Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


wiki:illusionen

Dies ist eine alte Version des Dokuments!


Illusionen

»Die idealen Untertanen sind Menschen, 
für die die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen 
und zwischen wahr und falsch nicht mehr existiert.«
Hannah Arendt 

Es gibt drei unterschiedliche Perspektiven die Welt anzuschauen:

  • Man sieht die Welt, wie sie zu sein scheint durch die Brille der persönlichen Erfahrung
    und gewinnt »empirisches Weltwissen«. Diesen Weg gehen Reisende in besonderem Maße und werden geleitet von der Suche.
  • Man sieht die Welt, wie sie ist durch die Brille der Vernunft
    und gewinnt »apriorisches Vernunftwissen«. Dies ist der Weg der *Aufklärung; diese wird geleitet von der Frage.
  • Man sieht die Welt, wie sie sein sollte durch die Brille der Ideologie
    und bekommt Dogmen und Gebote. Das ist der Weg des Glaubens, geleitet von Illusionen.

Weil jedoch diese drei Sichtweisen voneinander abweichen entstehen Konflikte. Menschlich ist das Verlangen, einen mühelosen Weg zu finden, der erstens bequem ist und zweitens frei von Verantwortung. Mit Illusionen lassen sich die abweichenden Sichtweisen harmonisieren, die Weltanschauung den eigenen Glaubensmustern und Einstellungen anpassen.

Fragen und Suchen

»Wer die Wahrheit nicht kennt, ist bloß ein Dummkopf.
Wer die Wahrheit aber weiß und sie eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher.«
Bertold Brecht, Leben des Galilei (1943)

»Jedes Fragen ist ein Suchen« 1) nach etwas. Den Fragenden treibt sein Verlangen nach etwas Gesuchtem. Es wird nur erreichbar, wenn das Suchen »erkennend« ist, also Wissen fördert, Licht ins Dunkel bringt mittels einem »freilegenden Bestimmen dessen, wonach die Frage steht«, dem »Erfragten«. 2)

In seinem Wesen gibt es also keine „dumme“ Frage. Es gibt jedoch Sätze, die mit einem Fragezeichen enden, das eine Lüge enthält, weil die Frage keinem erkennenden Suchen gilt, sondern dieses nur vortäuscht und darauf zielt Wissen zu entwerten, das Erhellende zu vernebeln und damit nicht etwas freilegt sondern verbirgt.

Das wird nur erkennbar, wenn das Verlangen des Fragenden transparent wird. Eine ideologische Weltanschauung kämpft durch Lüge gegen Aufklärung und durch Einsperren gegen Suchende.

Annahmen

Here Lies
Titel der Autobiographie von Eric Ambler 1985
Darin prägt er auch das Begriffspaar fiktiv-faktiv

Diese Illusionen verkleiden sich als Annahmen, Neigungen, Schlussfolgerungen, Gerüchte damit wir uns glauben machen können, wir handelten vernünftig.
Auf solche Illusionen weisen beispielsweise folgende Formulierungen hin:

  • Das ist typisch für … (Analogiebildung)
  • Die Fakten widersprechen meiner Überzeugung. (Was nicht sein darf, …)
  • Das klingt glaubwürdig.
  • Informationen werden selektiv den Erwartungen angepasst.
  • Zwei Dinge ereignen sich gleichzeitig, also hängen sie irgendwie zusammen.
  • Das klappt schon, ich glaube fest daran. (magisches Denken)
  • Die Methode nehmen, die beim letzten Mal auch geholfen hat. (Law of the Instrument)
  • Etwas Gutes tun, damit man das Recht erwirbt etwas Falsches zu tun.
  • Kenne ich, habe ich schon immer gesagt (Bestätigungsverzerrung, Confirmation Bias).
  • Ich kann alles und habe alles unter Kontrolle. (Selbstüberschätzung)
  • Mein Bauchgefühl täuscht mich nie.
  • Alles bleibt, wie es ist.
  • XY hatte Erfolg damit, also habe ich auch Erfolg.
  • Mögliche Verluste werden höher bewertet als mögliche Gewinne.

Schweigen ist die vornehmere Form der Lüge, weil sie will, dass Annahmen nicht hinterfragt werden:

  • Omertá (»Ganovenehre«: Schweigepflicht der Mitglieder krimineller Organisationen, z.B. Mafia)
  • Schießen, schaufeln, schweigen (Redensart bei Jägern, in den USA als 3-S-treatment: shoot, shovel and shut up)
  • Was im Einsatzwagen passiert, bleibt im Einsatzwagen. (»Korpsgeist«: polizeiliche Redensart)
  • Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. (Sprichwort in zahlreichen europäischen Sprachen))

Euphemismen, Werbung, Politik

Diese schönen Illusionen verändern unser Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen systematisch (kognitive Verzerrung) zwar gewollt, jedoch mehr oder weniger unbewusst. Wir entscheiden uns für den bequemen Weg. Klappt das nicht, kann man die Opferrolle beanspruchen oder die Verantwortung der Tücke des Objekts zuschreiben.

In der Kommunikation nutzen wir *Euphemismen, damit Unangenehmes angenehm wird. Auch lassen wir uns gerne von Werbung verführen, wohl wissend dass wir nur einen Teil der Wahrheit zu sehen bekommen. Dampfplauderer haben das Talent alles zu verkaufen. Im Englischen heißt das »Fake it, ’till you make it« - eine schöne Verpackung ist manchmal alles. Umgekehrt gilt: Wer eine schlechte Nachricht überbringt, wird Teil des Problems.

Verärgert dagegen reagieren viele auf eine politische Kommunikation, die mehr verbirgt als offenlegt. Politikern nimmt man es krumm, wenn sie Werbung in eiegener Sache machen, also nur den angenehmen Teil der Wahrheit ins Licht stellen. Damit öffnen sich leider der Phantasie unenedliche Weiten für Unterstellungen, Stichwort »deep state«.

Solche kognitiven Verzerrungen (cognitive bias) sind uns auch vertraut als unterhaltsame Räuberpistolen, *Ammenmärchen, urban legends oder Schauergeschichten - aber da weiß man, wo man dran ist. Die meisten glauben jedenfalls nicht, dass es sich bei Dracula oder Frankenstein um historische Persönlichkeiten handelt.

Ideologie

Zwei Dinge will niemand hören:
schlechte Musik und gute Nachrichten.

In emotional aufgepeitschten Massenbeschwörungen beschwören aufgebrachte Apologeten die nahezu unabwendbare *Apokalypse. Alles Bestehende könne diese *Krise nicht abwenden, also gehöre alles Bestehende auf den Schuttplatz der Geschichte. Nur der jeweilige -ismus bringe das Heil und verspricht die Utopie - doch müsse sofort gehandelt wird, ohne Nachdenken, Alternativen gibt es nicht! Also macht kaputt, was euch kaputt macht und werft auch gleich die Vernunft über Bord. Der Notstand verlangt nach Autorität. 3)

Ein weiterer bequemer Ausweg bietet sich an, indem die kognitiven Verzerrungen durch solche ideologischen Verzerrungen (ideologic bias) ersetzt werden, also durch Religion oder eine der bekannten -ismen wie etwa Kommunismus, Faschismus, Islamismus. Ideologische Verzerrungen erkennt man an ihrem festen und klaren Werte-Set. Das moralisch Gute lässt sich leicht auswendig lernen, Widerspruch ist nicht möglich. Es gibt gut oder böse, gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch - aber nichts dazwischen. Das macht Diskussionen unmöglich und erfordert Unterwerfung, also eine Hierarchie des Glaubens mit erleuchteten Führern an der Spitze. Es gibt drei Möglichkeiten damit umzugehen

  • Den Fragenden auf seine Interessen befragen, die Intention der Frage klären, ist diese offen oder geschlossen?
  • Sachargumente austauschen, präzise Analyse und Problemlösung
  • ignorieren und auf Distanz gehen
  • auf der emotionalen Ebene Nähe anbieten - Dies empfiehlt Dana Buchzik: It's the family, stupid

Erklärungen sind zu prüfen, wenn sie extrem einfach sind, auf nicht hinterfragbaren »Fakten« beruhen und grundlegende Wahrheiten anbieten, von denen nicht abgewichen werden darf. Solche Erklärungsmodelle führen zu einer eingeschränkten Wahrnehmung, die eine exponentiell spekulative Denkweise als einzig richtige darstellt. Die unaufhörliche Wiederholung der Lüge macht sie in den Köpfen Vieler zur Wahrheit: »Man hat uns die Wahl gestohlen« (D. Trump) und war bereits eine Methode in der »Sprache des Dritten Reiches« 4).

Pragmatismus, Vernunft, Wissen, Reflektion

Cogito ergo sum. »Ich denke, also bin ich.«
René Descartes (1596 bis 1650)

Den Gegenpol bilden pragmatische Lösungen, der Ideologe soll also die Mücke nicht zum Elefanten aufblasen und »die Kirche mal im Dorf lassen«. Nichts überstürzen, erst mal abwarten, Tee trinken, Schritt für Schritt sich langsam vorantasten. Analytisches, wissenschaftliches Vorgehen macht den Ideologen wahnsinnig.

Sich von dem einen wie dem anderen zu befreien gelingt durch Wille und Vernunft, mittels Wissen und Selbsterkenntnis. Das strengt an und verlangt, dass wir mindestens für uns selbst verantwortlich sind. Das, was wir gerne glauben möchten, ist nicht unbedingt wahr. Überprüfen lässt sich das zumindest für tagesaktuelle Themen im Faktencheck des Rechercheportals Correctiv, bei dem österreichischen Verein Mimikama (»Zuerst denken, dann klicken«) oder beim europäischen Netzwerk Soma. Soma bekämpft Falschmeldungen und Desinformation im Internet.


siehe auch:
* Law of Instrument
* Fachidiot
* Problemlösung
* Weltanschauung

1)
Martin Heidegger, Sein und Zeit
2)
Heideggers formale Struktur der Frage unterscheidet, Gefragtes, Befragtes und Erfragtes.
3)
Hermann Lübbe
Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft
128 S. Siedler 1987
4)
lat. Lingua Tertii Imperii LTI: Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Aufbau-Verlag Berlin 1947, zuletzt Reclam 2010
wiki/illusionen.1621410890.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/05/19 07:54 von norbert

Donate Powered by PHP Valid HTML5 Valid CSS Driven by DokuWiki