aktuellen Rechercheergebnisse schnell nutzen und das noch vor der Reisesaison. Fehler sind dann kaum vermeidbar.
  • Die zweite Auflage erscheint bei einem erfolgreichen Band vielleicht schon im folgenden Jahr. Man wird ein wenig nachrecherchieren und die dicksten Fehler beseitigen, die seit der ersten Auflage aufgefallen sind. Der Verlag möchte Geld und Zeit sparen und versucht, Änderungen auf möglichst wenige Seiten (Druckbögen) zu beschränken, um Kosten zu sparen.
  • Die »verbesserte« Auflage hat mindestens die gröbsten Fehler ausgemerzt - daher ist die 2. Auflage oft besser als die erste! In der »aktualisierten« Auflage sollten alle Daten überprüft und angepaßt worden sein: Adressen, Telefonnummern, Preise, Zeiten…
  • Die dritte Auflage mag deutlich erweitert sein oder einen zusätzlichen Nutzen bieten, denn der Autor hat neue Ideen, rezensenten und Leser haben Kritik geäußert und der Verlag braucht ein zusätzliches Werbeargument.
  • Die »erweiterte« Auflage ist inhaltlich gewachsen; eine »überarbeitete« Auflage sollte strukturell und inhaltlich verändert sein. Aber was ist eine »durchgesehene« Auflage? Und hatte das »durchsehen« auch Konsequenzen?
  • Spätestens ab der vierten Auflage läßt sich wohl annehmen, daß ein Reiseführer vom Publikum dauerhaft wohlwollend beurteilt wird.

Wie unterscheiden sich die Reiseführer-Reihen und Verlage?

Heute preisen sich für jedes Reiseziel gleich mehrere Reiseführer an. Welcher mag der Richtige sein? Die Informationsflut verlangt den mündigen Leser, doch der suchende Käufer beschränkt sich meist auf das, was im Regal des Buchladens verfügbar ist. Er blättert hier und da und wählt schließlich, was ihn „irgendwie“ anspricht. Eine Entscheidung, die sich wohl eher psychologisch als rational begründen läßt.

Das Wesen eines Reiseführers ist es, den Reisenden Sicherheit zu geben, sie durch ein für sie unbekanntes Gebiet zu führen, ihnen das Reisen zu erleichtern. Das setzt Unsicherheit voraus, Angst vielleicht. Viel aufregender ist es jedenfalls ohne Reiseführer. Vielleicht, mag sich mancher Verleger denken, läßt sich den Leuten Sicherheit ja auch anders vermitteln. Vielleicht genügt es, ihnen ein sicheres Gefühl zu geben. Der umfangreiche, eng bedruckte Reiseführer mag ja vielleicht bucherfahrene Vielreisende anlocken. Aber ist es nicht die massenhafte Information, die viele Reisende erst recht verunsichert? Wer hilft ihnen, unter zehn angegebenen Hotels das „richtige“ auszuwählen? Wer kümmert sich um diese viel zahlreicheren, unerfahrenen Leser? Kann man ihnen die Welt nicht leichter verdaulich servieren? Suggeriert ihnen ein überschaubarer, dünner Reiseführer, daß die Welt ebenso überschaubar ist? Daß Reisende, die sich auf den wenigen Seiten zurechtfinden, sich auch am Reiseziel nicht verlieren können? Und können nicht auch Bilder ein Gefühl der Vertrautheit schaffen? Vorausgesetzt, die Bilder zeigen nicht Unheimliches und Unerwartetes, sondern reproduzieren das Erwartete. Dann wird die Information von der Präsentation verdrängt. Ein Fanfarenstoß für jeden Info-Happen!

Reiseführer und Sprachen

Wörter zu übersetzen hilft in einfachen Situationen, wenn Gestik und Mimik den fehlenden Kontext ersetzen. Ein Wörtebruch ist aber kein Sprachführer, je weniger, desto unterschiedlich die uns fremde Kultur ist. Die Kommunikation in China ist aus mancherlei Gründen besonders schwierig:

  • Erstens entscheidet die Tonhöhe einer Silbe über deren Sinn. Die mehr als 300 Silben sind alle vieldeutig, Mißverständnisse gedeihen prächtig.
  • Zweitens müssen viele unserer Begriffe bildhaft und kreativ umschrieben werden, da die geringe Silbenzahl nicht erweiterbar ist. „Deutsche Zentrale für Globetrotter“ kann beispielsweise übersetzt werden als „kreisen-Ball reisen-Mensch tugendreich Mitte-Herz“: Ball steht für „Erde“, als tugendreich werden die Deutschen bezeichnet, Mitte-Herz ist die Umschreibung für „Zentrale“.
  • Drittens gibt es nahezu keine Grammatik. Da freut man sich erst, stellt aber schnell fest, daß wir gar nicht so einfach denken wie Chinesen formulieren.
  • Viertens wird ein Wort in verschiedenen Landesteilen verschieden ausgesprochen. Wurden unsere Zahlen in Kashgar einwandfrei verstanden, so strahlte uns im 200 km entfernten Yecheng bereits Verständnislosigkeit entgegen.

Unterwegs führten wir vier verschiedene Sprachführer und Wörterbücher mit. Alle versagten mehr oder weniger bei der Lautschrift: Wenn wir ablasen, was dort stand, verstand uns niemand. Es konnte höchstens als Gedächtnisstütze für bereits Gelerntes dienen.
Die Wort- und Phrasenauswahl geht oft an der Realität vorbei. Beispiel: Die oft seitenlangen Menüs lassen sich nicht entziffern, denn die Sprachführer bieten oft nur Zutatenlisten, während im Menü die Zubereitungsart genannt ist oder das Gericht einen besonderen Namen hat: Ungekochter Reis wird anders bezeichnet als gekochter oder gebratener Reis.
Was also kann man tun? Sonja hatte bereits in Köln einige Monate Chinesisch gelernt, Mandarin natürlich. Einerseits bekam sie bereits die Schwierigkeiten zu spüren, die uns später erwarteten, andererseits ließen sich die Tonhöhen üben, ein erstes Sprachgefühl entwickeln.
Ein Sprachführer sollte groß und deutlich die Charaktere (Schriftzeichen) enthalten, denn Zeigen ist immer noch die beste Möglichkeit, sich verständlich zu machen. Ein Wörterbuch, natürlich ebenfalls mit Charakteren, ist im Chinesischen besonders nützlich. Fürs Restaurant bewährt sich ein Zeigewörterbuch mit Fotos von Gemüsen, Obst, Tieren etc. Aber auch diese Fotos präsentieren sich mit unterschiedlichen Vorstellungen. Man will ja kein Lamm am Tisch stehen haben, sondern ein Lammkotelett auf dem Teller. Elektronische Übersetzungshilfen sind da nicht grundsätzlich anders.


siehe auch:
* Sprachen
* Fachbegriffe

Reiseführer und Karten

Ein Reiseführer ohne Karte ist wie ein Surfboard in der Wüste. Doch was genau sollen Karten in Reiseführern? Sie

  • vermitteln dem Reisenden zunächst eine abstrakte Vorstellung der Region oder des Ortes;
  • ermöglichen zweitens das Planen einer Fahrt oder Wanderung und
  • erleichtern drittens die * Orientierung.

Nur mit durchdachter * Kartographie werden diese Ziele erreicht. Dazu muß sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, übersichtlich bleiben und zu den Angaben im Text passen. Es ist mühsam und langwierig, solch eine gute Karte zu zeichnen. Einige Tests helfen, gute und schlechte Karten zu erkennen:

  • Lassen sich die im Text erwähnten Orte, Straßen, Sehenswürdigkeiten … in der Karte finden?
  • Ist die Bedeutung von Straßen erkennbar, z.B. als Autobahn, Haupt- und Nebenstraße? Helfen Namen oder Nummern sie zu finden?
  • Ist am Kartenrand angezeigt, wohin die Straßen führen, z.B. in welche Stadt?
  • Sind Nordpfeil und Maßstab angegeben, damit Richtungen und Entfernungen gefunden werden können?
  • Ist der Reisealltag berücksichtigt: Bank, Bahnhof, Busbahnhof, Post, Information, Hotel, Buchhandlung, Geschäfte, Parkplätze …?
  • Sind wichtige Orientierungspunkte eingezeichnet: Kirchen, Gipfel, Funkturm, Brücken, Bahnlinien, Märkte, Plätze …?
  • Sind Farben, Schriften und Signaturen deutlich zugeordnet, übersichtlich angeordnet und entsprechend ihrer Bedeutung gewichtet?
  • Enthält die Karte Legenden mit Nummern sowie größere leere Flächen? Dann ist der Maßstab unangemessen oder man hat sich eine Ausschnittkarte gespart.
  • Und schließlich: Hilft die Karte, sich den Ort oder die Region vorzustellen?
Wolfram Schwieder
Richtig Kartenlesen
P. Rump Bielefeld 1999
10,5x17: 160 S., zahlr. Abb.

Landkarten werden häufig unterschätzt, doch sie bieten eine Informationsflut für den, der sie zu lesen versteht. Gerade da mangelt es bei vielen Reisenden. Dieses informative und nützliche Buch schließt eine Lücke: mit ihm läßt sich viel über Karten lernen, wie man sie sinnvoll kauft, nutzt und interpretiert. Der Autor ist Reisender und Geograph, war Landkartenhändler und ist Lektor bei “einem Bielefelder Verlag”: Seine Erfahrungen, Theorie und Praxis, hat er angemessen gemixt. Nur die Abbildungen sind schon arg klein geraten.

Erfahrungen mit Reiseführern

Schaut man sich die Entwicklung von Reiseführern für die Zeit nach 1945 an, so erreicht der Reiseführermarkt in den 1990er Jahren seinen Höhepunkt. Nie gab es so viele Titel zu so vielen Zielen, nie war die durchschnittliche Informationsqualität höher, die Karten besser. Mehrere Kräfte wirkten seither einschränkend:

  • die Konzentration des Reisebuchmarktes und das tendenzielle Ersetzen von Autoreninhalten durch Redaktionsarbeit auf der Basis von Scouts und Internet
  • die Orientierung auf auflagenstarke Zielgruppen (zu denen weder die Individualisten noch die ausgefallenen Reiseziele gehören)
  • die objektive wachsende Unsicherheit durch zerfallende Staaten, den Tourismus als Ziel für Attentate
  • das subjektiv zunehmende Bedürfnis nach Sicherheit, das im Euro-Raum, den Schengenstaaten und innerhalb der EU-Außengrenzen eher gewährleistet scheint
  • die abnehmende Wertschätzung des Buches als Medium gegenüber fluiden Formen der Informationsübermittlung (social media) und neuen Medien (Smartphone)
  • die abnehmende Fähigkeit, Informationen zu bewerten: wahr oder fake, objektiviert oder subjektiv, Fakt oder Meinung usw.
  • die zunehmende Angst, der political corrrectness nicht zu genügen verbunden mit der Befürchtung rechtlich belangt zu werden
  • die Kosten für Papier und Druck sanken, so dass Hochglanz und Farbe als Verkaufsargument gewannen

Mitte der 90er Jahre schimpften wir noch über (englischsprachige) Reiseführer: Typisch war die Einteilung in Bottom End, Middle und Top End-Kategorien für Unterkünfte. Hier entwarf besonders der “Central Asia” ein seltsames Bild mit einer erstaunlichen Fülle an Unterkünften, die selbst die Autoren bezeichnen als: “drab, doggy, grotty, vagrant, dubious, creepy, seedy, slapped up …” Was darf man darunter verstehen? Lässt sich das auch objektivieren und am Beispiel präzisieren? Ruhige, sichere, angenehme Unterkünfte finden sich unter “Ferner liefen …”
“The restaurant is grand, the food disappointing, but a small bufet has some Uzbek dishes.” Vermittelt wird die Enttäuschung des Autors, nichts erfährt man über den angelegten Maßstab, also bleibt der Informationsgehalt gleich Null.
Immer wieder steht der Preis im Vordergrund - billig, billig, billig - immer wieder: “… check prices!” Preiskampf wird zum Sport. Es triumphiert, wer eine Dienstleistung möglichst billig ergattert und sich empören kann: “… exorbitant 5 Yuan …” Muss man die Angst schüren, übervorteilt zu werden? Gibt es denn nur diese eine Art zu reisen: Nämlich die billigste, noch weniger zu zahlen als ein Einheimischer der Mittelklasse? Ich genieße es, zu handeln – aber ständig aufs Geld zu sehen, sich in ein Maximum zu verbeißen, das verdirbt den Spaß. Soll ich ernsthaft darauf bestehen, für ein Dal ebenso wenig zu zahlen wie ein Rikscha-Wallah?

Der Wertewechsel vollzog sich rasch. Die eher diffamierenden Begriffe verschwanden. Jede Adresse, die im Reiseführer genannt wird, merkt den steigenden Umsatz. Nnun wird über jede Unterkunft fast ausschließlich Positives berichtet, hier am Beispiel Varanasi:

  • Dieses hat einen Innenhof ( weil es ringsum total zugebaut ist)
  • ein anderes bietet kostenlos Eimer mit heißem Wasser (weil es keine Duschen hat)
  • ein drittes hat einen schönen Ausblick auf den Ganges (nur rumdrehen darf man sich nicht)
  • die Attribute “popular” oder “favourite with budget travellers” lassen auf schmutzige Absteigen schließen
  • der Textanteil über die Kultur schmilzt, die Anzahl der Bilder steigt.

Solche Reiseführer wollen gelesen werden wie Kataloge - entscheidend ist, was nicht gesagt wird.n an, will aber den Kontakt zu seinen Wurzeln zu verlieren. Ob das gelingt?

2008: Aufregung um die Reiseführer von Lonely Planet

von Norbert Lüdtke, erschienen im Trotter 131

On or off the beaten track?

Ein Globetrotter sagte mir vor einigen Wochen, er habe Thailand mit zwei Reiseführern bereist, dem von Loose/Doring und dem von Lonely Planet. Den Lonely Planet habe er dort irgendwann liegen lassen. Globetrotter sind Weltentdecker und dabei hilft der LP nicht sehr.

Plagiat, Phantasie, Profit?

Seit dem 13. April überschlagen sich die Medien weltweit. Ein holzschnittartiges Bild entsteht, Lonely-Planet-Reiseführer seien abgeschrieben und kompiliert, ohne prüfende Ortskenntnis per Fernrecherche erstellt und von bestechlichen Autoren verfaßt worden. Doch Fern-Recherche gab es immer schon, Plagiat auch und wann ist Vorteilsnahme verwerflich?

Midas sagt, alle Kreter lügen

Der Lonely-Planet-Autor Thomas Kohnstamm habe laut Interview mit dem australischen „Sunday Telegraph“ zugegeben, große Teile seiner Reiseführer von anderen abgeschrieben und frei erfunden zu haben, berichtet Spiegel Online am 15.4. „Ich habe nicht abgeschrieben, ich habe nichts erfunden“, sagte Kohnstamm. Was er noch gesagt hat - alles sehr vernünftig - findet sich unter http://www.worldhum.com/qanda/item/thomas_kohnstamm_the_firestorm_around_do_travel_writers_go_to_hell_20080414/.

Midas ist Kreter

»Lonely Planet has conducted a review of all Mr Kohnstamm's guide books, but says it has failed to find any inaccuracies in them.« (The Sydney Morning Herald 13. April 2008) Jede andere Aussage wäre glaubhafter, denn: Kann es einen Reiseführer ohne Ungenauigkeiten überhaupt geben?

No Mythos no money

Lonely Planet pflegt den Mythos des schreibenden Reisenden, der am wackligen Teehaustisch seinen Reiseführer tippt: selbst erlebt, selbst entdeckt, authentisch. Er macht den Weg frei für den beaten track auf dem Lonely Planet und sorgt für die Sicherheit und das Wohl aller, die nach ihm kommen.

Doch Reiseführer-Autoren sind zu schlecht bezahlten Rechercheuren geworden, die sich teure Reisekosten sparen oder noch schlechter bezahlte Scouts einsetzen. Reiseführer sind nicht mehr Ausdruck persönlicher Reiseerfahrungen sondern bedienen redaktionell gesteuert Zielgruppenbedürfnisse.

Mit Kritik an falschen Hotelpreisen lebt Lonely Planet schon lange gut, aber der Verlust des Mythos beschädigt die Marke. Möglicherweise ist also ein geschickter Werbetrick von Thomas Kohnstamm für sein Buch erheblich wirkungsvoller ausgefallen als geplant.

Thomas Kohnstamm
Die absolut ehrlichen und völlig schamlosen Bekenntnisse eines professionellen Reiseführer-Autors
Aus dem Englischen von Gaby Wurster
303 S.,   Malik.Piper München 2009  

Zum Nachlesen

Susanne Müller
Die Welt des Baedeker
Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830 - 1945\\
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2012 354 Seiten, ISBN-13 9783593396156

  • Der Trotter 94 (2000) Seite 95-96
    Norbert Lüdtke: Das Reisen mit Lonely Planet
  • Der Trotter 97 (2000) Seite 50-55
    NN: A History of Lonely Planet
  • Der Trotter 115 (2005) Seite 48-52
    Norbert Lüdtke: Die Zukunft der Individual-Reiseführer
  • Der Trotter 119 (2006) Seite 9-16
    Norbert Lüdtke: On the beaten track?
  • WELT 13. Juni 2008
    Benno Stieber: Opfer der Gratiskultur
  • SPON 13. April 2008
    KULTREISEFÜHRER: Lonely-Planet-Autor gibt Fälschungen zu
  • SPON 14. April 2008
    AUTORENGESTÄNDNIS: Lonely Planet prüft Reiseführer
  • WELT 6. Juli 2008
    Eberhard Von Elterlein: Abschied von der Bleiwüste
  • Times Online April 14, 2008
    Steve Keenan: Guidebooks? Don't believe everything you read
  • FAZ 12. März 2010
    Jakob Strobel y Serra: Virtuelle Revolution des Reisens. Was ich weiß, macht mich nicht heiß

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