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Offenheit

Eine - vielleicht sogar die wichtigste - Voraussetzung für Reisende. Und ein Unterscheidungsmerkmal zum Touristen, der gar nicht offen sein kann für Neues, weil Urlaub ein Erfüllen von Wünschen ist und so mit einem ganzen Set von Erwartungen befrachtet. Offenheit dagegen ist die Wurzel der Neugier nach dem Unbekannten und findet seine Erfüllung im Staunen.

Grenzgänger wandeln zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Angst vor und Freude am Unerwarteten, zwischen Leben und Tod, zwischen Sünde (curiositas) und Tugend (studiositas), das verbindet Erforscher, Entdecker, Abenteurer und Globetrotter.

Eine offene Gesellschaft ist offen für das Andere und nimmt es als bereichernd an 1). Geschlossene Gesellschaften gestatten keine Abweichung, kein Anders-Sein, keine Reisefreiheit. Reisende kommen jedoch per se in gesellschaftliche Konflikte, weil sie erfahren haben, dass die Welt draußen nicht so ist, wie »man« sich das vorstellt, wie es das mediale Bild vermittelt und wie geltende Glaubensgrundsätze meinen, dass die Welt sein müsse.

Reisende sind unterwegs in anderen Gesellschaften fremd und verändern sich im Begegnen mit dem Anderen. So kehren sie selbst verändert zurück und sind nun auch in der heimischen Gesellschaft fremd. Ihre gelebte Erfahrung empfinden sie für sich selbst als Bereicherung, deren Wert die Anderen jedoch nicht erkennen, wenn sie nicht ebensolche Erfahrungen gemacht haben. Wertschätzung solcher Erfahrungen ist nur in einer Gruppe möglich, die vergleichbare Erfahrungen umfasst und die das Anders-Sein als ein Unterwegs-Sein begreift.

Probleme entstehen, wenn eine Gesellschaft die so erworbene erweiterte Weltanschauung moralisch verurteilt: Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Das führt zu Empörung und »Diskurshecken« 2). »Wenn an die Stelle von Argumenten Gefühle treten, ist an Diskutieren nicht zu denken« meint Svenja Flaßpöhler im taz-Interview 3). Nun gut, das passiert jedem mal. Was aber, wenn der Diskurs grundsätzlich umgewertet wird, wenn die emotionale Aufrichtigkeit entscheidender wird als das vernünftige Argument 4)?

Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden. Was aber, wenn der Andersdenkende zum Andershandelnden wird und die Freiheit abschaffen will? Wo begrenzen dann die Hecken die Offenheit 5)? Tatsächlich finden heute die größten Kämpfe zwischen Gruppen statt, die entweder viel mehr oder viel weniger Regulierung/Dynamisierung fordern 6).

Die Populisten sind fasziniert vom Chaos, damit sich dann der Stärkere behaupten kann. Die Identitätspolitiker zerlegen die Gesellschaft so lange in immer kleinere und immer homogenere Blasen, bis jeder seine eigene Blase hat. Beide Wege pervertieren die Suche nach dem »Möglichen«, indem sie völlig entgrenzt fragen: Was können Einzelne von der Gesellschaft bekommen? Die Gesellschaft ist aber ein „Wir“ und die Einzelnen sind mit Rechten und Pflichten in sie eingebunden 7). Tribalismus 8) zerstört Gesellschaft und Gemeinschaft und Staat, das lässt sich unterwegs in manchen Staaten ganz trefflich beobachten. Dazu genügen bereits zwei gegnerische Ethnien und macnhe Staaten umfassen 80 oder 100.

Rechte zu fordern ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht: Was kann ich zurückgeben? Das erfordert aber ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Vertrautheit. Langzeitüberlandreisende nehmen dieses Gefühl lange vor dem Überschreiten der Grenzen des Heimatlandes wahr. Das Paradox der Reisenden ist, dass sie zwar zuhause fremd geworden sind, sich jedoch stärker zuhause fühlen als zuvor. Das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten ordnet sich ebenso neu wie die Wertschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zuhause ist es so viel leichter als unterwegs - daher ist es auch leichter dankbar zu sein und die eigenen Ansprüche zu senken. In der Opferrollen finden sich Reisende jedenfalls nicht.

Ein aufgeklärter Mensch geht damit vernünftig um, weil er ein mündiges Mitglied der Gesellschaft ist und autonom zu entscheiden weiß, auch ohne selbstverkrümmtes Anlehnen an -ismen 9). Man darf (?) ja wohl fragen, »ob wir Ungleichheit unter den Menschen nicht als Bedingung für wechselseitiges Lernen und Quelle der Motivation nötig haben« 10)


Karl R. Popper
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Band 1:
Der Zauber Platons
(1945 engl. The Open Society and Its Enemies. The Spell of Plato)
8. Auflage, Mohr, Tübingen 2003, ISBN 978-3-16-148068-3 (= Gesammelte Werke 5)
Karl R. Popper
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Band 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen
(1945 engl. The Open Society and Its Enemies. The high tide of prophecy: Hegel, Marx and the aftermath
8. Auflage, Mohr, Tübingen 2003, ISBN 978-3-16-148069-0 (= Gesammelte Werke 6)

1)
Christian Schüle
Lob der Ambivalenz
Deutschlandfunk 26.02.2019
2)
Jan Freyn
Die digitalen linken Spießer
Die heutige Linke wacht mit polizeilichem Blick über Diskurshecken und leugnet die eigene Macht, um ungestört moralisieren zu können
in: Die Zeit 18. Juli 2020
3)
Hören Sie auf, Sie beleidigen uns!
Svenja Flaßpöhler spricht mit taz FUTURZWEI über militante Intoleranz von dauerbeleidigten Identitätslinken
taz/FUTURZWEI Ausgabe 9, 2019
4)
Francis Fukuyama
Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2019
5)
Eckhard Jesse
Die offene Gesellschaft ist von vielen Seiten bedroht – wer die Gefahren erkennen will, fährt immer noch gut mit Karl Popper
in: Neue Zürcher Zeitung 31.07.2019
6)
Andreas Reckwitz
Liberalismus: Ein Ordnungsruf
in: Die Zeit 13. November 2019
7)
Thomas A. Becker
Kulturelle Identität
Neue Zürcher Zeitung 9.9.2017
8)
Peter Sloterdijk
Kehren die Stämme tatsächlich wieder?
NZZ 27.1.2018
9)
Matthias Lohre
Die neue Lust am Leiden
taz 18. 1. 2020
10)
Hans Ulrich Gumbrecht
Skeptiker versus Progressive: Was die (richtig verstandene) Aufklärung uns gerade heute zu sagen hat
Neue Zürcher Zeitung NZZ 10.8.2019
wiki/offenheit.1596345659.txt.gz · Zuletzt geändert: 2020/08/02 05:20 von norbert

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