Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


wiki:grenze_zwischen_leben_und_tod

Dies ist eine alte Version des Dokuments!


Grenze zwischen Leben und Tod

Aufbruch und Rückkehr werden im * Reisebericht wiederholt mit Leben und Tod verglichen, meist ist damit die Erweiterung des Ich, dessen Überwindung * unterwegs und die Rückkehr als neuer Mensch gemeint, also der Tod des alten Ichs. Ebenso wird die Schamanenreise beschrieben. Aufgabe der uralten * Reisegötter war es, die * Reisenden zu schützen und die Toten in die Unterwelt zu begleiten. Dass sich * Sehnsucht erst im Tod vollendet, zieht sich als Motiv durch * road novels und * road movies. Durchaus gemischte Gefühle erzeugen die Reiseziele des * Dark Tourism.

Extremerfahrungen

Peter Stark
Zwischen Leben und Tod
Extreme Erfahrungen, letzte Abenteuer
Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann
Hamburg: Rowohlt 2002
Pappband mit Umschlag und Leseband 14 x 21,5 cm
352 Seiten, Anmerkungen, Literaturverzeichnis

Abenteuer sind »in«, führen jedoch an Grenzen, die zu überschreiten tödlich sein kann. Peter Stark hat ein Buch über diese Grenzen geschrieben, wie mir noch keines begegnet ist. Dieser Katalog der tödlichen Gefahren umfaßt Unterkühlung, Ertrinken, Höhenkrankheit, Lawinen, Skorbut, Hitzschlag, Sturz, Killertiere, Taucherkrankheit, Malaria tropica und Dehydratation. Es ist kein medizinisches Fachbuch, es ist kein Survivalführer.

Der Autor hat vielmehr Interviews mit Überlebenden geführt und daraus idealtypische Geschichten konstruiert, wie man in der Natur, beim Extremsport, beim Reisen unmerklich in eine tödliche Situation gerät. Er beschreibt die Umstände, Empfindungen, nennt Schlüsselstellen, an denen eine Rettung noch hätte möglich sein können, beschreibt Rettungsmaßnahmen … Dabei kehrt er immer wieder zu den Eindrücken zurück, die der Sterbende (oder Überlebende) subjektiv wahrnimmt. Dort ist dann auch Raum für Phantasie, Visionen, spirituelle Erfahrungen beim Sterben.

Ausgeblendet bleiben bei diesem Konzept unvermittelt eintretende Unfälle, denn es handelt sich ja um Situationen, in denen der Gefährdete zumindest die Chance hat, die Gefahr zu managen. Ausgeblendet bleiben daher auch Überfälle, denn dem Autor geht es um das Wechselspiel zwischen menschlichem Geist und Naturkräften. Das ist eindrucksvoll zu lesen, ohne Effekthascherei und Übertreibungen, eher nüchtern, denn medizinische Fakten und wissenschaftliche Erklärungen sorgen immer wieder für Distanz durch objektive Erklärungen. Der Wechsel zwischen subjektiver und objektiver Perspektive erzeugt beim Leser ein Wechselbad der Gefühle: Neugier, Grauen, Spannung, Grusel …: »Man muss den Tod gründlich verstehen und sich darauf vorbereiten, um ein erfülltes und befriedigendes Leben führen zu können.« (Klappentext) Mit der Kunst des Sterbens befaßt sich das erste Kapitel.

Die Kraft der Sterbegeschichten leidet darunter, daß sie immer vom gleichen Autor erzählt werden, der Stil wechselt nicht. Das zugrundeliegende Konzept ist stärker als die Authentizität der Erfahrungen. Praktische Tips muß man sich erarbeiten. Ich hätte mir Zusammenfassungen nach jedem Kapitel gewünscht und ein abschließendes Kapitel über mentale, körperliche und spirituelle Vorbereitungen. Leider fehlt ein Register. Das Literaturverzeichnis nennt englischsprachige Titel zu den elf Themen. Deutschsprachige Titel mit spirituellem Charakter wurden hinzugefügt, jedoch nicht ganz logisch eingeordnet.

Die Überlebenden der Fregatte Medusa

J.-B. Henri Savigny, Alexandre Corréard
Der Schiffbruch der Fregatte Medusa
Mit einem Vorwort von Michael Tournier, einem Nachwort von Johannes Zeilinger
und einem Bildessay zu Théodore Géricaults »Floß der Medusa« von Jörg Trempler
1.Auflage, herausgegeben nach der anonymen deutschen Übersetzung von 1818.
Matthes & Seitz Berlin 2005. 
Pappband mit Schutzumschlag. 12x20 cm
256 Seiten, 23 Textabb., Anmerkungen, nautisches Glossar und Literaturverzeichnis

Man kann den überlieferten Augenzeugenbericht handlungsorientiert lesen, vielleicht an einem stürmischen Herbstabend mit einem Wein am Kamin. Gruseln garantiert, hier im Stenostil: Bei einem Schiffsbruch nahe der afrikanischen Küste retten sich Offiziere, Soldaten und andere Privilegierte in Rettungsboote, 150 andere Menschen quetschen sich auf ein Floß, das ob der Last einen Meter unter die Wasserlinie sinkt. Nach zwölf Tagen werden 15 geborgen, davon sterben weitere fünf. In diesen 12 Tagen starben alle, die physisch oder psychisch nachgaben. Vom ersten Augenblick an zählten nur Instinkte. Der Wille zum Überleben gebar Totschlag, Mord, Kannibalismus.

Der Augenzeugenbericht ist um so eindrucksvoller, weil er so lakonisch geschrieben ist, als handele es sich um eine Klassenfahrt mit ungezogenen Schülern – der Verstand zeigt sich unfähig, die Lücke zu schließen und so wird die Phantasie aktiv. Auch das nach diesem Anlaß entstandene Gemälde von Géricault geht diesen Weg, wohl wissend daß die Phantasie jede mögliche Darstellung einholt, sei sie noch so grausig.

Natürlich ist der Bericht so reduziert, weil er dazu dienen sollte anzuklagen. Doch so sehr damals der Fall Frankreichs Öffentlichkeit beschäftigte, so wenig wurden angemessene Konsequenzen gezogen. Nun war der »Augenzeuge« kein Unbeteiligter. Er ist als Opfer zu sehen, weil er auf dem Floß landete und als Täter, weil er nicht zufällig die anderen 135 überlebte. Als Autor ist sein Bericht daher auch eine Rechtfertigung. Dabei wären in den 12 Tagen Dutzende von Handlungsalternativen möglich gewesen. Etwa: Man kann in 12 Tagen nicht verhungern, also war der Kannibalismus objektiv unnötig. Zu behaupten, daß sich die Betroffenen animalisch verhalten hätten, träfe nicht zu: Tiere hätten sich das nicht angetan.

Doch die Geschehnisse sind nicht aus der Gefahrensituation alleine zu erklären und nicht aus dem Versagen Einzelner, sondern zum einen durch das Versagen der Hierarchie, also der Autoritäten an Bord und zum anderen durch die Einstellung der Opfer, durch das Versagen des Verstandes. Beides läßt sich als Folge gesellschaftlicher Zustände im damaligen Frankreich verstehen: Hoffnungslosigkeit und Gewalt als Mittel der Wahl. Diese Zutaten gibt es auch heute noch, man werfe einen Blick in die Nachrichten.

wiki/grenze_zwischen_leben_und_tod.1543046305.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/12/07 15:10 (Externe Bearbeitung)

Donate Powered by PHP Valid HTML5 Valid CSS Driven by DokuWiki