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Real Life oder Virtual Reality? Reisen in zwei Welten

Von Norbert Lüdtke, 2010 in DER TROTTER. Eine Analyse

1 Die Welten der Globetrotter

Reisen – Lesen – Surfen

myspace, second life, studivz, werkenntwen, facebook und twitter … geben vor, soziale Netzwerke aufzubauen. Ein Account wird angelegt und eine Identität geschaffen. Erfolgreich ist, wer viele Kontakte hat, viele Signale austauscht mit der Welt des Internets und wer fleißig an seinem Profil feilt. Das frißt Zeit. Neue Programme bieten neue Möglichkeiten und fordern neue Geräte, die kennengelernt werden wollen.
User verbringen so immer mehr Zeit vor dem Bildschirm und bauen sich eine * Welt mit eigenen Bildern auf. Das sich im Bildschirm spiegelnde Fenster zur Außenwelt wird zum letzten störenden Schatten einer Alltagswelt, für die immer weniger Zeit übrig bleibt.
Reisende lockt eben dieses Fenster zum Aufbruch in die Welt dort draußen. Aufzubrechen aus dem Gewohnten, neugierig hinauszufahren mit der Lust Unbekanntes zu erfahren und heimzukehren … Die Bewegung der Reisenden wurde früher als Unruhe verdammt, deren experimenteller Lebensentwurf erschien als unstet. Durch die neue Welt des Internets verschiebt sich diese Bewertung in historisch einmaliger Weise: Nun erscheinen Reisende als Bewahrer einer alten Welt und ihre Reisen erscheint langsamer als das Surfen im Cyberspace.
Leser wiederum verwenden Literatur und Journalismus, um sich ihre Welt als Vorstellung zu bilden. Dazu dienen Fiktionen und Filter, denn Journalisten beobachten die Welt professionell, laden Eindrücke mit Bedeutung auf, liefern Nachrichten und Reportage, Glossen und Schlagzeilen. Vor allem aber liefern sie Orientierung, verbinden Leser, Gesellschaft und Welt, synchronisieren das gesellschaftliche Leben.

Leser, User und Reisende verfügen über je eigene Methoden 
sich in ihren eigenen Welten zu orientieren.

In jeder dieser Wirklichkeiten kommt besser zurecht, wer weltoffen Erfahrungen sammelt und Lernbereitschaft mitbringt. Zum Problem wird es, wenn diese Welten zur Flucht aus dem Alltag dienen. Menschen neigen dazu, sich in „Informations-Kokons“ einzuweben, schreiben permanent an einem Drehbuch ihres Lebens. In der Regel wird dieses Drehbuch jedoch durch die Begegnung mit Menschen korrigiert, außerhalb des Kokons, in der Freizeit, am Arbeitsplatz, an der Theke oder im Verein.
Reisende kennen die Spannungen zwischen ihrer Welt und der Welt der Seßhaften; Leser kennen die Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Der armchair-traveller begibt sich lesend auf die Reise, der Reisende schreibt Reiseberichte. Beide wechseln souverän zwischen den Welten. Beide befruchten mit ihren Erfahrungen und Vorstellungen die Alltagswelt, bringen das Neue dorthin, Erlebtes oder Erdachtes.

Synchronisation der Welten

Diese Synchronisation der Welten gelingt (noch?) nicht mit der Welt des Internets. Im Gegenteil, die Spannungen verschärfen sich. Das Internet bedroht die Verlage, den Journalismus und die Bücher existentiell. Es fördert ein Reisen an der langen Leine der Internet-Community und im Rahmen der dort gepflegten Vorstellungen.
Das Internet ermöglicht in einem nie gekannten Maß, die Alltagswelt auszublenden und zu reduzieren auf das, was man sehen möchte. Es ermöglicht zielgruppenspezifische „Echo-Kammern“ – meint der Harvard-Professor Cass Sunstein in Republic 2.0 – und abgeschlossene Communities ohne Außenkontakte. Selbstinszenierung ist in Netzwerken wichtiger als mit der Alltagswelt zu kommunizieren.
Neben die Welt der Dinge (reale Welt) und die Welt des Denkens (sich etwas vorstellen) hat sich mit dem Internet eine Welt der Bilder gesellt. »Die passiv erlebte Bilderfolge tritt an die Stelle der eigenen Denkfähigkeit und schafft … ikonische Untertanen. Das wäre das Ende der Aufklärung, die dazu aufrief, nicht suggestiven Bildern zu erliegen, sondern sich des eigenen Verstandes zu bedienen« schreibt Reinhard Brandt (APuZ 31/2009).

Masse oder Nische oder …?

Aus dem Netz für Spezialisten wurde ein Netz für die Masse. Informationen werden inflationär entwertet, Inhalte banalisiert, Umgangsformen vulgär, Rechte bedroht … Das passt nicht zu den Globetrottern, die gewohnt sind präzise Informationen zu liefern und respektvoll miteinander umzugehen.
Technisch bietet das Internet natürlich Platz für alle, doch ist es ein öffentlicher Raum. Jeder, der eine Domain einrichtet, will beachtet werden. Daraus folgt:

  • Erstens gilt der Anbieter als öffentlich und ist entsprechenden (gesetzlichen) Regeln unterworfen, also muss er seinen Platz diesen Regeln entsprechend gestalten.
  • Zweitens ist das Maß dieser Beachtung begrenzt. Und wer etwas vom Kuchen der Beachtung abhaben möchte, konkurriert mit anderen und muss seinen Platz verteidigen, damit er erhalten bleibt.

Was bedeutet das für uns? Wer Globetrotter sucht oder sich für Reisen in der Welt interessiert, sollte andere Globetrotter finden. Auch wer Gleichgesinnte treffen und Infos austauschen möche, wer Mitreisende sucht, sollte Seinesgleichen finden. Praktisch führen jedoch die meisten Wege auf Internetseiten, auf denen es in erster Linie um Umsatz geht. Mit den Begriffen und Bedürfnissen der Globetrotter wird viel Geld verdient an Kunden, die meist keine Globetrotter sind.
Diese Konkurrenz wird meist hingenommen oder einfach sportlich ausgetragen, als ein Wettstreit der Ideen und Kreativität: Jeder macht das Seine so gut wie er kann. Zunehmend werden Reibungen jedoch offensiv und aggressiv ausgefochten. Eine »Dynamik der Meute« geht von Neidern, Krawallmachern und Wadenbeißern aus, führt zu Mobbing, nutzt beispielsweise Urheber- und Persönlichkeitsrechte.
Die »Dynamik des Marktes« geht von wirtschaftlichen Konkurrenten aus, führt zu Abmahnungen, nutzt etwa Begriffshoheiten, Domainnamen und Markenrecht. Für (alle? viele?) Marktbereiche gilt im Internet: Es kann nur einen geben. Die Größeren fressen die Kleineren, bis hin zu den Randbegriffen und »Long-tail-Angeboten« im Ein-Euro-Bereich.

Es gibt keine Nische im Internet, es gibt lediglich Bedeutungslosigkeit.

Hier müssen sich auch die Globetrotter behaupten mit ihren eigentlich privaten und persönlichen Interessen: als Club (Mitglied), als Treffen (Teilnehmer), als Herausgeber einer Zeitschrift und von Büchern, als Betreiber und Nutzer von Foren und Domains.
Sachlichkeit und Fakten führen allerdings in die Bedeutungslosigkeit; stattdessen sind Ego und Emotion gefragt. Die Inszenierung wird wichtiger als die Nachricht. Das Selfie am Abgrund bringt Klicks. Sloterdijk meint: »Den Grenzwert der Entwicklung markiert die Auto-Pornografie des Celebretariats, das heisst die Selbstentblössung von mediokren Personen, die ihre Trivialität unverborgen zur Ansicht freigeben.«1)
Die Erfahrungen des Reisenden aus der durchreisten Welt sind hier bedeutungslos; die Welt im Internet ist eine Echokammer mit dem Autisten als Held.

Wer sich im Internet unwissend und ungeschützt äußert, wird rechtlich angreifbar.

Je höher der Bekanntheitsgrad und je stärker das Interesse an einer Internetpräsenz und deren Themen, desto mehr Konfliktpotential baut sich auf. Das Internet transportiert auch idelle Aktivitäten in eine breite Öffentlichkeit und stellt hunderttausende potentieller Kontakte her. Domain-Inhaber und User verantworten Klicks und Inhalte und sehen sich daher unter Umständen mit Ansprüchen Dritter konfrontiert, weil einfache User und kleine Anbieter oft unwissend gegen Vorschriften und Gesetze verstoßen, denn sie handeln auf der Basis eines Rechtsempfindens, das sich nicht mit dem tatsächlichen Recht deckt. Die juristischen Regeln sind aber für Große und Kleine, für User und Anbieter immer gleich: Wettbewerbsrecht, Markenrecht, Domainrecht, Fernabsatzgesetz, Telemediengesetz, Datenschutzrecht, Persönlichkeitsrecht usw.

Diesen Konflikten kann nur entgehen, 
wer sich der Öffentlichkeit völlig verschließt und sich dem Internet verweigert.

Relevanz und Werbung

Wer Globetrotter, Outdoor oder Weltreise sucht, wird mit Millionen Treffern zugegoogelt, daher gilt:

Wer bei Google nicht auf der ersten Seite ist, den gibt es nicht.

Suchmaschinen liefern keine individuell-relevanten Antworten sondern überwiegend Irrelevantes, weil sie nämlich weder den Sinn der Anfrage erkennen, noch deren Bedeutung für den User verstehen. Die Relevanz der Suchmaschinen spiegelt vielmehr den Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit und das Ausmaß der Meinungsäußerungen dazu: Was die meisten für gut und richtig halten, wird auch für diese Anfrage gut und richtig sein. Googles Pageranking basiert weitgehend auf Linkpopularität und ist damit kein Maß für den Inhalt oder die Qualität der Seite, sondern wird erzeugt durch Massenverhalten.

Solche Relevanz belohnt den Mainstream populärer Meinungen. 
Die individuell geprägten Globetrotter 
suchen dagegen in der Regel Wege an der Masse vorbei. 

Das Massenverhalten wiederum wird stark durch Werbung beeinflusst. Google dominiert die weltweiten Online-Werbeumsätze. Der Preis für Werbung steigt mit der Anzahl der User. Vier Milliarden Konsumenten, die jeder zehn Cent zahlen für einen Klingelton aufs Handy, sind für die Internetökonomie wertvoll. Vier Milliarden Individualisten mit Werbeblockern bedeuteten deren Ruin. Wer werbefrei im Internet leben möchte, sich nicht glatt und gefällig darstellt, rutscht aus dem Focus der Öffentlichkeit heraus in den nicht relevanten Bereich, in die »Vorhölle«.
»Im Moment steuern wir auf eine Situation zu, in der man im Netz in eine Art Todesspirale kommt und verschwindet, wenn man keine Werbung betreibt. Man taucht dann schlicht nicht mehr oben in den Ergebnislisten der Suchmaschinen auf« So der Internetpionier Lanier im Spiegel, Januar 2010. Auch die Wikipedia-Administratoren sehen Relevanz vielfach als werbliche Relevanz, als massenhafte, quantitative Präsenz, wer dem nicht genügt, erhält einen Löschantrag. Bei Twitter wirbt man möglichst viele »follower« – oder stirbt einsam …

Wer nicht wirbt, stirbt. Nicht zu werben, 
keine Werbung sehen und nicht kaufen zu wollen 
wird im Web 2.0 mit Ausgrenzung bestraft.

2 Wohin geht die Reise?

Das Internet fördert feudalistische Tendenzen

Feudalismus, Kapitalismus, Kolonialismus … Googlismus? – Das geistige Eigentum und die Information über Konsumenten werden zum Öl des 21. Jahrhunderts; Daten, Wissen, Ideen & Kultur zum wichtigsten Rohstoff und Gut. Wer sich im Internet dauerhaft behaupten möchte, benötigt Rechte, Inhalte und Macht.

  • Wer als erster sagt »das ist mein« und stark genug ist, seinen Besitz zu verteidigen, darf die Beute behalten. Wirtschaftlich entscheidend ist das Google-Ranking. Google arbeitet mit Begriffen. Das Recht auf Begriffe zeigt sich in Domains, Marken, Titeln, Registereintragungen.
  • Wer seine Rechte und Begriffe verliert, versinkt im Sumpf der Beliebigkeit.

Domains, Titel und Marken müssen genutzt werden, damit die Rechte erhalten bleiben. Dazu müssen Inhalte her: Fotos, Texte, Songs, Logos, Bilder …, die jedoch meist durch Urheber- oder Persönlichkeitsrechte geschützt sind. Die Rechte, fremde Inhalte zu nutzen (»Schrankenbestimmungen«), schwinden zunehmend. Urheberverbände und Verwertungsgesellschaften (Gema, VG Wort) sichern sich Schutzrechte. Der Chef des Bundesverbandes Musikindustrie vertritt die CDU in der Enquete-Kommission, die den Bundestag über das Internet und die digitale Gesellschaft beraten soll. Wer wiederholt bei »Internetpiraterie« erwischt wird, soll künftig vom Internet ausgesperrt werden – das sehen sowohl englische als auch französische Gesetzesvorlagen vor (»Three Strikes«).

Wer keine eigenen Inhalte hat, wird bedeutungslos.

Informationen über sich selbst, eigene Rechte und Inhalte müssen gut geschützt werden und werden oft unwissend preisgegeben. Das gleiche Recht für alle führt praktisch zur Ungleichheit. Selbst sichere Rechte werden unter dem Druck hoher Abmahnungssummen aufgegeben. Wie Kopfjäger durchziehen die Scouts von Anwaltskanzleien das Internet und verdienen Geld mit Abmahnungen, die Grauzonen tatsächlicher oder vermeintlicher Rechteverletzungen nutzend.

Wer mit Begriffen arbeitet, die Geld wert sind oder 
über marktrelevante Domainnamen verfügt, 
weckt Begehrlichkeiten und riskiert Auseinandersetzungen.

Der Kampf um Begriffe und Inhalte, juristische Strafexpeditionen, Google-Ranking sowie der werbliche Ausschluss aus der Gemeinschaft verändern das Internet. Die Rechte an Marken, Domains, Begriffen, Inhalten werden von unten nach oben umverteilt, sie akkumulieren bei wenigen marktbeherrschenden Firmen, Quasi-Informationsmonopole entstehen. Relativ wenige Rechteinhaber dominieren, handhaben technisch überlegen große Informationsmengen, generieren also hohe Besucherzahlen und hohe Werbeeinnahmen. Sie bestimmen die Regeln in der sich abzeichnenden Zweiklassengesellschaft, also gilt mit David Gelernter (Gespiegelte Welten im Computer): »Das Ergebnis heißt Feudalismus, ob ein tatsächlicher oder ein intellektueller.“ Das Internet entwickelt sich tendenziell anti-authentisch und asozial Die User des feudalisierten Internet sind Bauern, deren wertvollste Eigenschaft es ist, Daten über ihre Bedürfnisse zu liefern. »Gute« User liefern Input, mögen Werbung, sind markenbewusst und konsumieren: »Ihre gesamte Kommunikation mit ihren Freunden gehört einem Unternehmen. Facebook presst die Nutzer in vorgestanzte Kategorien und reduziert sie zu Multiple-Choice-Identitäten, die an Marketing-Datenbanken verkauft werden können«, meint Internetpionier Lanier im Spiegel.

Informationen werden von den Anbietern höher bewertet als die Individuen, 
die sie liefern.

Der Erfolg von Google, Facebook und anderen basiert auf immer wiederkehrenden Algorithmen. Diese können jedoch nur strukturierte Daten verarbeiten, keine freien Texte. Also werden Informationen über die Welt der Dinge so zermahlen und zerhackt, bis sie in die Datenfelder passen. Dann werden sie neu arrangiert, in unterschiedlichen Formen, doch immer mit dem Anspruch, Realität wiederzugeben. Ein perfektes Matching zwischen Werbewirtschaft und Kunde ist das Ziel. Personenbezogene Informationen bilden Profile, die nie mehr aus dem Netz zu entfernen sind, und treten an die Stelle von Persönlichkeiten. Die »Contentfabrik« konfektioniert Datenströme für standardisierte Produkte, die definierte Zielgruppen befriedigt.

Konformismus wird belohnt.

Die „predictive analyses“ liefert auf der Basis von Mobilfunkdaten und Persönlichkeitsprofilen Aussagen über unsere Verankerung in sozialen Netzwerken. Damit »kann ich mir vorhersagen lassen, in welche Bar ich am späten Freitagabend gehen muss, um auf die von mir bevorzugte Gruppe dunkelhaariger Singles ab 35 ohne Kind und Hund, aber in einer WG lebend, zu treffen. « 2)
Google hat eine Anzeigenform entwickelt, die dem Nutzer folgt. Google kann über Cookies erkennen, welchen Weg ein User im Internet zurückgelegt hat und weiß beispielsweise, dass man soeben einen bestimmten Schlafsack im Ausrüstershop angeklickt hat, ohne ihn zu kaufen. Das macht den User nun zum Ziel von Schlafsackanzeigen, solange, bis einer gekauft wird.
Auf dem Gebiet der Reiseführer hat diese Methode des Zerhackens und neu Sortierens zur Monopolbildung bei Reiseführern geführt. Durch die Länder reisen keine Autoren mehr, sondern Rechercheure tragen strukturierte Informationen zusammen. Diese werden unterschiedlich kombiniert und ergeben unterschiedliche Reiseführer für unterschiedliche Zielgruppen. Individuelle Aussagen passen nicht in das System.

Die Rekombination strukturierter Daten ist Replikation von bereits Bekanntem,
weder neu noch originell.
Solche Zukunft erscheint bewegt, ist jedoch tot wie ein Zombie.

Suchmaschinen finden Informationen. Doch oft löst die Information nicht das Problem des Suchenden, sie muss auf eine neue Situation übertragen werden. Der Informationsgehalt wird höher, wenn er mit Leben erfüllt ist, mit Erfahrung. Das bedarf der en-face-Kommunikation, des Gesprächs, einer persönlichen Begegnung. Man kann interpretieren, verändern, variieren, anpassen, spielen … und hat die Freiheit unberechenbar zu bleiben, Neues zu ermöglichen. Damit wird das Leben interessant und unwägbar, ermöglicht Empathie und Vertrauen durch Nähe, Zufall und Schicksal. Vor allem aber ermöglicht es, sich seiner Selbst zu vergewissern, indem man auf andere trifft. Das mag nicht jeder, doch Reisende sind gierig danach.

Informationen gewinnen an Wert, 
wenn sie im direkten Kontakt zwischen Menschen, 
in der Begegnung vermittelt werden.

Die Informationsflut im Internet speist sich aus zwei Flüssen: Zum einen nimmt die Zahl der Quellen zu, zum anderen steigt der Informationsstrom aus den Quellen. Endlos und gleichförmig fließen Mainstreaminhalte, in dem alle mitschwimmen … können? … müssen? … sollen? Doch der Mensch ist keine Maschine, er kann den Informationsstrom nicht verarbeiten; Multitasking gehört nicht zu den menschlichen Eigenschaften.

Es fehlt ein Werkzeug, mit dem man Quellen bewerten,
den Informationsstrom drosseln sowie 
auf Authentizität, Originalität und Alter prüfen kann.

Das Internet fördert irrationales Verhalten

Die interaktiven bottom-up-Kanäle im Internet wirken wie die Wandflächen öffentlicher Toiletten und füllen sich mit vergleichbaren Inhalten. In Gästebüchern, Foren, Kommentaren finden sich Nonsens-Einträge und Werbespam, Selbstdarstellungen von Egomanen, aggressive Sprüche von Provokateuren und Kaputtmachern. Vordergründig dienen Foren dazu, sich sachorientiert auszutauschen. Doch ist eine sachliche, zielorientierte Kommunikation im Forum nicht im Sinne klick- und datensammelnder Unternehmen. Je länger und intensiver und angeregter sich User beteiligen, desto mehr wertvolle personenbezogene Daten setzen sie frei.

Anonymität, mangelnde Administration, unbegrenzter Zugang 
begünstigen irrationale Tendenzen, 
senken die Qualität der Inhalte und fördern verantwortungsloses Verhalten.
Je höher der emotionale Faktor, je aufgeregter die Beteiligten,
desto höher die Beteiligung der Gucker und Gaffer, der Trolle und Flamer.

„Getret’ner Quark wird breit, nicht stark“

Das »Wissen« im Internet ist überwiegend banal, weder verlässlich noch belastbar. Sachbezogene Argumente treten zurück hinter die Schilderung persönlicher Betroffenheiten mit teils kompletten Krankheitsbildern, Rechtsstreitigkeiten, Finanzverhältnissen. Das sachliche Ausgangsproblem wird zum Brei der Befürchtungen, Hoffnungen, Phantasien und Schuldzuweisungen. Das Leiden steht im Mittelpunkt, nicht Ursachen, Analysen und Gegenmaßnahmen. Der sekundäre Krankheitsgewinn ist wichtiger als Diagnose und Therapie. Befindlichkeiten werden aufgewertet. Der Einzelfall mag bedrückend sein, doch führt nicht betroffene Sympathie zu Lösungen, sondern die Suche nach Ursachen. Die vereinzelt anzutreffende objektive Distanz eines rationalen Forumbeitrags erscheint so fast als respektlos gegenüber dem Leid. Dieser „Kult um den Amateur“ lässt sich vielfach beobachten, auch in Talkshows (Anne Wills »Betroffenheits-Sofa«), bei den Superstar-und Container-Erfolgen. Manche hoffen, dass dieser Kult sich verbraucht, möglicherweise ein Übergangsphänomen ist.

Emotionalisieren und skandalisieren, verbunden mit hysterischen Schrei-Exzessen, 
erzeugt hohe Klickzahlen.

Betreiber von Blogs, Foren und Online-Plattformen können von ihren Usern fordern sich zu registrieren, ihre Anonymität aufzugeben, die Leistungen und Meinungen anderer zu respektieren und eigene Äußerungen vor anderen zu verantworten. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut. Aber für Meinungen muss man auch Verantwortung übernehmen und zur Rechenschaft gezogen werden können.

Das Bedürfnis nach Qualität kann sowohl auf Anbieter- als auch auf Userseite 
nur in geschlossenen Bereichen befriedigt werden.

»Facebook ist Selbstprostitution«

… auf Basis von Informationsgier« meint Ernst Pöppel, Professor für Medizinische Psychologie. Die User zahlen für das Nutzen von Communities einen »Eintrittspreis« indem sie erstens Daten über sich preisgeben und zweitens auf Verfügungsrechte verzichten, seien es nun Bilder, Texte, Musik, Informationen, personenbezogene Daten. Der Daten- & Informations-Vampirismus trifft meist auf offene und naive User, denen nicht bewusst ist, was sie preisgeben: jede Nacht nur eine kleine Portion, doch zuletzt ihre Seele.

Die Internetnutzer dürfen auf fremden Webseiten säen, aber nicht ernten.

Bekanntlich kackt der Teufel auf den größten Haufen. Milliarden Mitglieder liefern durchschnittlich 45 Minuten am Tag bei Facebook Meinungen und Vorlieben. Die Masse liefert massenhaft Informationen dort, wo andere es auch tun. Scheinbar alltäglich verfügbare Informationen werden wertvoll, wenn sie massenhaft über einen Monopolisten angeboten (Google Maps, Google Street) und mit Werbung verknüpft werden.

Die Internetkonzerne pflegen den Anschein einer „alles-ist-kostenlos“-Kultur und 
betreiben tatsächlich einen Informations-Imperialismus, in dem nichts kostenlos ist.

Bislang erkannte man Diktaturen daran, dass sie personenbezogene Daten zu neuen Persönlichkeitsbildern arrangieren konnten, dass sie die Relevanz von Wissen stellvertretend für ihre Bürger bewerteten, dass sie Zensur ausübten – all das übernehmen heute bereits weltumspannende Unternehmen (Facebook, Google, Apple) ohne gesellschaftlich kontrolliert zu werden – und die Masse unterwirft sich freiwillig und bereitwillig.

Für den Einzelnen ist das ein bedeutender Verlust an Autonomie.

Fast jede Information ist vielfach im Netz vorhanden: Solange sie aber dort kostenlos ist, kann sie hier nicht verkauft werden. User erwarten daher überall kostenlose Infos. Aus Usersicht senkt das den Wert von Information. Darüber führt es zur Mißachtung von jenen, die Information liefern sowie von jenen, die Informationen nicht kostenlos abgeben.

3. Glokalisierung

Das Selbstverständnis von Globetrottern entwickelt sich unterwegs in der Begegnung mit anderen Globetrottern und mit vertrauten Fremden.
Heimgekehrt saßen Globetrotter früher in einer einsamen Nische zwischen vertrauten Freunden, die fremd geworden waren und fanden andere Globetrotter in Vereinen.
Durch Globalisierung und Internet sind die Wände der Nische gefallen und die Globetrotter sitzen einsam im Trubel eines gigantischen Marktplatzes; die Vertrautheit ist durch Beliebigkeit ersetzt, denn Globetrotter sind ebenso wenig zu erkennen wie Fremde und Freunde. Alles ist * Weltreise, alles ist * Abenteuer. Aus Reisenden und Sesshaften wurden Anywheres und Somewheres und der ängstliche Kleinbürger dazwischen wird zum Markenkonsumenten, der in jedem Hype-Cycle Erlösung sucht.

Der einzige Weg zu neuer Vertrautheit im real life
führt über lokale persönliche Treffen; 
die organisatorischen Voraussetzungen zu dieser Glokalisierung
sind jedoch auf das Internet angewiesen.

Angst essen Seele auf

Globetrotter erkennen jedoch auch das »schiefe« und verzerrte Bild der Welt, wie es in den heimatlichen Medien erzeugt wird. Medien bedienen einerseits gerne die bestehenden Vorstellungen und Glaubenseinstellungen und kitzeln andererseits Furcht und Schrecken. Dass Nachrichten dem Effekt untergeordnet werden, erkennt man oft an der Wortwahl:

  • Sorgen: Dass sich jemand Sorgen macht, ist menschlich. Das hat jedoch weniger mit der objektiven Wirklichkeit zu tun als mit der psychischen Verfassung des sich Sorgenden: Pessimisten leiden tags und haben nachts Alpträume.
  • wenn … dann … droht: könnte möglich sein … Betroffene … befürchten … Verlust …
  • nicht mehr sicher: Vorsicht … Gewalt … eskaliert …
  • Immer mehr: nicht das einzige Problem … Schlagzeilen: Der »Immermehrismus« wird von Journalisten gerne verwendet, wenn es keine Zahlen gibt und wenn der Maßstab fehlt.
  • Auseinandersetzung: Aufregung … fühlt sich verletzt … bedroht … hysterisch … immer lauter … aggressiver Ton … Hass
  • Vorwürfe: Geil! Neugierig recken sich die Hälse, weil sich ein Streit anbahnt, mit dem man man nichts zu tun. »Vorwürfe« unterstellen »Anklagen« und »Schuld«, müssen aber im Unterschied dazu nicht bewiesen werden. Vorwerfen darf jeder, man ist »ehrlich empört« und entrüstet.
  • die Alarmglocken dröhnen: Schwarze Angstwolken ziehen auf, mal mehr, mal weniger dunkel: Bürgerkrieg … Hunger … Dürre … Hitze … Kälte … Armut … Grippe … Gift in der Nahrung … Medikamente knapp … Ärzte fehlen … Der Euro ist weniger wert … Der Dollar ist weniger wert … zu viele Studenten … zu wenige Fachleute
  • Wettlauf mit der Zeit: Eigentlich ist alles schon zu spät, aber nun gilt es sofort zu handeln. Aktionismus wird wichtiger als Beobachten und Überlegen.

Auch Susanne Gaschke erkennt in der Neuen Zürcher Zeitung vom 12.09.19 ein »Blitzlichtgewitter medialer Dauerentrüstung«; Meinungen sind wichtiger als Fakten und Argumente, denn »Die Dramatisierungsreserven sind unendlich«, wenn »die sechs Gebote des moralischen Journalismus« befolgt werden, als da wären:

  1. Empörung
  2. Dramatisierung
  3. Heimatschmähung
  4. Jugendopportunismus
  5. Bevormundung
  6. Tabus

Literatur

  • Stefan Marschall: Parteien und Internet - Auf dem Weg zu internet-basierten Mitgliederparteien?
    www.das-parlament.de/10-2001/archiv/10-2001/bartikel5.bdf
  • Spiegel online 25. 01.10. Interview mit Computerpionier Jaron Lanier „Dynamik der Meute“ http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,674057,00.html
  • FAZ 01. März 2010 David Gelernter: Wie wir mit unserem Leben in Verbindung bleiben
  • FAZ 14. Mai 2010, Christian Stöcker: Datenschutz bei Facebook. Wie die Privatsphäre erodiert.
  • FAZ 21.02.09 Was das Internet weiß, ist meist banal.: Netzkritiker Andrew Keen im Gespräch
  • FAZ 18. Januar 2010: James Davis und Miriam Meckel: Böses Erwachen in der realen Welt
  • FAZ 11. Mai 2010 Friederike Haupt interviewt Ernst Pöppel, Professor für Medizinische Psychologie, über Facebook, Öffentlichkeitswahn & Intimität. „Facebook ist Selbstprostitution“.

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1)
Peter Sloterdijk: 35 Jahre nach der «Kritik der zynischen Vernunft»: Peter Sloterdijk seziert das zynische Bewusstsein zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: NZZ 29.12.2018
2)
Miriam Meckel, Geben wir dem Zufall eine Chance. FAZ 16.05.2010
wiki/real_life_oder_virtual_reality.1568575405.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/12/07 15:16 (Externe Bearbeitung)

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