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wiki:orientierung

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Orientierung

Wer mit Verstand und Studium irre geht, 
der macht überhaupt gar keine Irrwege,
er macht höchstens Umwege.
Wilhelm Heinrich Riehl, Wanderbuch (1869)

Richtungen

  • Dass die Sonne im Osten aufgeht, ist ein Gerücht, denn dort sieht man sie nur am 21. März und am 23. September.
  • Wer sich an diesen beiden Tagen am Äquator aufrecht hinstellt, wirft keinen Schatten, weil die Sonne absolut senkrecht über ihm steht.
  • Und wer den Wendekreis des Steinbocks nach Süden hin überquert hat, wird die Sonne mittags immer im Norden sehen. Weil Hanno »der Seefahrer« [vor 480 - 440 BC] diese Beobachtung in seinem Periplus Online niederschrieb, hielt man ihn für einen Lügner, dabei ist es der Beweis, dass er tatsächlich Afrika umsegelte, mindestens aber bis zum Golf von Guinea kam.

Sich am Sonnenstand zu orientieren, setzt also Erfahrung und Wissen voraus und an den meisten Tagen im Jahr auch noch Mathematik. Dies ergibt eine Vorstellung (innere Karte), eine Wegbeschreibung im Gespräch mit anderen und eine Landkarte, um das Wissen zu speichern. Eine besondere Rolle für alle Menschen erhält dabei der Osten als Richtung des Sonnenaufgangs. In Europa kommen noch zwei besondere Perspektiven hinzu:

  • der Norden, weil dort die Sonne niemals steht, und weil es mit dem Nordkap einen eindeutig nördlichsten Ort gibt, der auf dem Landweg zu erreichen ist;
  • der Westen, weil es mit dem Cap Finisterre einen westlichsten Ort gibt, der auf dem Landweg zu erreichen ist, jedoch konkurriert dieser mit dem südwestlichsten, dem Cabo de São Vicente am Ponta de Sagres, und Land’s End in Cornwall, dem westlichsten Punkt Englands.

In diesen beiden Richtungen bilden diese Orte lange Zeit das Ende der Welt, also werden Süden und Osten als entgegengesetze Richtungen zu Zielen der Sehnsucht; werden Afrika und Orient zu Räumen der Phantasie, werden in der Vorstellung zu einem weiten Land und bilden weiße Flecken auf Landkarten. Die ältesten Karten waren ebenso geostet wie die ältesten Kirchen und bei vielen Bestattungsformen liegen oder blicken die Bestatten gen Osten.

Dass man an den Enden der Welt jedoch festen Boden verließ, Segel setzte und losfuhr in die Leere, dem horror vacui entgegen, war eher nicht absehbar.

  • Callaghan, R., Scarre, C.
    Biscay and Beyond?
    Prehistoric Voyaging between Two Finisterres.
    Oxford Journal of Archaeology, 36 (2017) 355– 373. doi: 10.1111/ojoa.12119.

Verirren

Man weiß immer, wo man ist - das Hier und Jetzt ist immer sicher. Wenn man sich jedoch »verfranzt« hat, wird Orientierung zum Versuch herauszufinden, woher man kommt und wohin man will, also drei sichere Punkte zu erfassen, die eine klare Linie ergeben. Orientierung ist damit der erste Schritt der Wegfindung in der Wildnis nach Merkmalen in der Landschaft.

Voraussetzung dafür ist eine »kognitive Karte«, also eine Vorstellung der Umgebung, ein geistiges Abbild der Pfade, Hügel, Wälder, Bäche, Bauwerke, deren räumliches Verhältnis zueinander. Die Fähigkeit dazu entwickeln Menschen gemeinhin erst ab etwa acht Jahren. Verirren kann man sich auch in einer vertrauten Umgebung, denn ein Wald sieht nachts anders aus und Nebel nimmt alle Orientierungspunkte. Ursachen des Verirrens sind

  1. der Mangel an Aufmerksamkeit, denn sonst könnte man ja den zurückgelegten Weg erinnern;
  2. das Bedürfnis, eine »Abkürzung« zu nehmen, also Pfade und Wege zu verlassen;
  3. die trügerische Annahme, den Weg zu kennen;
  4. die Abnahme rationaler Entscheidungen;
  5. die Zunahme von irrationalem Aktionismus, also Weiterlaufen bis zur Erschöpfung.

Wanderer, die sich alleine verirren, werden fast zehnmal häufiger tot aufgefunden als verirrte Gruppen. Dass eine gewisse Vorbereitung hilfreich sein kann zeigt sich schon in der griechischen Mythologie als Ariadne dem Theseus ein Wollknäuel mitgab, damit er am »Faden der Ariadne« den Weg aus dem Labyrinth herausfinden konnte. Die Brotkrümelspur von Hänsel und Gretel zeigt, dass die Gefahr den Kindern zwar bewusst war, allerdings war die Umsetzung weniger erfolgreich. Wenn Vertrautes fremd erscheint und Wahrnehmungen täuschen, ist der Irrwisch am Werk und auch das Licht der Hoffnung wird dann zum Irrlicht.

Wegzeiger

Karten und Kartographie helfen nur dem, der rational vorgehen kann, Kompass und Höhenmesser liefern dafür Anhaltspunkte. Mobile phones helfen nur, solange die Batterie arbeitet. Außerhalb der Funkzellen hilft nur noch ein Satellitentelefon.

Mit den heutigen All-Inclusive-Reisen hat unsere Kultur die bislang oberste Sprosse unselbständiger Reisen betreten. Wer so weit über der Welt angelangt ist, hat weder Boden unter den Füßen noch einen Blick fürs Detail. Langsam hinabsteigend finden wir die einfache Pauschalreise, die Studienreise, das Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, schließlich das individuelle Reisen mit Reiseführer und Landkarte. Und dort, knapp über dem Boden, finden wir noch eine unscheinbare, unbeachtete Sprosse: den Wegzeiger am Straßenrand – die erste technisierte Form des geführten Reisens.

Martin Scharfe
Wegzeiger
Zur Kulturgeschichte des Verirrens und Wegfindens
Marburg: Jonas 1998. 13x21 cm: 112 S., 65 Abb.

Der Wegzeiger in seiner frühesten Gestalt mag nichts anderes als ein Pfeil gewesen sein, angebunden an einen Stamm, der allen Nachfolgenden kundtat: “Du bist richtig. Hier geht’s lang!” Erleichternd ist solche Bestätigung noch heute den einsamen und müden Wanderern in den Bergen – drunten im Tal haben Straßen die Funktion des Wegzeigers verinnerlicht. Älter noch als der Zeiger ist der Steinmann als Orientierungshilfe.

Das vorliegende Büchlein aber verläßt schnell die technische Geschichte des Wegzeigers. Der Autor bewegt sich tastend (ohne Wegzeiger) in unerschlossene Gebiete: Die äußere Form des Richtungspfeils als Spiegel der kulturellen Entwicklung? Der Pfeil als Archetypus von C.G. Jung?

Natürlich: Der Wegzeiger wird aufgestellt, weil ein allgemeines Bedürfnis besteht, sich zu orientieren. Orientierungslos laufen wir Gefahr uns zu verirren und zu verlieren – eine archaische Angst wird besiegt durch den Glauben an den einsamen Pfeil, durch Vertrauen an eine vorgegebene Richtung. Allerdings setzt das voraus, daß der Suchende mit jenen, die den Wegzeiger aufstellen, die gleichen Werte teilt: nämlich möglichst schnell und einfach zu einem Ziel zu kommen, Umwege zu vermeiden.

Martin Scharfe hat zahlreiche Details und hübsche Illustrationen gesammelt, er erzählt eher kursiv als dozierend und verfällt dennoch manchmal in einen etwas akademischen Stil. Ein Buch, dem ich viele Leser wünsche.

Die Geschichte der Orientierung

Die Notwendigkeit sich in der Natur orientieren zu müssen führte unter anderem

  • über das Orientieren am Stand von Sonne, Mond und Sternen zur Astronomie;
  • über das Messen von Flächen, Längen und Richtungen zur Vermessung;
  • über das systematische Speichern der erfassten Informationen zur Kartographie.

Meßstab und Meßseil als älteste technische Hilfsmittel des Vermessers ermöglichen das Bestimmen

  • von Himmelsrichtungen mittels Indischem Kreis,
  • von Breitengrade mittels Schattenlänge,
  • von rechten Winkel mittels Ägyptischem Dreieck.

Die dazu nötigen mathematischen Fähigkeiten machen den Landvermesser auch zum Kundschafter und zum Geographen bei der Erkundung neuer Landschaften: Aufgaben, wie sie später die Bematisten von Alexander dem Großen wahrnahmen. Diese waren Kundschafter und Boten, Vermesser und Schreiber, sowie hervorragende Läufer. In den sumerischen Stadtstaaten trugen Herrscher und Stadtgötter wie Marduk als Symbol Stab und Seilring und zeigen damit die Macht des Wissens.

Literatur

  • Kathrin Passig, Aleks Scholz
    Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene
    Rowohlt Berlin 2010, 268 S.
  • Piotr Heller: Das Labyrinth im Kopf. FAZ 12.09.2020
  • Michael Bond
    Wayfinding: The Art and Science of How We Find and Lose Our Way
    Picador, London 2020.
  • Heth, C. D. & Cornell, E. H.
    Characteristics of travel by persons lost in Albertan wilderness areas
    Journal of Environmental Psychology 1998, 18, 223–235
  • Kenneth Hill
    Lost Person Behavior
    National Search and Rescue Secretariat of Canada, Ottawa 1998
  • Kenneth A. Hill
    Cognition in the woods: Biases in probability judgements by search and rescue planners
    Judgment and Decision Making, Vol. 7, No. 4, July 2012, S. 488–498

siehe auch:
* Reiseführer und Karten
* Kreuz des Südens
* Kartographie
* Brötchentütennavigation
* GPS

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wiki/orientierung.1637557195.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/11/22 04:59 von norbert

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