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wiki:fussreisen

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wiki:fussreisen [2019/11/19 15:24] – [Straße als Ghetto] norbertwiki:fussreisen [2024/03/17 04:58] (aktuell) norbert
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 ===== Reisen wie im Traum ===== ===== Reisen wie im Traum =====
 Es war einmal ... ein [[wiki:reisende|Reisender]], der aufbrach in eine unbekannte * [[wiki:welt|Welt]]. Jeder Tag war voller Wunder und [[wiki:gefahr|Gefahren]], hinter jedem Horizont lagen Paradies und Hölle, Märchen und Sagen, Götter und Dämonen, [[wiki:angst|Angst]] und Hoffnung. Unserem wandernden Urahn schien die [[wiki:welt|Welt]] unendlich. [[wiki:tiere|Tiere]], Bäume, Landschaften ließen sich ein erstes und letztes Mal schauen. Niemals kehrten diese ersten Augen-blicke wieder. Tags zuvor noch waren Räume unbetreten, voll unendlicher Möglichkeiten, dann brach Realität hinein, Dinge wurden gesehen, gehört, getastet, gerochen und geschmeckt – erstmals wahrgenommen von einem Wanderer.\\  Es war einmal ... ein [[wiki:reisende|Reisender]], der aufbrach in eine unbekannte * [[wiki:welt|Welt]]. Jeder Tag war voller Wunder und [[wiki:gefahr|Gefahren]], hinter jedem Horizont lagen Paradies und Hölle, Märchen und Sagen, Götter und Dämonen, [[wiki:angst|Angst]] und Hoffnung. Unserem wandernden Urahn schien die [[wiki:welt|Welt]] unendlich. [[wiki:tiere|Tiere]], Bäume, Landschaften ließen sich ein erstes und letztes Mal schauen. Niemals kehrten diese ersten Augen-blicke wieder. Tags zuvor noch waren Räume unbetreten, voll unendlicher Möglichkeiten, dann brach Realität hinein, Dinge wurden gesehen, gehört, getastet, gerochen und geschmeckt – erstmals wahrgenommen von einem Wanderer.\\ 
-Zehntausende, vielleicht hunderttausende Jahre begann dieses Märchen immer wieder neu. Undenkbare Universen wurden Schritt für Schritt ins Bewußtsein geholt und auf ein menschliches Maß gestutzt. Je mehr Raum wurde, desto kleiner geriet die Erde. Sie unterwarf sich um einen hohen Preis: Tag für Tag starben die Träume. Unsere Ahnen durchschritten die Erde, nahmen sie wahr und schufen sie neu. Sie schauten links und gaben dem Neuen einen Namen und sie schauten rechts und gaben dem Neuen einen anderen Namen. Das [[wiki:wissen|Wissen]] wuchs, [[wiki:glaube|Glaube]] und Phantasie schwanden. Sie übten göttliche Taten. Namen lassen sich mitnehmen, der geheime Name eines Dinges ist identisch mit dem Ding, verleiht Macht. Sie machten sich die Erde untertan und blieben Wanderer mit dem Glauben an eine bessere Welt hinter dem Horizont. Es war die Zeit, als die Götter noch auf der Erde lebten.+Zehntausende, vielleicht hunderttausende Jahre begann dieses Märchen immer wieder neu. Undenkbare Universen wurden Schritt für Schritt ins Bewußtsein geholt und auf ein menschliches Maß gestutzt. Je mehr Raum wurde, desto kleiner geriet die Erde. Sie unterwarf sich um einen hohen Preis: Tag für Tag starben die Träume. Unsere Ahnen durchschritten die Erde, nahmen sie wahr und schufen sie neu. Sie schauten links und gaben dem Neuen einen Namen und sie schauten rechts und gaben dem Neuen einen anderen Namen. Das [[wiki:wissen|Wissen]] wuchs, [[wiki:glaube|Glaube]] und Phantasie schwanden. Sie übten göttliche Taten. Namen lassen sich mitnehmen, der geheime Name eines Dinges ist identisch mit dem [[wiki:ding|Ding]], verleiht Macht. Sie machten sich die Erde untertan und blieben Wanderer mit dem Glauben an eine bessere Welt hinter dem Horizont. Es war die Zeit, als die Götter noch auf der Erde lebten.
  
 Was ist die Welt für den heutigen Menschen, den modernen Wanderer? Zu wissen, woher der Fluß kommt, wohin er fließt, was hinter den Bergen liegt und wo die Küste beginnt ... die [[wiki:erde|Erde]] ist eine Kugel, dort ist Norden, hier gibt es Elefanten, Einhörner existieren nicht ... Was ist die Welt für den heutigen Menschen, den modernen Wanderer? Zu wissen, woher der Fluß kommt, wohin er fließt, was hinter den Bergen liegt und wo die Küste beginnt ... die [[wiki:erde|Erde]] ist eine Kugel, dort ist Norden, hier gibt es Elefanten, Einhörner existieren nicht ...
  
 Zu Fuß reisen — heißt das, Nutzloses erobern? Erreichen Fußreisende etwas, das andere nicht früher haben könnten? War nicht immer schon jemand vorher da, wenn die berühmten [[wiki:erforscher|Entdecker]] nach Columbus mühsam ihren Weg gefunden hatten? Vielleicht sind die Fußreisenden die Igel eines jahrhundertealten Wettlaufs. Zu Fuß reisen — heißt das, Nutzloses erobern? Erreichen Fußreisende etwas, das andere nicht früher haben könnten? War nicht immer schon jemand vorher da, wenn die berühmten [[wiki:erforscher|Entdecker]] nach Columbus mühsam ihren Weg gefunden hatten? Vielleicht sind die Fußreisenden die Igel eines jahrhundertealten Wettlaufs.
-Fußreisende suchen Erfahrung, nicht Erfolg. Sie leben ihren endlosen Traum zwischen [[wiki:neugier|Neugier]] und [[wiki:angst|Angst]] . Was hält die [[wiki:welt|Welt]] bereit, hinter dem Hügel, dort im Wald, unten im Fluß? Raum und [[wiki:zeit_musse|Zeit]] werden spürbar, im Rhythmus eine dem Menschen gemäße Geschwindigkeit gefunden, die Bedingungen des Lebens direkt empfunden, das Reisen als eine //conditio humana// erlebt.+Fußreisende suchen Erfahrung, nicht Erfolg. Sie leben ihren endlosen Traum zwischen [[wiki:neugier|Neugier]] und [[wiki:angst|Angst]] . Was hält die [[wiki:welt|Welt]] bereit, hinter dem Hügel, dort im Wald, unten im Fluß? Raum und [[wiki:zeit_musse|Zeit]] werden spürbar, im Rhythmus eine dem Menschen gemäße [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]] gefunden, die Bedingungen des Lebens direkt empfunden, das Reisen als eine //conditio humana// erlebt.
  
 Der Mensch ist nicht nur ein reisendes, sondern auch ein soziales Wesen; er braucht die Gemeinschaft. Fußreisende bewegen sich aus der Gemeinschaft heraus und müssen das besonders legitimieren. Weshalb reisen, wenn es zu nichts nütze scheint, Zeit vergeuden? Für Seßhafte war es immer schon anrüchig, nicht-seßhaft zu sein: Der Mensch ist nicht nur ein reisendes, sondern auch ein soziales Wesen; er braucht die Gemeinschaft. Fußreisende bewegen sich aus der Gemeinschaft heraus und müssen das besonders legitimieren. Weshalb reisen, wenn es zu nichts nütze scheint, Zeit vergeuden? Für Seßhafte war es immer schon anrüchig, nicht-seßhaft zu sein:
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 ===== Jäger und Sammler - Immer unterwegs ===== ===== Jäger und Sammler - Immer unterwegs =====
-Die Veränderung des Klimas rang dem afrikanischen Urwald trockene und weite Savannen ab. Südlich der [[wiki:sahara|Sahara]] durchstreiften sie Gruppen von 25-50 Frühmenschen auf der Suche nach Wasser und Nahrung, [[wiki:tiere|Tiere]] jagend, vor Raubtieren flüchtend, immer in Bewegung. Das karge Angebot auf einer Fläche von zwei mal zwei Kilometern ernährte gerade eine Person mit Obst und Wurzeln, Aasresten, erjagtem Fleisch. Ohne Milchviehhaltung wurden ihre Kinder 4-5 Jahre gestillt. Dabei legten sie etwa 5.000 Kilometer zurück, immer im Rhythmus des Gehens, an der Brust der Mutter oder auf ihrem Rücken. Diese Situation prägt das menschliche Verhalten bis heute. Babies schreien nicht, solange sie getragen und etwa fünfzig Mal pro Minute bewegt werden. Dieser Rhythmus läßt sich auch künstlich erzeugen und bewirkt gleiches: nur das liegengebliebene, vergessene Baby schreit - Bewegung ist richtig.+ 
 +Die Veränderung des [[wiki:klima|Klimas]] rang dem afrikanischen Urwald trockene und weite Savannen ab. Südlich der [[wiki:sahara|Sahara]] durchstreiften sie Gruppen von 25-50 Frühmenschen auf der Suche nach Wasser und Nahrung, [[wiki:tiere|Tiere]] jagend, vor Raubtieren flüchtend, immer in Bewegung. Das karge Angebot auf einer Fläche von zwei mal zwei Kilometern ernährte gerade eine Person mit Obst und Wurzeln, Aasresten, erjagtem Fleisch. Ohne Milchviehhaltung wurden ihre Kinder 4-5 Jahre gestillt. Dabei legten sie etwa 5.000 Kilometer zurück, immer im Rhythmus des Gehens, an der Brust der Mutter oder auf ihrem Rücken. Diese Situation prägt das menschliche Verhalten bis heute. Babies schreien nicht, solange sie getragen und etwa fünfzig Mal pro Minute bewegt werden. Dieser Rhythmus läßt sich auch künstlich erzeugen und bewirkt gleiches: nur das liegengebliebene, vergessene Baby schreit - Bewegung ist richtig.
  
 Heute lebende Jäger und Sammler pflegen die [[wiki:zeit_musse|Muße]] – das dürfte früher kaum anders gewesen sein. Mit wöchentlich etwa 20 Stunden Jagd- und Sammelarbeit sichern viele dieser Ethnien ihren Alltag. Ein Territorium wird verlassen, sobald der Aufwand zur Nahrungsbeschaffung zu hoch wird - lange bevor ein Gebiet ausgebeutet ist. Weshalb sollten frühere Jäger und Sammler leistungsbewußter gewesen sein? Reisen hieß, einen Aufwand zur Ortsveränderung zu betreiben, um den Aufwand zum Lebensunterhalt zu minimieren. Ein Kampf ums Dasein war nur selten nötig. Heute lebende Jäger und Sammler pflegen die [[wiki:zeit_musse|Muße]] – das dürfte früher kaum anders gewesen sein. Mit wöchentlich etwa 20 Stunden Jagd- und Sammelarbeit sichern viele dieser Ethnien ihren Alltag. Ein Territorium wird verlassen, sobald der Aufwand zur Nahrungsbeschaffung zu hoch wird - lange bevor ein Gebiet ausgebeutet ist. Weshalb sollten frühere Jäger und Sammler leistungsbewußter gewesen sein? Reisen hieß, einen Aufwand zur Ortsveränderung zu betreiben, um den Aufwand zum Lebensunterhalt zu minimieren. Ein Kampf ums Dasein war nur selten nötig.
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 +Bei einer Auswertung der Felsbilder von Südafrika und Namibia wurden auch die »Objekte« ausgewertet, also weder Mensch noch Tier noch geometrische Symbolik. In dieser Klasse überwogen hinsichtlich der Anzahl Ausrüstungsgegenstände fürs Jagen und Sammeln: Pfeil und Bogen (mit Köcher), Tasche, Kleidung (Vorderschutz), Grabstock und Instrument ((Christina Otto\\ Die Felsmalereien und -gravierungen des südlichen Afrika\\ Eine vergleichende Analyse\\ Leipziger Arbeiten zur Geschichte und Kultur in Afrika Nr. 11, 2006; S. 53, 105-106 - [[wiki:stab|Stab]], Speer, Bogen und Musikinstrument sind häufig nicht zu unterscheiden)).
  
 Das geruhsame Wandern in sich langsam verlagernden Territorien war kaum jemals eine richtige Reise, Ziele lagen meist nah. Es mag 80.000 Jahre gedauert haben, bis „moderne“ Menschen den Weg von [[wiki:routen_in_afrika|Afrika]] nach [[wiki:routen_in_amerika|Amerika]] über Land zurückgelegt haben, der mit vielfachen Kreuz- und Querwegen vielleicht 40.000 Kilometer betrug. Die „Eroberung“ der Erde erfolgte jedenfalls zu Fuß. Sprachvergleiche, Gen- und Mitochondrienanalysen führen allesamt zu ähnlichen Ergebnissen: eine kleine Gruppe verließ vor etwa 100.000 Jahren Afrika über die Landenge von Suez, von Vorderasien gelangten Menschen schon früh nach [[wiki:europa|Europa]], vor 40.000 Jahren wurde [[wiki:routen_in_australien|Australien]] erreicht, Amerika in verschiedenen Wellen vor etwa 10-20.000 Jahren, vereinzelt vor 30 bis 40.000 Jahren. Die langsame Wanderung täuscht durch ihre Durchschnittlichkeit, da auf Perioden schneller Wanderung, bedingt durch Bevölkerungsdruck, klimatische und geographische Gelegenheiten, Perioden der Stagnation folgten, bedingt durch eine günstige Umwelt. Warum eine Gegend verlassen, in der es alles gibt? Das geruhsame Wandern in sich langsam verlagernden Territorien war kaum jemals eine richtige Reise, Ziele lagen meist nah. Es mag 80.000 Jahre gedauert haben, bis „moderne“ Menschen den Weg von [[wiki:routen_in_afrika|Afrika]] nach [[wiki:routen_in_amerika|Amerika]] über Land zurückgelegt haben, der mit vielfachen Kreuz- und Querwegen vielleicht 40.000 Kilometer betrug. Die „Eroberung“ der Erde erfolgte jedenfalls zu Fuß. Sprachvergleiche, Gen- und Mitochondrienanalysen führen allesamt zu ähnlichen Ergebnissen: eine kleine Gruppe verließ vor etwa 100.000 Jahren Afrika über die Landenge von Suez, von Vorderasien gelangten Menschen schon früh nach [[wiki:europa|Europa]], vor 40.000 Jahren wurde [[wiki:routen_in_australien|Australien]] erreicht, Amerika in verschiedenen Wellen vor etwa 10-20.000 Jahren, vereinzelt vor 30 bis 40.000 Jahren. Die langsame Wanderung täuscht durch ihre Durchschnittlichkeit, da auf Perioden schneller Wanderung, bedingt durch Bevölkerungsdruck, klimatische und geographische Gelegenheiten, Perioden der Stagnation folgten, bedingt durch eine günstige Umwelt. Warum eine Gegend verlassen, in der es alles gibt?
  
-Die frühen Wanderer schätzten sichere Wege: entlang der Flüsse, in Klimazonen mit regelmäßigen Regenfällen und nicht zu kalten Wintern, mit Rückzugsmöglichkeiten in Höhlen oder auf Bäume. Wüsten, Gebirge, vereiste Gegenden erforderten einen hohen Aufwand: Bekleidung, Transportmittel für Wasser und Lebensmittel, die Technik des [[wiki:lagerfeuer|Feuermachens]], Schutz gegen Kälte und Sturm waren nötig. Der Druck zur Wanderung mußte schon außergewöhnlich stark sein, um sich solchen Bedingungen auszusetzen. Zogen sich einzelne Gruppen in Nischen, in Täler, auf Almen, auf Inseln, in Oasen zurück, riskierten sie ihre Existenz. Ein einziges kaltes Jahr, ein einzige ausgefallene Regenzeit bedeutete ihr Ende. Der Abstand zu anderen Gruppen durfte nie zu groß werden: wer zu schnell war, begab sich in die soziale Isolation, förderte Krankheit durch Inzucht. Das erforderte den Kontakt zu weiteren 20-30 Gruppen.+Die frühen Wanderer schätzten sichere Wege: entlang der Flüsse, in [[wiki:klima|Klimazonen]] mit regelmäßigen Regenfällen und nicht zu kalten Wintern, mit Rückzugsmöglichkeiten in Höhlen oder auf Bäume. Wüsten, Gebirge, vereiste Gegenden erforderten einen hohen Aufwand: [[wiki:reisekleidung|Kleidung]], Transportmittel für Wasser und [[wiki:lebensmittel|Lebensmittel]] , die Technik des [[wiki:lagerfeuer|Feuermachens]], Schutz gegen Kälte und Sturm waren nötig. Der Druck zur Wanderung mußte schon außergewöhnlich stark sein, um sich solchen Bedingungen auszusetzen. Zogen sich einzelne Gruppen in Nischen, in Täler, auf Almen, auf Inseln, in Oasen zurück, riskierten sie ihre Existenz. Ein einziges kaltes Jahr, ein einzige ausgefallene Regenzeit bedeutete ihr Ende. Der Abstand zu anderen Gruppen durfte nie zu groß werden: wer zu schnell war, begab sich in die soziale Isolation, förderte Krankheit durch Inzucht. Das erforderte den Kontakt zu weiteren 20-30 Gruppen.
  
 ==== Der Bote ==== ==== Der Bote ====
-Ein früher Einzelreisender war der Bote, denn sicher tauschten umherziehenden Gruppen Nachrichten aus. Im Götterboten * [[wiki:reisegoetter|Hermes]] ist die Bedeutung dieser Funktion gespeichert. Die feste soziale Bindung an die Kleingruppe und eine lockere Bindung an eine größere Gemeinschaft ist ein Kennzeichen der frühen Fußreisen. Das Problem der Zugehörigkeit wurde durch das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Ahnen gelöst. Mit dem Namen eines gemeinsamen Ahnen bewies man die Zugehörigkeit zum selben Stamm. Dieser Ahne konnte abstrakt sein, dennoch diente er über lange Zeiträume als Identitätsmerkmal. Erst die Seßhaften ersetzten dies durch eine geographisch definierte Heimat, einen Ort, ein Volk, eine Nation.+Ein früher [[wiki:einzelne|Einzelreisender]] war der Bote, denn sicher tauschten umherziehenden Gruppen Nachrichten aus. Im Götterboten * [[wiki:reisegoetter|Hermes]] ist die Bedeutung dieser Funktion gespeichert. Die feste soziale Bindung an die Kleingruppe und eine lockere Bindung an eine größere Gemeinschaft ist ein Kennzeichen der frühen Fußreisen. Das Problem der Zugehörigkeit wurde durch das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Ahnen gelöst. Mit dem Namen eines gemeinsamen Ahnen bewies man die Zugehörigkeit zum selben Stamm. Dieser Ahne konnte abstrakt sein, dennoch diente er über lange Zeiträume als Identitätsmerkmal. Erst die Seßhaften ersetzten dies durch eine geographisch definierte Heimat, einen Ort, ein Volk, eine Nation.
  
 Dieser Zustand beschreibt 99% der kulturgeschichtlichen Vorzeit, noch um Christi Geburt lebte 50 % der Menschheit als Jäger und Sammler: Dieser Zustand beschreibt 99% der kulturgeschichtlichen Vorzeit, noch um Christi Geburt lebte 50 % der Menschheit als Jäger und Sammler:
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 ===== Nomaden - Die Weiden sind das Ziel ===== ===== Nomaden - Die Weiden sind das Ziel =====
 Wandernden Sammlern mag es eines Tages, vielleicht vor der Durchquerung einer ausgedehnten kargen Gegend, zweckmäßig erschienen sein, sich lebende Nahrung mitzunehmen, vermutlich wildlebende Ziegen- oder Schafsarten. Sie waren genügsam, boten wohlschmeckendes Fleisch, gaben Milch und Wolle, vermehrten sich von allein, ließen sich einfach hüten und führen. Wandernden Sammlern mag es eines Tages, vielleicht vor der Durchquerung einer ausgedehnten kargen Gegend, zweckmäßig erschienen sein, sich lebende Nahrung mitzunehmen, vermutlich wildlebende Ziegen- oder Schafsarten. Sie waren genügsam, boten wohlschmeckendes Fleisch, gaben Milch und Wolle, vermehrten sich von allein, ließen sich einfach hüten und führen.
-Sobald dem Wanderer die Tiere mehr bedeuteten als Nahrungsmittel auf eigenen Beinen, maß er ihnen einen dauerhaften Wert zu: sie wurden zu Kapital, Prestige, Altersvorsorge. Darin zeigt sich erstmals Sorge um die Zukunft, Sicherheitsdenken, langfristige Planung und Eigentum. Der wandernde Nomade gab etwas auf von der Freiheit eines Jägers und Sammlers und trug fortan Sorge auch für sein Vieh. Sein Lebensziel änderte sich: die Bedürfnisse der Tiere bestimmten künftig seine Wanderungen: Wasser, Nahrung, Klima mußten den Tieren zuträglich sein. Der Begriff //Nomade// lebt unter dem Naturgesetz, //nomos//,  es beherrscht sein Weideland.+Sobald dem Wanderer die Tiere mehr bedeuteten als Nahrungsmittel auf eigenen Beinen, maß er ihnen einen dauerhaften Wert zu: sie wurden zu Kapital, Prestige, Altersvorsorge. Darin zeigt sich erstmals Sorge um die Zukunft, Sicherheitsdenken, langfristige Planung und Eigentum. Der wandernde Nomade gab etwas auf von der Freiheit eines Jägers und Sammlers und trug fortan Sorge auch für sein Vieh. Sein Lebensziel änderte sich: die Bedürfnisse der Tiere bestimmten künftig seine Wanderungen: Wasser, Nahrung, [[wiki:Klima|Klima]] mußten den Tieren zuträglich sein. Der Begriff //Nomade// lebt unter dem Naturgesetz, //nomos//,  es beherrscht sein Weideland.
  
 Unwissentlich war ein erster Schritt zur Seßhaftwerdung getan - Viehwirtschaft betrieben, Güter produziert: Fleisch, Milch, Käse, Joghurt, Kefir, Leder, Felle, Haare, Hörner, Knochen. Wenn Nomaden ihren Herden Wert zumessen, und das tun sie bis heute, wird ein Wachstum der Herden angestrebt. Die Güterproduktion übersteigt den Bedarf der Sippe. Unvorstellbar, die Güter wegzuwerfen, nachdem sie Jahrzehntausende einen immensen Wert darstellten. Bei Jägern und Sammlern gab es kein Eigentum: Reichtum wurde geteilt oder vernichtet. Doch Nomadentum ist unvereinbar mit der Anhäufung von Besitz, Überschuß muß getauscht oder verkauft werden. Geld kommt von Geltung und ist sprachverwandt mit Zahlung, Opfer, Vieh. Unwissentlich war ein erster Schritt zur Seßhaftwerdung getan - Viehwirtschaft betrieben, Güter produziert: Fleisch, Milch, Käse, Joghurt, Kefir, Leder, Felle, Haare, Hörner, Knochen. Wenn Nomaden ihren Herden Wert zumessen, und das tun sie bis heute, wird ein Wachstum der Herden angestrebt. Die Güterproduktion übersteigt den Bedarf der Sippe. Unvorstellbar, die Güter wegzuwerfen, nachdem sie Jahrzehntausende einen immensen Wert darstellten. Bei Jägern und Sammlern gab es kein Eigentum: Reichtum wurde geteilt oder vernichtet. Doch Nomadentum ist unvereinbar mit der Anhäufung von Besitz, Überschuß muß getauscht oder verkauft werden. Geld kommt von Geltung und ist sprachverwandt mit Zahlung, Opfer, Vieh.
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   „Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht Pfad geworden bist.“ (Buddha)     „Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht Pfad geworden bist.“ (Buddha)  
  
-Wer sich tief in die Wildnis verirrt, ist diesem Zustand am nächsten - er muß sich verlieren, um seinen Weg gestalten zu können. Der kürzeste Weg in der Wildnis führt durch Schluchten und Wasserläufe, endet an Abbrüchen oder im Sumpf. Der kürzeste Weg ist meist ein kraftraubender, falscher. Den richtigen Weg zu kreieren, das ist die Kunst. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Natur und der eigenen Möglichkeiten. Ein solcher Weg sucht die Höhe, aber nicht den Gipfel, weicht Schwierigkeiten aus. Scheinbar sinnlose Kehren ermöglichen einen steten Gang. Der richtige Weg ist ein Weg der kleinsten Mühen. Die Wege der ersten Fußreisenden bestimmen noch heute die Welt des Menschen: Kreuzungen waren heilig - Wegkreuze wurden bis in die Gegenwart errichtet. Wo sich Wege kreuzten, entstanden Handelsniederlassungen, Dörfer, Städte. Wo niemand ausweichen konnte, entstanden Burgen, wurde Zoll erhoben. Ganze Länder kann beherrschen, wer die ein, zwei wichtigsten Straßen kontrolliert (Afghanistan). Die frühen Fußwege wurden Mensch und Umwelt in einem solchen Maße gerecht, daß sie oftmals kaum verändert bis heute existieren. Hier wurde der Belag ausgewechselt, dort verkürzten Brücken oder Dämme ein Stück, andernorts beseitigte man ein Hindernis. Flußläufe, Furten, Pässe, Quellen, Bodenbeschaffenheit und Höhenunterschiede bestimmten den groben Verlauf. Vier Bernsteinstraßen von zusammen etwa fünftausend Kilometern Länge durchzogen Europa in Nord-Süd-Richtung. Eine Königsstraße verband die Türkei mit Persien, Rasthäuser gab es in etwa 25 Kilometern Abstand, ideal für einen Tagesmarsch, im Gebirge nach 20 Kilometern. In drei Monaten wanderte man um 500 v. Chr. die 2500 Kilometer lange Strecke von Susa nach Ephesos zurück.+Wer sich tief in die Wildnis verirrt, ist diesem Zustand am nächsten - er muß sich verlieren, um seinen Weg gestalten zu können. Der kürzeste Weg in der Wildnis führt durch Schluchten und Wasserläufe, endet an Abbrüchen oder im Sumpf. Der kürzeste Weg ist meist ein kraftraubender, falscher. Den richtigen Weg zu kreieren, das ist die Kunst. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Natur und der eigenen Möglichkeiten. Ein solcher Weg sucht die Höhe, aber nicht den Gipfel, weicht Schwierigkeiten aus. Scheinbar sinnlose Kehren ermöglichen einen steten Gang. Der richtige Weg ist ein Weg der kleinsten Mühen. Die Wege der ersten Fußreisenden bestimmen noch heute die Welt des Menschen: Kreuzungen waren heilig - Wegkreuze wurden bis in die Gegenwart errichtet. Wo sich Wege kreuzten, entstanden Handelsniederlassungen, Dörfer, Städte. Wo niemand ausweichen konnte, entstanden Burgen, wurde Zoll erhoben. Ganze Länder kann beherrschen, wer die ein, zwei wichtigsten Straßen kontrolliert (Afghanistan). Die frühen Fußwege wurden Mensch und Umwelt in einem solchen Maße gerecht, daß sie oftmals kaum verändert bis heute existieren. Hier wurde der Belag ausgewechselt, dort verkürzten Brücken oder Dämme ein Stück, andernorts beseitigte man ein Hindernis. Flußläufe, Furten, Pässe, Quellen, Bodenbeschaffenheit und Höhenunterschiede bestimmten den groben Verlauf. Vier Bernsteinstraßen von zusammen etwa fünftausend Kilometern Länge durchzogen Europa in Nord-Süd-Richtung. Eine Königsstraße verband die Türkei mit Persien, [[wiki:rast|Rast]]häuser gab es in etwa 25 Kilometern Abstand, ideal für einen Tagesmarsch, im Gebirge nach 20 Kilometern. In drei Monaten wanderte man um 500 v. Chr. die 2500 Kilometer lange Strecke von Susa nach Ephesos zurück.
  
 ===== Die Reisen der Seßhaften ===== ===== Die Reisen der Seßhaften =====
 Dem Händler folgten Helfer, Verpflegung war nötig, Herden mußten am Standort gehalten werden. Obst- und Ackerbau wurden zur Notwendigkeit. Arbeitsteilung war unvermeidlich, Berufe entstanden. Nicht länger hielten familiäre Bande oder ein gemeinsamer Ahne die Gruppe zusammen - gemeinsame und handfeste Interessen traten an ihre Stelle. Die frühen Seßhaften müssen aus Sicht der Nomaden ein asozialer Haufen gewesen sein. Interessenkonflikte erforderten Entscheidungen, Hierarchien entstanden, Gesetze, Gerichtsbarkeit. Mag sein, daß die Seßhaften zweifelten, sich aus dem Paradies verstoßen fühlten. Jedenfalls fällt auf, daß sie die Nomaden vor allem negativ definierten: sie haben keine Häuser, keinen Grundbesitz, bauen keine Bodenfrüchte an und können daher auch kein Brot backen, sie haben keine Regierung, keine festen Bindungen, akzeptieren keine Grenzen, haben weder Tempel, noch Moscheen oder Kirchen, sind wenig religiös und haben kaum Rituale .... Ein Nomade dagegen sieht sich als selbstbestimmt innerhalb seiner Sippe, frei in der Ortswahl, Teilhaber riesiger Territorien, im Besitz von Vieh und Zelt, von [[wiki:zeit_musse|Muße]] und Freizeit ... Dem Händler folgten Helfer, Verpflegung war nötig, Herden mußten am Standort gehalten werden. Obst- und Ackerbau wurden zur Notwendigkeit. Arbeitsteilung war unvermeidlich, Berufe entstanden. Nicht länger hielten familiäre Bande oder ein gemeinsamer Ahne die Gruppe zusammen - gemeinsame und handfeste Interessen traten an ihre Stelle. Die frühen Seßhaften müssen aus Sicht der Nomaden ein asozialer Haufen gewesen sein. Interessenkonflikte erforderten Entscheidungen, Hierarchien entstanden, Gesetze, Gerichtsbarkeit. Mag sein, daß die Seßhaften zweifelten, sich aus dem Paradies verstoßen fühlten. Jedenfalls fällt auf, daß sie die Nomaden vor allem negativ definierten: sie haben keine Häuser, keinen Grundbesitz, bauen keine Bodenfrüchte an und können daher auch kein Brot backen, sie haben keine Regierung, keine festen Bindungen, akzeptieren keine Grenzen, haben weder Tempel, noch Moscheen oder Kirchen, sind wenig religiös und haben kaum Rituale .... Ein Nomade dagegen sieht sich als selbstbestimmt innerhalb seiner Sippe, frei in der Ortswahl, Teilhaber riesiger Territorien, im Besitz von Vieh und Zelt, von [[wiki:zeit_musse|Muße]] und Freizeit ...
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 +  James Suzman
 +  Sie nannten es Arbeit.
 +  Eine andere Geschichte der Menschheit.
 +  Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber
 +  398 S., C. H. Beck München 2021
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 +  Scott, James C.
 +  Die Mühlen der Zivilisation.
 +  Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten.
 +  Aus dem Englischen (Against the Grain) von Horst Brühmann
 +  329 S., Suhrkamp Frankfurt am Main 2020
 +  »Unsere Vorfahren wären besser Nomaden geblieben.«
  
 Alle weiteren Motive und Möglichkeiten der Reisen zu Fuß resultieren aus der Seßhaftigkeit. Ist die Bindung an einen Ort für den Nomaden ein Unglück, so wurde der Verlust der Heimat dem Seßhaften Fluch, Schande oder gottgesandtes Schicksal. Heimat ist ortsgebundener Be-//sitz// im Rahmen fester sozialer, materieller und geographischer Bindungen. Eine folgenschwere Festlegung: Arbeit wird zum Wert an sich, Religion ebenso. Erstere manifestiert sich in der Anhäufung von Besitztümern (Im-//mobilien//) und im Ansehen achtbarer Berufe, die zweite in Gotteshäusern (dem Turm zu Babel), Statuen (das goldene Kalb) und Bildern (der Islam verbot sie). Die großen monotheistischen Weltreligionen wurzeln im Nomadentum (Buddha, Jesus und Mohammed waren Wanderer), doch die Seßhaften schufen sich einen reich bevölkerten Götterhimmel. Arbeit kompensierte den Verlust an [[wiki:freiheit|Freiheit]], Religiosität die Entfremdung von der Natur. Das eine oder andere in Frage zu stellen hieß, am Vertrag der Seßhaften zu rütteln. Christliche Sekten, die Besitzlosigkeit zur Grundlage des Glaubens machten, verfolgte die Kirche als Ketzer (Katharer). Wer die Arbeit scheut, wird zur sozialen Randfigur, zum Künstler oder Landstreicher. Seßhafte haben nun einmal ausgeprägte Ge-//wohn//-heiten.\\  Alle weiteren Motive und Möglichkeiten der Reisen zu Fuß resultieren aus der Seßhaftigkeit. Ist die Bindung an einen Ort für den Nomaden ein Unglück, so wurde der Verlust der Heimat dem Seßhaften Fluch, Schande oder gottgesandtes Schicksal. Heimat ist ortsgebundener Be-//sitz// im Rahmen fester sozialer, materieller und geographischer Bindungen. Eine folgenschwere Festlegung: Arbeit wird zum Wert an sich, Religion ebenso. Erstere manifestiert sich in der Anhäufung von Besitztümern (Im-//mobilien//) und im Ansehen achtbarer Berufe, die zweite in Gotteshäusern (dem Turm zu Babel), Statuen (das goldene Kalb) und Bildern (der Islam verbot sie). Die großen monotheistischen Weltreligionen wurzeln im Nomadentum (Buddha, Jesus und Mohammed waren Wanderer), doch die Seßhaften schufen sich einen reich bevölkerten Götterhimmel. Arbeit kompensierte den Verlust an [[wiki:freiheit|Freiheit]], Religiosität die Entfremdung von der Natur. Das eine oder andere in Frage zu stellen hieß, am Vertrag der Seßhaften zu rütteln. Christliche Sekten, die Besitzlosigkeit zur Grundlage des Glaubens machten, verfolgte die Kirche als Ketzer (Katharer). Wer die Arbeit scheut, wird zur sozialen Randfigur, zum Künstler oder Landstreicher. Seßhafte haben nun einmal ausgeprägte Ge-//wohn//-heiten.\\ 
  
-Kain erschlägt Abel, der Bauer den Nomaden. Im Schweiße seines Angesichts, den Rücken gebeugt, die Hände in der Erde sichert der Bauer sein Leben. Der seßhafte Hirte zäunt seine Weiden ein, sein Zelt erstarrt zu festen Mauern, die Siedlung erhält einen Wall. Dörfer und Städte brauchen Wasser und fruchtbares Land. Macht wurde ausgeübt: verfügen über ... und besitzen von ..., Grenzen gesetzt, Anspruch erhoben, selbst auf Nomaden. Die wurden verdrängt in unfruchtbare Rückzugsgebiete. Der Konflikt wurde unausweichlich. Die Bibel erzählt, daß Nomaden Städte angreifen (Jericho) und die Stadtgründer verfluchen. Noch 1690 beschlossen die wandernden Don-Kosaken die Todesstrafe für jeden, der den Boden bebauen wollte. Kolonialismus hieß fast immer Krieg mit Nomadenvölkern. Und heute? Die Tuareg in Mali, die Polisario in Mauretanien wehren sich mit der Waffe gegen Grenzziehungen.+Kain erschlägt Abel, der Bauer den Nomaden. Im Schweiße seines Angesichts, den Rücken gebeugt, die Hände in der Erde sichert der Bauer sein Leben. Der seßhafte Hirte zäunt seine Weiden ein, sein Zelt erstarrt zu festen Mauern, die Siedlung erhält einen Wall. Dörfer und Städte brauchen Wasser und fruchtbares Land. Macht wurde ausgeübt: verfügen über ... und besitzen von ..., Grenzen gesetzt, Anspruch erhoben, selbst auf Nomaden. Die wurden verdrängt in unfruchtbare Rückzugsgebiete. Der Konflikt wurde unausweichlich. Die Bibel erzählt, daß Nomaden Städte angreifen (Jericho) und die Stadtgründer verfluchen. Noch 1690 beschlossen die wandernden Don-Kosaken die Todesstrafe für jeden, der den Boden bebauen wollte. Kolonialismus hieß fast immer Krieg mit Nomadenvölkern. Und heute? Die [[wiki:tuareg|Tuareg]] in Mali, die Polisario in Mauretanien wehren sich mit der Waffe gegen Grenzziehungen.
  
-[[wiki:zeit_musse|Zeit]] wurde kostbar, [[wiki:reisen|Reisen]] schien gefährlich, erodierte Bindungen – Warum die mehrfach gesicherten [[wiki:grenze|Grenzen]] von Heim, Haus, Hof, Dorf und Land aufgeben, vertraute Bindungen lösen? Die Fußreise, vordem Bestandteil des Alltags, stand dem Einzelnen nun zur Wahl, konnte Notwendigkeit sein oder [[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]]. Existentieller Zwang zu reisen wurde durch den Zwang zur sozialen Legitimation ersetzt. Peinlich genau achteten Seßhafte darauf, daß Reisen sozial begründet und zeitlich begrenzt wurden. Legitim waren die Walz der Handwerksgesellen, der wandernde Krieger, der fahrende Händler, der Pilger. Vereinzelt hielten sich Rituale der nomadischen Kultur: Könige reisten von Pfalz zu Pfalz, Bischöfe von Diözese zu Diözese, Pilger zu den heiligen Stätten.+[[wiki:zeit_musse|Zeit]] wurde kostbar, [[wiki:reisen|Reisen]] schien gefährlich, erodierte Bindungen – Warum die mehrfach gesicherten [[wiki:grenze|Grenzen]] von Heim, Haus, Hof, Dorf und Land aufgeben, vertraute Bindungen lösen? Die Fußreise, vordem Bestandteil des Alltags, stand dem [[wiki:einzelne|Einzelnen]] nun zur Wahl, konnte Notwendigkeit sein oder [[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]]. Existentieller Zwang zu reisen wurde durch den Zwang zur sozialen Legitimation ersetzt. Peinlich genau achteten Seßhafte darauf, daß Reisen sozial begründet und zeitlich begrenzt wurden. Legitim waren die Walz der Handwerksgesellen, der wandernde Krieger, der fahrende Händler, der Pilger. Vereinzelt hielten sich Rituale der nomadischen Kultur: Könige reisten von Pfalz zu Pfalz, Bischöfe von Diözese zu Diözese, Pilger zu den heiligen Stätten.
  
 ==== Pilgerfahrten ==== ==== Pilgerfahrten ====
-  »Ach Fremdedu bist wahrlich hart; du bist sehr schwer, das sage ich dir in Wahrheit. +  * Kapitel ausgelagertsiehe [[wiki:pilger|Pilger]] 
-  Mit Mühsal leben, die der Heimat entbehren. Ich habe es an mir erprobt+  * [[wiki:pilgerstab|Pilgerstab]] 
-  Ich fand nichts Liebes in dir, ich fand in dir nichts als Jammer und  +  * [[wiki:pilgerwege|Pilgerwege]] 
-  ein schmerzerfülltes Herz und vielfältige Trauer.« +  * [[wiki:pilgerzeichen|Pilgerzeichen]] 
-  Otfrieds Evangelienbuch  +  * [[wiki:reisegepaeck#Das Reisegepäck der Pilger im Mittelalter|Reisegepäck der Pilger]] 
-''Helena'', Mutter des römischen Kaisers ''Konstantin'', reiste 326 nach Palästina und wurde zum Vorbild der entstehenden Pilgerbewegung — es waren meist Frauen, die in den nächsten Jahrhunderten pilgertenDie Wanderungen Jesu nachvollziehendwurden dessen unsichtbare Spuren zum Objekt der Anbetung»Lasset uns beten an den Stellenwo sein Fuß gestanden hat.« +  * [[wiki:strannik|Strannik]] 
 +==== Fahrendes Volk ==== 
 +In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur KugelDenker erweiterten den geistigen HorizontEntdeckungsreisende den geographischenGewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Gütersondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? [[wiki:zeitempfinden|Keine Zeit]]! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch'')
  
-Bereits in der griechisch-römischen Antike war ein Philosoph kaum anders als wandernd vorstellbar. ''Strabon'' (griechischer Historiker und Geograph, 63 v. - 23 n. Chr.) fand die, die nach dem Sinn des Lebens suchen, in jenen, die die Berge durchstreiften. Erst im 6. Jahrhundert verpflichtete die sogenannte Benediktinerregel die Mönche zur Seßhaftigkeit, zur //[[wiki:stabilitas_loci|stabilitas loci]]//. Entvölkert wurden die Straßen dadurch nicht, sorgten doch Scholaren nach den Universitätsgründungen des 12. und 13. Jahrhunderts für weltlichen Nachwuchs. In den Liedern der //Carmina Burana// spiegelt sich der Geist der gelehrten, doch armen [[wiki:vaganten|Vaganten]], denen sich im nachfolgenden Humanismus die //Bacchanten//, fahrende Schüler mit schlechtem Ruf, zugesellten, und denen ''Goethe'' mit dem Mephistopheles ein Denkmal setzte. +Paradoxerweise wurde die Epoche zum Zeitalter der [[wiki:erforscher|Entdecker und Erforscher]] hochgejubelt. Doch längst war die Welt zu Fuß entdeckt, viel gründlicher als „Eroberer“ das vermochten. Es ging vielmehr darum, das Wissen über die Wege rund um den Globus zu nutzen – nicht die Welt wurde entdeckt, sondern Kunden, nicht Länder wurden erobert, sondern Märkte. Nach der Seßhaftwerdung war dies die zweite Hinwendung zum Materialismus.
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-Im //[[wiki:itinerar|Itinerarium]] Burdigalense//, dem ältesten bekannten Pilgerführer (333 n. Chr.), wird die Reise von Bordeaux nach Jerusalem über Toulouse, Narbonne, Mailand, Padua, Belgrad, Sofia, Adrianopel, Konstantinopel, durch Syrien nach Palästina, beschrieben. Neben Jerusalem und Rom entstanden weitere Ziele: Santiago de Compostela, Canterbury, Einsiedeln, die Heilige Linde, Lourdes. Waffenlos und barfuß im einfachen Gewand mit breitkrempigem Hut, Umhängetasche und dem Kürbis als Wasserflasche wanderten die Pilger; warme Bäder und weiche Betten sollten gemieden, Haare und Fingernägel durften nicht geschnitten werden. Als Ziel für Überfälle waren Pilger wenig attraktiv.\\  +
-Mit Bischof ''Gunther von Bamberg'' zogen 1064/65 n. Chr. 7000 Pilger ins Heilige Land, auch ''Peter dem Einsiedler'' folgten im Jahre 1096 Tausende. Diese Massenbewegungen kündigten die Kreuzzüge als bewaffnete Wallfahrten von Armeen an. Kreuzfahrern versprach ''Bernhard von Clairvaux'' die gleichen Verdienste für das Jenseits, die auch für einfache Pilger galten. Höhepunkt der Bewegung war das vom Papst erstmals 1300 ausgerufene Heilige Jahr. 20.000 Pilger besuchten Rom, etwa so viele wie die Stadt Einwohner hatte. Im Spätmittelalter wurde Santiago de Compostela als Pilgerziel bedeutender als Rom. Hunderttausende zogen Jahr für Jahr dorthin, auf etwa 2500 schlechten Wegkilometern quer durch Mittel- und Westeuropa. Man erkannte sich an der Jakobsmuschel, an Umhang (Pelerine) und Wanderstab; Jakobsbrüderschaften waren überall anzutreffen. Hospitale, Herbergen und Klöster boten Unterkunft, den Weg säumten kleinere Heiligtümer. +
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-Die religiöse Einsicht, daß im Leben alles vorübergeht, es keinen bleibenden Wert gibt, will der wandernde Pilger in der Fußreise erfahren. Er geht an allem vorbei, mißt den Dingen keinen Wert zu, ist besitzlos, heimatlos, bindungslos. Aus dem lateinischen //peregrinus// für den Fremden von außerhalb Roms wurde das deutsche Wort Pilger. Verloren in der Fremde, muß er sich selbst genug sein. Äußerer Weg und Ziel bleiben symbolisch – die unerfüllbare [[wiki:sehnsucht|Sehnsucht]] nach einem inneren Ziel erfordert ewiges Pilgern, der //homo viator// ist auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, schöpft Stärke aus Hoffnung. Langsam nur, Schritt für Schritt auf einer langen Fußreise, ist das erfahrbar. Andere Pilgerarten gelten als weniger verdienstvoll, der Erfolg ist unsicher, Gottes Lohn geringer. ''Norbert von Xanten'' (1085-1134), Pilger und Wanderprediger, forderte »auf der Erde zu leben und nichts von der Erde zu wollen«. Er war zeitlebens unterwegs, fühlte sich in die Fremde getrieben und akzeptierte sein Leben als Schicksal. +
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-Bereits das Alte Testament erwähnt den Pilger (Ps. 39,13), in Judentum, Buddhismus, Christentum und Islam wird gepilgert. //„Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.“// (Mat. 8,20) Heimatloses Sein und zeitlose Wanderschaft als Prinzip des Menschseins stellte Jesus der Seßhaftigkeit gegenüber – Ideale des Nomadentums? Die Umstände des fußreisenden Pilgers erforderten Bescheidenheit: ein breitkrempiger Hut schützte gegen Sonne, Regen und Kälte, ein weiter Umhang diente nachts als Decke, das Leibgewand gegürtet, eine Umhängetasche enthielt: Messer, Lederbecher, Feuerstein und Schwamm, ein Netz für Fisch- und Vogelfang, Empfehlungsschreiben, etwas Geld. Ein ausgehöhlter Kürbis oder ein Lederschlauch fassten den Wasservorrat, Brot, Käse, Nüsse verhüteten den ärgsten Hunger. +
-Die Pilgerreise als Kniefall der Seßhaften vor dem ursprünglichen Leben, dem noch kaum entfremdeten, natürlichen Dasein? Spiritualität, Suche nach Erfüllung und Gottesnähe, Askese und Armut - immer wieder finden sich diese Aspekte in Berichten der Pilger und Wandermönche: Fremdling sein und Gast auf Erden. Tugenden, die seit je mit dem Nomadentum verbunden sind. Die seßhafte Jahreszeit der Nomaden war erzwungen durch saisonalen Mangel an Wasser, Futter, Reisemöglichkeiten. Aus der Not wurde Tugend, aus Hunger eine Fastenzeit, die festlich abschloß. Fasten und feiern wurde auch an den heiligen Stätten, in Mekka und Jerusalem, von den Pilgern gefordert. Eines war wie das andere Pflicht. +
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-Wer wandert, lernt das Nötige schätzen und ist bereit, Überflüssiges loszulassen. +
-  „Die Wüstenvölker sind dem Gutsein näher als seßhafte Völker,  +
-  weil sie dem Urzustand näher sind und ferner von den üblen Gewohnheiten,  +
-  die die Herzen der Seßhaften verdorben haben.“ +
-  ''Ibn Chaldun'', 1332-1406, zit. n. Chatwin +
-Die Pilgerfahrt als Reinigung, Katharsis, das heißt, das Land von Ungeheuern befreien. Wer ins Unbekannte aufbricht, befreit den bereisten Raum von der [[wiki:angst|Angst]] vor dem Unbekannten, von imaginären Ungeheuern, selbstgeschaffenen. Wer das Land von Ungeheuern befreit, befreit auch sich, schafft keine Ungeheuer mehr, verliert die Ängste. Darin findet sich ein immer wiederkehrender Topos des Reisens: Lösen der Bindungen, Aufbruch ins Unbekannte, Konfrontation mit Angst, Sieg über die Angst, Rückkehr, Weitergabe des [[wiki:wissen|Wissens]]. Der Topos des [[wiki:abenteuer|Abenteuers]] enthält Elemente des Pilgertums, ersetzt jedoch die Demut durch das Ego. +
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-Am //Adam’s Peak// auf Ceylon wird den Pilgern ein heiliger Fußabdruck gezeigt, für die Christen ist es der Fuß Adams, für andere der Fuß Buddhas oder Shiwas. Verdienste für das Jenseits erwirbt, wer auf den Spuren der Religionsstifter wandelt, nach Mekka, Medina, Gom, Jerusalem, zum Kailash. Die Fußreise wurde religiös verbrämt zum Mittel schwärmerischer Bewegungen und zeitweise als »Laufsucht« abgetan, als »currendi libido«. Noch heute messen tibetische Pilger den zurückgelegten Weg mit ihrem Körper ab. Sie fallen auf die Knie, strecken sich lang am Boden aus und gehen nach dem Aufstehen soweit, wie der Körper zuvor den Boden bedeckte, um dann erneut eine Körperlänge abzumessen. Mit dem Körper die Strecke, mit der Tagesreise die Dauer großer Reisen messend — darin offenbart sich Demut, der Pilger respektiert die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Er versucht nicht, äußere Grenzen zu überschreiten, sie durch Technik und Training zu überlisten. Das bleibt seinem Zeitgenossen, dem Boten, vorbehalten, und seinem Nachfolger, dem Bergsteiger. So opfert der Pilger sein kostbarstes Gut, einen Teil seiner Lebenszeit. +
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-In jener Hochzeit des Glaubens verlangte die Kirche mit ihrem //»Vita mutandur, non tollitur«,// (Das Leben ändert sich, aber es endet nicht) nach der Kunst, gut zu sterben. Der [[wiki:grenze_zwischen_leben_und_tod|Tod]] selbst schreckte nicht und Pilgerreisen waren oft Reisen von Alten und Kranken, um an einem besonderen Ort zu sterben und auf dem beschwerlichen Weg dorthin einen letzten Verdienst für das Jenseits zu erwandern. Mit der Pest kam der Schrecken vor dem Ende, einem qualvollen Tod durch tagelanges Ersticken, und vor einer schwärzlich verfärbten Leiche mit aufgeplatzten Pestbeulen. Bei der Epidemie von 1347 starb ein Drittel der 36 Millionen West- und Mitteleuropäer. Keine Familie blieb verschont, Orte wurden entvölkert, Gebiete verödeten, betroffen waren Reich und Arm, der Tod wirkte als großer Gleichmacher. Wer überlebte suchte Trost im Leben. Die Anziehungskraft des Glaubens verblaßte, die Moderne erschien am Horizont. +
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-1510 pilgerte ''Luther'' die 1300 km nach Rom in sechs Wochen, doch Pilgern ist nicht mehr »in«. 1786 begegnete ''Goethe'' bei Padua zwei Pilgern »hier ganz eigentlich am Platze«, doch schienen sie ihm befremdend, waren es doch die ersten, die er in der Nähe sah. Im Gespräch beklagten sie, allerorts wie Landstreicher behandelt zu werden. Das Pilgerwesen geriet aus der Zeit. Kostenlose Pilgereinrichtungen wurden von [[wiki:fahrendes_volk|Fahrenden]], Vaganten und Vagabunden genutzt, richtigen Pilgern wurde mißtraut. Italien, das Arkadien der Romantik, wurde dem Bürgertum zum Ziel weltlicher Pilgerreisen. Nicht mehr der Glaube an eine jenseitige Welt, sondern das diesseitige Schöne verführten zum Reisen. Andächtig betrachtet wurden Kunst, Architektur, Statuen; ein ganz bestimmtes Rombild wurde gesucht, dem die »Heilige Stadt« nur Rahmen war. +
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-==== Fahrendes Volk ==== +
-In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? Keine Zeit! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im 19. Jahrhundert blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch'').  +
-Paradoxerweise wurde die Epoche zum Zeitalter der Entdecker und Erforscher hochgejubelt. Doch längst war die Welt zu Fuß entdeckt, viel gründlicher als „Eroberer“ das vermochten. Es ging vielmehr darum, das Wissen über die Wege rund um den Globus zu nutzen – nicht die Welt wurde entdeckt, sondern Kunden, nicht Länder wurden erobert, sondern Märkte. Nach der Seßhaftwerdung war dies die zweite Hinwendung zum Materialismus.+
  
 Gastfreundschaft und Herberge verlangen Gegenseitigkeit. Der Gast muß sich ausweisen, und sei es durch das bloße Wort: Wie heißt er? Woher kommt er? Was ist sein Ziel, der Zweck der Reise? Dafür erhält er Gastrecht: Essen, Trinken, Obdach, Auskunft über den Weg. Mißbrauch gibt es auf beiden Seiten, doch ist er nicht die Regel. Eine Steigerung erfuhr das Gastrecht innerhalb informeller Gruppen: Juden boten Glaubensbrüdern Unterkunft, Meister den wandernden Gesellen, Klöster standen allen offen, Spitäler und Hospitale den Pilgern. Gastfreundschaft und Herberge verlangen Gegenseitigkeit. Der Gast muß sich ausweisen, und sei es durch das bloße Wort: Wie heißt er? Woher kommt er? Was ist sein Ziel, der Zweck der Reise? Dafür erhält er Gastrecht: Essen, Trinken, Obdach, Auskunft über den Weg. Mißbrauch gibt es auf beiden Seiten, doch ist er nicht die Regel. Eine Steigerung erfuhr das Gastrecht innerhalb informeller Gruppen: Juden boten Glaubensbrüdern Unterkunft, Meister den wandernden Gesellen, Klöster standen allen offen, Spitäler und Hospitale den Pilgern.
 Die Hauptmahlzeit war üblicherweise abends (wenn es denn etwas gab) - das französische Diner bedeutete ursprünglich „entfasten“: zum Abend das erste Essen des Tages einnehmen. Diese Tageseinteilung findet man noch heute bei Nomaden in arabischen und afrikanischen Ländern. Selbst Brot war nicht immer selbstverständlich, schließlich setzt es einen Backofen und Brennmaterial voraus. Üblich war roher oder gekochter Getreidebrei. Das Wort „Kumpan“ entstand aus „conpagn“: Der Begleiter, mit dem ich mein Brot teile.\\  Die Hauptmahlzeit war üblicherweise abends (wenn es denn etwas gab) - das französische Diner bedeutete ursprünglich „entfasten“: zum Abend das erste Essen des Tages einnehmen. Diese Tageseinteilung findet man noch heute bei Nomaden in arabischen und afrikanischen Ländern. Selbst Brot war nicht immer selbstverständlich, schließlich setzt es einen Backofen und Brennmaterial voraus. Üblich war roher oder gekochter Getreidebrei. Das Wort „Kumpan“ entstand aus „conpagn“: Der Begleiter, mit dem ich mein Brot teile.\\ 
-Ein Fußwanderer geht kaum langsamer als drei, kaum schneller als sieben Stundenkilometer. Eine Tagesstrecke von 25 Kilometern ist unter normalen Umständen problemlos, bei guten Wetter- und Straßenverhältnissen, bei entsprechender Kondition sind auch 70 Tageskilometer zu schaffen. Schlamm, Regen, Schnee, Eis verzögern das Tempo ebenso wie Flußüberquerungen, Täler, Berge, Unterholz, Sandboden. Orientierungspausen und Umwege kosten viel Zeit, Unterkunft, Essen, Trinken müssen organisiert, Schuhe geflickt werden. Erholungstage sind nötig, Krankheiten fesseln ans Bett, Zöllner machen Schwierigkeiten .... Der Probleme gibt es reichlich. Eine Strecke von 1500 Kilometern bedurfte etwa zweier Monate für einen Fußreisenden.\\  +Ein Fußwanderer geht kaum langsamer als drei, kaum schneller als sieben Stundenkilometer. Eine Tagesstrecke von 25 Kilometern ist unter normalen Umständen problemlos, bei guten Wetter- und Straßenverhältnissen, bei entsprechender Kondition sind auch 70 Tageskilometer zu schaffen. Schlamm, Regen, Schnee, Eis verzögern das Tempo ebenso wie Flußüberquerungen, Täler, Berge, Unterholz, Sandboden. Orientierungspausen und Umwege kosten viel Zeit, Unterkunft, [[wiki:proviant|Proviant]], Trinken müssen organisiert, Schuhe geflickt werden. Erholungstage sind nötig, Krankheiten fesseln ans Bett, Zöllner machen Schwierigkeiten .... Der Probleme gibt es reichlich. Eine Strecke von 1500 Kilometern bedurfte etwa zweier Monate für einen Fußreisenden.\\  
-Jahrzehntausende lang gab es keine Alternativen. Ein erstes Verkehrsmittel war das Tragetuch für die Kinder, das zweite die nachgezogene Astgabel, beladen mit Lasten, Alten, Schwachen. Daraus mag die getragene Sänfte entstanden sein. Das Tragen von „Häuptlingen“ verlangt Hierarchien, die es unter Nomaden kaum in solchem Maße gab. Wo immer möglich, folgten frühe Routen den Flüssen. Wenn Sümpfe, Überschwemmungsgebiete und Auen das Verlassen des Flußlaufs erforderten, könnten treibende Baumstämme, Flöße und Einbäume (Dug-outs) flußabwärts das Reisen erleichtert haben, waren aber mit hohem [[wiki:risiko|Risiko]] verbunden: Wo kam die nächste Stromschnelle? Wer konnte schwimmen im Fall des Kenterns? Zur Flußüberquerung waren sie sicher ein geeignetes Mittel. Auch der Beruf des Fährmanns dürfte zu den ersten Berufen gezählt haben, wurde vielleicht noch vor den Zeiten der Seßhaftwerdung auf den Routen der Nomaden von Ausgestoßenen ausgeübt und erlangte mythologische Bedeutung ([[wiki:christophorus|Christophorus]]). Das Reisen mit dem Esel gibt es seit dem dritten Jahrtausend vor Christus, das Kamel wurde erst tausend Jahre später genutzt, zu Pferd ritt man seit etwa 1000 v. Chr. – weil es Vorteile im Kampf bot. Der Mythos des Kentauren entstand. Erste Streit- und Reisewagen tauchten in der Antike auf, erforderten aber geeignete Straßen und eine gute Infrastruktur, die im Mittelalter zusehends verfiel. Erst im 11. Jahrhundert n. Chr. dienten Wagen wieder dem Reisen und dann zunächst für Verbrecher, für Kranke, Frauen, Alte.\\ +Jahrzehntausende lang gab es keine Alternativen. Ein erstes Verkehrsmittel war das Tragetuch für die Kinder, das zweite die nachgezogene Astgabel, beladen mit Lasten, Alten, Schwachen. Daraus mag die getragene Sänfte entstanden sein. Das Tragen von „Häuptlingen“ verlangt Hierarchien, die es unter Nomaden kaum in solchem Maße gab. Wo immer möglich, folgten frühe Routen den Flüssen. Wenn Sümpfe, Überschwemmungsgebiete und Auen das Verlassen des Flußlaufs erforderten, könnten treibende Baumstämme, Flöße und Einbäume (Dug-outs) flußabwärts das Reisen erleichtert haben, waren aber mit hohem [[wiki:risiko|Risiko]] verbunden: Wo kam die nächste Stromschnelle? Wer konnte schwimmen im Fall des Kenterns? Zur Flußüberquerung waren sie sicher ein geeignetes Mittel. Auch der Beruf des Fährmanns dürfte zu den ersten Berufen gezählt haben, wurde vielleicht noch vor den Zeiten der Seßhaftwerdung auf den Routen der Nomaden von Ausgestoßenen ausgeübt und erlangte mythologische Bedeutung ([[wiki:christophorus|Christophorus]]). Das Reisen mit dem Esel gibt es seit dem dritten Jahrtausend vor Christus, das Kamel wurde erst tausend Jahre später genutzt, zu Pferd ritt man seit etwa 1000 v. Chr. – weil es Vorteile im Kampf bot. Der Mythos des Kentauren entstand. Erste Streit- und Reisewagen tauchten in der Antike auf, erforderten aber geeignete Straßen und eine gute Infrastruktur, die im [[wiki:reisegenerationen#Der Blick zurück: Das Mittelalter als Epoche| Mittelalter]] zusehends verfiel. Erst im [[wiki:reisegenerationen#Seit dem 11. Jahrhundert|11. Jahrhundert]] n. Chr. dienten Wagen wieder dem Reisen und dann zunächst für Verbrecher, für Kranke, [[wiki:frauen_unterwegs|Frauen]], Alte.\\ 
    
 ==== Auf der Walz ==== ==== Auf der Walz ====
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   ''Franz Heinrichs'' 1896   ''Franz Heinrichs'' 1896
  
-Die Zünfte des ausgehenden Mittelalter modernisierten das wirtschaftliche Leben in den wachsenden Städten und schufen neuen sozialen Halt. Zunft kommt von ziemen – Sicherheit und Geborgenheit waren mit Disziplin und Gehorsam gegenüber den strengen Zunftregeln zu bezahlen. Die Zunft bot Ehrbarkeit, Außenstehende blieben ohne Ehre, unehrlich: Fahrende, Schausteller, Bader, Scharfrichter, Abdecker …\\  +Die Zünfte des ausgehenden [[wiki:reisegenerationen#Der Blick zurück: Das Mittelalter als Epoche| Mittelalters]] modernisierten das wirtschaftliche Leben in den wachsenden Städten und schufen neuen sozialen Halt. Zunft kommt von ziemen – Sicherheit und Geborgenheit waren mit Disziplin und Gehorsam gegenüber den strengen Zunftregeln zu bezahlen. Die Zunft bot Ehrbarkeit, Außenstehende blieben ohne [[wiki:ehre|Ehre]], unehrlich: Fahrende, Schausteller, Bader, Scharfrichter, Abdecker …\\  
-Der Zwang, zwischen Ausbildung und Meisterprüfung zu wandern, bewegte nicht nur den Arbeitsmarkt, transportierte nicht nur [[wiki:wissen|Wissen]] und [[wiki:technisches_wissen|Know-How]]. Die Walz prüfte auch das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Sie war die letzte Möglichkeit, die Welt kennenzulernen, dem Wandertrieb und dem Fernweh nachzugeben, zu entscheiden zwischen Seßhaftigkeit und Nomadentum, Zugehörigkeit und Ausgestoßensein. Wer sich danach niederließ, wußte, was er wollte. In den drei bis sechs Jahren der Walz durften sie nicht länger als etwa drei Monate an einem Ort verweilen. Walz bedeutete auch »wälzen, rollen, sich bewegen«.\\ +Der Zwang, zwischen Ausbildung und Meisterprüfung zu wandern, bewegte nicht nur den Arbeitsmarkt, transportierte nicht nur [[wiki:wissen|Wissen]] und [[wiki:technisches_wissen|Know-How]]. Die Walz prüfte auch das Verhältnis des [[wiki:einzelne|Einzelnen]] zur Gemeinschaft. Sie war die letzte Möglichkeit, die Welt kennenzulernen, dem Wandertrieb und dem Fernweh nachzugeben, zu entscheiden zwischen Seßhaftigkeit und Nomadentum, Zugehörigkeit und Ausgestoßensein. Wer sich danach niederließ, wußte, was er wollte. In den drei bis sechs Jahren der Walz durften sie nicht länger als etwa drei Monate an einem Ort verweilen. Walz bedeutete auch »wälzen, rollen, sich bewegen«.\\ 
  
 ''August Winnig'', Schriftsteller und Maurer auf Wanderschaft sieht das so: ''August Winnig'', Schriftsteller und Maurer auf Wanderschaft sieht das so:
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   Es war der Sinn der Fremde, daß man sie annahm und verstand.«   Es war der Sinn der Fremde, daß man sie annahm und verstand.«
  
-Die Walzgesellen erkannten einander in der Schar der Reisenden: Im »Berliner«, einem Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Tragegurten, oder dem Felleisen (lateinisch-italienisch valisa), einer Gepäckrolle aus Leder, steckten die wenigen Habseligkeiten. Ihre Kleidung konnte die Zunftzugehörigkeit ausdrücken, Werkzeug wurde oft sichtbar getragen, und wie die Meister trugen sie im Mittelalter eine Wehr. Fachliches Wissen, Spracheigentümlichkeiten und festgelegte Riten mit bestimmten Fragen und Antworten waren die Eintrittskarte zu Gesellenhäusern und Gesellenverbänden überall im deutschen Sprachraum. Schilder mit Gewerksymbolen zeigten die Herbergen für Maurer, Zimmerer, Schneider, Sattler an. Wer eintrat, mußte die Regeln kennen: »Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.« Der Wirt in seiner blauen Schürze begrüßt August Winnig: //»Mit Gunst und Erlaubnis!«//+Die Walzgesellen erkannten einander in der Schar der Reisenden: Im »Berliner«, einem Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Tragegurten, oder dem Felleisen (lateinisch-italienisch valisa), einer Gepäckrolle aus Leder, steckten die wenigen Habseligkeiten. Ihre [[wiki:reisekleidung|Kleidung]] konnte die Zunftzugehörigkeit ausdrücken, Werkzeug wurde oft sichtbar getragen, und wie die Meister trugen sie im [[wiki:reisegenerationen#Der Blick zurück: Das Mittelalter als Epoche| Mittelalter]] eine Wehr. Fachliches Wissen, Spracheigentümlichkeiten und festgelegte Riten mit bestimmten Fragen und Antworten waren die Eintrittskarte zu Gesellenhäusern und Gesellenverbänden überall im deutschen Sprachraum. Schilder mit Gewerksymbolen zeigten die Herbergen für Maurer, Zimmerer, Schneider, Sattler an. Wer eintrat, mußte die Regeln kennen: »Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.« Der Wirt in seiner blauen Schürze begrüßt August Winnig: //»Mit Gunst und Erlaubnis!«//
  
 Die machtvolle Zeit der Zünfte war spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg vorbei — Armut und Hunger trieben eher mehr Gesellen zur Walz, erst nach der Biedermeierzeit sah man sie seltener. 1839 öffnete der türkische ''Sultan Mahmehd II.'' die Grenzen für westliche Besucher; seither reisten die Gesellen vermehrt in den Nahen Osten. Der Wunsch, zu pilgern, und der Glaube, durch Gott beschützt zu wandern, verbanden sich mit der Idee der Walz. In Jerusalem ließ das preußische Konsulat eine eigene Gesellenherberge errichten, etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf. Die machtvolle Zeit der Zünfte war spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg vorbei — Armut und Hunger trieben eher mehr Gesellen zur Walz, erst nach der Biedermeierzeit sah man sie seltener. 1839 öffnete der türkische ''Sultan Mahmehd II.'' die Grenzen für westliche Besucher; seither reisten die Gesellen vermehrt in den Nahen Osten. Der Wunsch, zu pilgern, und der Glaube, durch Gott beschützt zu wandern, verbanden sich mit der Idee der Walz. In Jerusalem ließ das preußische Konsulat eine eigene Gesellenherberge errichten, etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf.
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   den biedern und guten Handwerksburschen die Lust am Wandern zu nehmen.«   den biedern und guten Handwerksburschen die Lust am Wandern zu nehmen.«
  
-Vereinzelt wandern noch heute Handwerksgesellen mit Ehrbarkeit (Halsbinde), Staude (Hemd), Schlapphut, Stenz (Stock) und schwarzen Kordhosen. Man bestaunt diese Exoten in einer technisierten, profitorientierten Welt Sie tragen immer noch den Berliner mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und scheniegeln (arbeiten) bei Krautern (zunftlose Handwerker). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. In einer europäischen Gesellenzunft, der »Confédération Compagnonnages«, haben sie sich organisiert.+Vereinzelt wandern noch heute Handwerksgesellen mit Ehrbarkeit (Halsbinde), Staude (Hemd), Schlapphut, Stenz ([[wiki:stab|Stab]]) und schwarzen Kordhosen. Man bestaunt diese Exoten in einer technisierten, profitorientierten Welt Sie tragen immer noch den Berliner mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und scheniegeln (arbeiten) bei Krautern (zunftlose Handwerker). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. In einer europäischen Gesellenzunft, der »Confédération Compagnonnages«, haben sie sich organisiert.
  
 ==== Straße als Ghetto ==== ==== Straße als Ghetto ====
-Die Straßen glichen zeitweise einem Jahrmarkt oder einem Tollhaus. Die Scharen der Wandernden machten jahrhundertelang etwa 10% der Bevölkerung aus, in Zeiten des Krieges, der Krankheiten, der Hungersnöte sollen bis zu 30% der Bevölkerung auf den Straßen unterwegs gewesen sein. Berufsmäßig Reisende (fahrende Schüler und Studenten, Schausteller, Akrobaten, Spielleute, Hausierer, Wanderarbeiter, Scherenschleifer, Kesselflicker ...) hatten einen zweifelhaften Ruf. Sogenannte „unehrliche“ Berufe wurden umherziehend ausgeübt (Scharfrichter, Henker, Polizei- und Gerichtsdiener, Schinder, Abdecker, Bettelvogt ...). Ausgestoßene mußten reisen, man verwehrte ihnen den festen Wohnsitz (Bettler, Vagabunden, Gauner, Landstreicher, Huren, Diebe, Trickbetrüger, Leirer, Sackpfeifer, Riemenstecher, Glückshafener, Deserteure ...). Weitere Gruppen galten von Geburt an als außenstehend (Juden, Zigeuner, Türken, Heiden, Wenden). Auch für Kranke (Kriegsversehrte, Krüppel, Lepröse, Misselsüchtige ...) blieb oft nur der Weg auf die Straße. 
  
-Städte und Dörfer versuchten sich vor den Wandernden zu schützen: Bestenfalls gab es Handlungspatente für Hausierer, Bettelerlaubnisse und aufsichtführende Bettelvögte, Arbeitsanstalten und Zwangsarbeit, Leprosien für Kranke. Unerwünschte wurden abgeschoben, in Schubkarren zum nächsten Ort gefahren, wenn sie nicht laufen konnten. Wer zurückkam, riskierte Pranger, Verstümmelung, Brandmarken. Kleine Vergehen wurden mit unverhältnismäßig hohen Haftstrafen gesühnt, oft die Todesstrafe verhängt.//„Auswärtige Bettler, Landstreicher und anderes liederliches Gesindel sollen diese Lande bei Strafe des Karrenschiebens oder anderer Strafe meiden.“// verkündete das Herzogtum Braunschweig an seinen Grenzen.+Die Straßen glichen zeitweise einem Jahrmarkt oder einem Tollhaus. Die Scharen der Wandernden machten jahrhundertelang etwa 10% der Bevölkerung aus, in Zeiten des Krieges, der Krankheiten, der Hungersnöte sollen bis zu 30% der Bevölkerung auf den Straßen unterwegs gewesen sein. Berufsmäßig Reisende (fahrende Schüler und Studenten, Schausteller, Akrobaten, Spielleute, Hausierer, [[wiki:wanderarbeiter|Wanderarbeiter]], Scherenschleifer, Kesselflicker ...) hatten einen zweifelhaften Ruf. Sogenannte „unehrliche“ Berufe wurden umherziehend ausgeübt (Scharfrichter, Henker, Polizei- und Gerichtsdiener, Schinder, Abdecker, Bettelvogt ...). Ausgestoßene mußten reisen, man verwehrte ihnen den festen [[wiki:wohnsitz|Wohnsitz]] (Bettler, Vagabunden, Gauner, Landstreicher, Huren, Diebe, Trickbetrüger, Leirer, Sackpfeifer, Riemenstecher, Glückshafener, Deserteure ...). Weitere Gruppen galten von Geburt an als außenstehend (Juden, Zigeuner, Türken, Heiden, Wenden). Auch für Kranke (Kriegsversehrte, Krüppel, Lepröse, Misselsüchtige ...) blieb oft nur der Weg auf die Straße. 
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 +Städte und Dörfer versuchten sich vor den Wandernden zu schützen: Bestenfalls gab es Handlungspatente für Hausierer, Bettelerlaubnisse und aufsichtführende Bettelvögte, Arbeitsanstalten und Zwangsarbeit, Leprosien für Kranke. Unerwünschte wurden abgeschoben, in Schub[[wiki:karre|karren]] zum nächsten Ort gefahren, wenn sie nicht laufen konnten. Wer zurückkam, riskierte Pranger, Verstümmelung, Brandmarken. Kleine Vergehen wurden mit unverhältnismäßig hohen Haftstrafen gesühnt, oft die Todesstrafe verhängt.//„Auswärtige Bettler, Landstreicher und anderes liederliches Gesindel sollen diese Lande bei Strafe des Karrenschiebens oder anderer Strafe meiden.“// verkündete das Herzogtum Braunschweig an seinen Grenzen.
  
 Wer einmal auf der Straße war, blieb dort. Man lehrte einander das Überleben und grenzte sich ab: Zinken informierten über Seßhafte, über örtliche Chancen und [[wiki:gefahr|Gefahren]], das [[wiki:rotwelsch|Rotwelsche]] war dem braven Bürger unverständlich. Betteln wurde als Kunst betrieben, Rollen exakt gespielt. Hausierer verkauften Fliegenwedel, Nähzeug, Nägel, Stoffe, Holzlöffel, Körbe; polnische und rumänische Bärenführer, Musikanten, Artisten, Puppenspieler führten ihre Kunststücke vor, Quacksalber, Wunderdoktoren, Steinschneider und Urinbeschauer gaben vor zu heilen. Doch das [[wiki:fahrendes_volk|Fahrende Volk]] war nicht einfach nur Opfer. Mit der Hierarchie der Seßhaften, der Größe der Städte wuchs der Reiz der Straße als Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung, nomadenhafter Trieb wurde ins Asoziale ausgegrenzt. Wer das Reisen als Lebensform suchte, mußte sich im Fahrenden Volk eine Nische suchen. Tiefer hinab ging es nimmer. Wer einmal auf der Straße war, blieb dort. Man lehrte einander das Überleben und grenzte sich ab: Zinken informierten über Seßhafte, über örtliche Chancen und [[wiki:gefahr|Gefahren]], das [[wiki:rotwelsch|Rotwelsche]] war dem braven Bürger unverständlich. Betteln wurde als Kunst betrieben, Rollen exakt gespielt. Hausierer verkauften Fliegenwedel, Nähzeug, Nägel, Stoffe, Holzlöffel, Körbe; polnische und rumänische Bärenführer, Musikanten, Artisten, Puppenspieler führten ihre Kunststücke vor, Quacksalber, Wunderdoktoren, Steinschneider und Urinbeschauer gaben vor zu heilen. Doch das [[wiki:fahrendes_volk|Fahrende Volk]] war nicht einfach nur Opfer. Mit der Hierarchie der Seßhaften, der Größe der Städte wuchs der Reiz der Straße als Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung, nomadenhafter Trieb wurde ins Asoziale ausgegrenzt. Wer das Reisen als Lebensform suchte, mußte sich im Fahrenden Volk eine Nische suchen. Tiefer hinab ging es nimmer.
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 ===== Wandern - Die kultivierte Fußreise ===== ===== Wandern - Die kultivierte Fußreise =====
-//»Wer hat euch Wandervögeln\\ Die Wissenschaft geschenkt\\ Daß ihr auf Land und Meeren\\ Nie falsch den Flügel lenkt\\ Daß ihr die alte Palme\\ Im Süden wieder wählt\\ Daß ihr die alten Linden\\ Im Norden nicht verfehlt.«// \\  +  »Wer hat euch Wandervögeln 
-Diese Grabinschrift auf dem Friedhof Berlin-Dahlem soll den wanderbegeisterten Jugendlichen in den 1890er Jahren den Namen **»Wandervögel«** eingebracht haben. Damals wurde das Wandern zur Mode, ein langer wirtschaftlicher Aufschwung brachte die nötige Leichtigkeit. Der Hamburger Bildhauer Alfred Pfarre sinniert 1912, nach vierwöchiger Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald: //»Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, nun kommt deine Reise als Handwerksbursche, vielleicht bald als Landstreicher. ... Beginne nun endlich deine Fahrt und wage mutig den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.«//\\  +  Die Wissenschaft geschenkt 
-Die Polizei beobachtet und kontrolliert die **Handwerksburschen**, das weiß Mathias Ludwig Schroeder genau:// »Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt, denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.«// Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //»Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht«// helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden, denn äußerlich gleichen sie sich. Sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, doch selten Arbeit und lassen sich das Betteln nicht verbieten. Noch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien: //»Der Speckjäger ist ein Ausbeuter der Verkommenen; ein Organisator der Bettler und Simulanten; der Wucherer des Asyls ...«//  +  Daß ihr auf Land und Meeren 
-Der König der Vagabunden, ''Gregor Gog'', nennt in Trappmanns Buch »Landstraße, Kunden, Vagabunden« den Landstreicher //»einen Menschen, der sinnlos umherzieht, für den das Herumtreiben eine besondere Art Trunksucht ist, was manche Forscher sogar veranlaßt, von einem Atavismus der Instinkte aus der Nomadenzeit der Menschheit zu sprechen. +  Nie falsch den Flügel lenkt 
-  …Und es ist so leicht, auf die Landstraße zu gehen. +  Daß ihr die alte Palme 
 +  Im Süden wieder wählt 
 +  Daß ihr die alten Linden 
 +  Im Norden nicht verfehlt.«  
 +Diese Grabinschrift auf dem Friedhof Berlin-Dahlem soll den wanderbegeisterten Jugendlichen in den 1890er Jahren den Namen **»Wandervögel«** eingebracht haben. Damals wurde das Wandern zur Mode, ein langer wirtschaftlicher Aufschwung brachte die nötige Leichtigkeit. Der Hamburger Bildhauer ''Alfred Pfarre'' sinniert 1912, nach vierwöchiger Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald: 
 +  »Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel,  
 +  nun kommt deine Reise als Handwerksbursche,  
 +  vielleicht bald als Landstreicher. ...  
 +  Beginne nun endlich deine Fahrt und wage mutig  
 +  den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.« 
 +Die Polizei beobachtet und kontrolliert die **Handwerksburschen**, das weiß ''Mathias Ludwig Schroeder'' genau:// »Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt, denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.«// Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //»Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht«// helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden, denn äußerlich gleichen sie sich. Sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, doch selten Arbeit und lassen sich das Betteln nicht verbieten. Noch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien: //»Der Speckjäger ist ein Ausbeuter der Verkommenen; ein Organisator der Bettler und Simulanten; der Wucherer des Asyls ...«//  
 +Der König der Vagabunden, ''Gregor Gog'', nennt in Trappmanns Buch »Landstraße, [[wiki:kundige|Kunden]], Vagabunden« den Landstreicher  
 +  »einen Menschen, der sinnlos umherzieht, für den das Herumtreiben  
 +  eine besondere Art Trunksucht ist, was manche Forscher sogar veranlaßt,  
 +  von einem Atavismus der Instinkte aus der Nomadenzeit der Menschheit zu sprechen. 
 +  … Und es ist so leicht, auf die Landstraße zu gehen. 
   Man tritt aus seiner Wohnung und wandert.    Man tritt aus seiner Wohnung und wandert. 
   Aber wie kommt man von der Landstraße wieder ab?    Aber wie kommt man von der Landstraße wieder ab? 
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   aufgesetzt, von der Landstraße, von dem Elend, das sie umgibt.«   aufgesetzt, von der Landstraße, von dem Elend, das sie umgibt.«
  
-1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später sind es 450.000, ein Hinweis auf die wachsende Unsicherheit, meint Trappmann: //»Die Auflösung der auf materielle Sicherheit gegründeten bürgerlichen Ordnung und die Lockerung aller bisher gültigen moralischen Begriffe ließen ... ein Lebensgefühl entstehen, das den Unbehausten, den Grenzgängern, Abenteurern und Vagabunden, auch bei den Intellektuellen, eine kaum mehr vorstellbare Popularität verschaffte. Jack London und B. Traven erzielten Massenauflagen. Der **Tramp** ''Charlie Chaplin'', melancholischer Verlierer und Angreifer zugleich, wurde zum enthusiastisch gefeierten Volkshelden. Wanderstab und Bettelsack waren die romantische Verkleidung des erschütterten bürgerlichen Lebensgefühls, aber auch Symbol für Hoffnung und Widerstand.«//\\  +1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später sind es 450.000, ein Hinweis auf die wachsende Unsicherheit, meint ''Trappmann'': 
-''Karl Raichle'', ''Theodor Plievier'', ''Gregor Gog'' trafen sich nach dem Ersten Weltkrieg in Urach am Rande der schwäbischen Alb:// »das schon vor dem Krieg ein Treffpunkt für Wanderprediger und Tippelbrüder, Lebensreformer und Naturapostel war und sich nach 1918 zum süddeutschen Zentrum der lebensreformerischen Bestrebungen entwickelte,«// sagt Trappmann. Die drei bildeten den Matrosenkreis: //»im Ahasver, im ewigen Juden erkannte man sich wieder. **Gottsucher** waren sie, namenlose Männer des dämmernden Morgens, wie Plievier 1919 in einer Selbstanzeige des neugegründeten Verlages der Zwölf schrieb.«+  »Die Auflösung der auf materielle Sicherheit gegründeten bürgerlichen Ordnung  
 +  und die Lockerung aller bisher gültigen moralischen Begriffe ließen ...  
 +  ein Lebensgefühl entstehen, das den Unbehausten, den Grenzgängern, Abenteurern  
 +  und Vagabunden, auch bei den Intellektuellen, eine kaum mehr  
 +  vorstellbare Popularität verschaffte. Jack London und B. Traven erzielten Massenauflagen.  
 +  Der Tramp Charlie Chaplin, melancholischer Verlierer und Angreifer zugleich,  
 +  wurde zum enthusiastisch gefeierten Volkshelden. Wanderstab und Bettelsack  
 +  waren die romantische Verkleidung des erschütterten bürgerlichen Lebensgefühls,  
 +  aber auch Symbol für Hoffnung und Widerstand.«  
 +''Karl Raichle'', ''Theodor Plievier'', ''Gregor Gog'' trafen sich nach dem Ersten Weltkrieg in Urach am Rande der schwäbischen Alb:// »das schon vor dem Krieg ein Treffpunkt für Wanderprediger und Tippelbrüder, Lebensreformer und Naturapostel war und sich nach 1918 zum süddeutschen Zentrum der lebensreformerischen Bestrebungen entwickelte,«// sagt Trappmann. Die drei bildeten den Matrosenkreis: //»im Ahasver, im ewigen Juden erkannte man sich wieder. **Gottsucher** waren sie, namenlose Männer des dämmernden Morgens, wie ''Plievier'' 1919 in einer Selbstanzeige des neugegründeten Verlages der Zwölf schrieb.«//
  
 +==== Eine Zeitschrift für Kunden und Vagabunden ====
 ''Gustav Brügel'', Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der Vagabunden, den »Kunden«, heraus; Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer und gründete die »Bruderschaft der Vagabunden«. Pfarrer, Dichter, Anarchisten, Maler, Träumer und Wanderprediger, Jugendbewegte und Asoziale gingen auf die Landstraße, im Kontakte mit den Berliner »Anarcho-Syndikalisten« und der »Gilde freiheitlicher Bücherfreunde«. ''Gustav Brügel'', Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der Vagabunden, den »Kunden«, heraus; Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer und gründete die »Bruderschaft der Vagabunden«. Pfarrer, Dichter, Anarchisten, Maler, Träumer und Wanderprediger, Jugendbewegte und Asoziale gingen auf die Landstraße, im Kontakte mit den Berliner »Anarcho-Syndikalisten« und der »Gilde freiheitlicher Bücherfreunde«.
  
-**Kunden** waren sie alle. Der altniederrheinische cunde war ein Späher und Kundschafter, er wußte mehr als andere. Begegnete man sich auf der Straße, wurde auf die Frage »Kunde?« geantwortet mit »Ken Mathes?« Nicht der Mathias ist gemeint, sondern die »Medine« (Landstraße) und bedeutet so: »Ich kenne die Landstraße«.\\ +**[[wiki:kundige|Kunden]]** waren sie alle. Der altniederrheinische //cunde// war ein Späher und Kundschafter, er wußte mehr als andere. Begegnete man sich auf der Straße, wurde auf die Frage »Kunde?« geantwortet mit »Ken Mathes?« Nicht der Mathias ist gemeint, sondern die »Medine« (Landstraße) und bedeutet so: »Ich kenne die Landstraße«.\\ 
 1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 trafen sich in Stuttgart 600 Vagabunden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten. 1930 drehte die UFA einen Vagabundenfilm mit Gregor Gog und anderen Vagabunden. Im gleichen Jahr gab es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in ein Konzentrationslager und flieht Ende 1933 in die Schweiz. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten. 1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 trafen sich in Stuttgart 600 Vagabunden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten. 1930 drehte die UFA einen Vagabundenfilm mit Gregor Gog und anderen Vagabunden. Im gleichen Jahr gab es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in ein Konzentrationslager und flieht Ende 1933 in die Schweiz. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten.
  
 +==== Gehen und Wandern ====
   »All sein hab und gut auf den buckel nehmen, nicht andere tragen lassen,   »All sein hab und gut auf den buckel nehmen, nicht andere tragen lassen,
   und deshalb … reduzieren und minimieren. …    und deshalb … reduzieren und minimieren. … 
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   regen und trockenheit, tag und nacht. Man entdeckt das licht,    regen und trockenheit, tag und nacht. Man entdeckt das licht, 
   die großen stunden des tages und der nacht, das wasser und die furcht …«   die großen stunden des tages und der nacht, das wasser und die furcht …«
-  Die **Freiheit des Gehens** in der Wüste entdeckte und beschrieb ''Otl Aicher'' in schönen Bildern.  + 
-Weit über 200 Jahre früher fand der aufklärende Denker ''Jean-Jacques Rousseau'', Genfer und Franzose, in der Natur der Schweizer Bergwelt **Weitblick und Raum für freies Denken**, für seinen Traum vom erfüllten Leben. Um 1750 erwanderte er sich die Schweiz als vielleicht erster überzeugter **Fußwanderer**. Klima und Luft rühmend, Bergwelt und Älpler idealisierend entwarf er 1761 in seiner »La Nouvelle Héloïse« Visionen eines Arkadiens, die nachfolgende Generationen begierig aufnahmen. Die Schweiz mit ihren mühselig zu überschreitenden Pässen, bislang nur Durchreiseland, wurde zum Ziel der Bildungsbürger. Hirten erschienen sorglos, Alpen wurden zu saftigen Matten, Felshänge scheinen schützend bei ''Caspar David Friedrich'', vereint mit malerischen Sturzbächen. Rousseaus »Retournons à la nature!« hallte bis tief in unser Jahrhundert. Wilde Wald- und Berglandschaften erhielten nun romantisierende Beinamen, die Sächsische Schweiz wurde als eine der ersten getauft. Naturgenuß, die Schweiz als Symbol für Freiheit und das Wandern als klassenlose Reiseart – das waren Ideen, die in das Saeculum der Revolutionen paßten. Fußreisen waren ein Affront gegen ständische Überzeugungen, denen rote Wangen bäurisch schienen, weiße Haut als Zeichen besseren Standes galten, frische Luft als schädlich galt und denen es unschicklich war, sich körperlich zu betätigen.\\ +Die **Freiheit des Gehens** in der Wüste entdeckte und beschrieb ''Otl Aicher'' in schönen Bildern.  
 +Weit über 200 Jahre früher fand der aufklärende Denker ''Jean-Jacques Rousseau'', Genfer und Franzose, in der Natur der Schweizer [[wiki:bergwelt|Bergwelt]] **Weitblick und Raum für freies Denken**, für seinen Traum vom erfüllten Leben. Um 1750 erwanderte er sich die Schweiz als vielleicht erster überzeugter **Fußwanderer**. *[[wiki:klima|Klima]] und Luft rühmend, Bergwelt und Älpler idealisierend entwarf er 1761 in seiner »La Nouvelle Héloïse« Visionen eines Arkadiens, die nachfolgende Generationen begierig aufnahmen. Die Schweiz mit ihren mühselig zu überschreitenden Pässen, bislang nur Durchreiseland, wurde zum Ziel der Bildungsbürger. Hirten erschienen sorglos, Alpen wurden zu saftigen Matten, Felshänge scheinen schützend bei ''Caspar David Friedrich'', vereint mit malerischen Sturzbächen. Rousseaus »Retournons à la nature!« hallte bis tief in unser Jahrhundert. Wilde Wald- und Berglandschaften erhielten nun romantisierende Beinamen, die Sächsische Schweiz wurde als eine der ersten getauft. Naturgenuß, die Schweiz als Symbol für Freiheit und das Wandern als klassenlose Reiseart – das waren Ideen, die in das Saeculum der Revolutionen paßten. Fußreisen waren ein Affront gegen ständische Überzeugungen, denen rote Wangen bäurisch schienen, weiße Haut als Zeichen besseren Standes galten, frische Luft als schädlich galt und denen es unschicklich war, sich körperlich zu betätigen. 
 Der gesellschaftskritische Publizist und Pädagoge ''Afsprung'' wanderte 1782 durch die Schweiz und schrieb einen radikaldemokratischen Reisebericht, ihm folgten andere Poeten, wie ''Christoph Meiners'', 1784, ''Gerhard Anton von Halem'', 1790, ''Johann Gottfried Ebel'', 1792, ''Friedrich Leopold von Stolberg'', 1794, ''Johann Wolfgang von Goethe'', 1779 und 1797. Der Reisebericht wandelte sich vom politischen zum literarischen Medium, machte die Fußreise zum Topos: so 1797 im »Gestiefelten Kater« von ''Ludwig Tieck'', 1809 in den //Wahlverwandtschaften// Goethes, 1826 im //Taugenichts// von ''Eichendorff'', 1835 im //Lumpazivagabundus// ''Johann Nestroys'' und nicht zuletzt in den //Müllerliedern// ''Schuberts''. Der gesellschaftskritische Publizist und Pädagoge ''Afsprung'' wanderte 1782 durch die Schweiz und schrieb einen radikaldemokratischen Reisebericht, ihm folgten andere Poeten, wie ''Christoph Meiners'', 1784, ''Gerhard Anton von Halem'', 1790, ''Johann Gottfried Ebel'', 1792, ''Friedrich Leopold von Stolberg'', 1794, ''Johann Wolfgang von Goethe'', 1779 und 1797. Der Reisebericht wandelte sich vom politischen zum literarischen Medium, machte die Fußreise zum Topos: so 1797 im »Gestiefelten Kater« von ''Ludwig Tieck'', 1809 in den //Wahlverwandtschaften// Goethes, 1826 im //Taugenichts// von ''Eichendorff'', 1835 im //Lumpazivagabundus// ''Johann Nestroys'' und nicht zuletzt in den //Müllerliedern// ''Schuberts''.
  
-Bedenkt man, daß zu dieser Zeit vielleicht 80% der Deutschen von der Landwirtschaft lebten und preußische Bauern noch als Leibeigene galten, daß in dieser Zeit etwa 10% der Deutschen auf den Landstraßen aus Not vagabundierend umherzogen, so ist das verträumte und romantische Ideal des Taugenichts, sein freies Sich-treiben-lassen eine Chimäre. Der deutsche Weg in eine bessere Welt führte weder in die gesellschaftliche Revolution wie in Frankreich, noch in eine industrielle Revolution wie in England, sondern auf Pegasus’ Flügel in »**kleine Fluchten**«, in Traum und Transzendenz. Sichtweisen änderten sich: Aussichtstürme entstanden, ein Fernrohr gehörte zur Wanderausrüstung, man suchte den Horizont zu erweitern.+Bedenkt man, daß zu dieser Zeit vielleicht 80% der Deutschen von der Landwirtschaft lebten und preußische Bauern noch als Leibeigene galten, daß in dieser Zeit etwa 10% der Deutschen auf den Landstraßen aus Not vagabundierend umherzogen, so ist das verträumte und romantische Ideal des //Taugenichts//, sein freies Sich-treiben-lassen eine Chimäre. Der deutsche Weg in eine bessere Welt führte weder in die gesellschaftliche Revolution wie in Frankreich, noch in eine industrielle Revolution wie in England, sondern auf Pegasus’ Flügel in »**kleine Fluchten**«, in Traum und Transzendenz. Sichtweisen änderten sich: Aussichtstürme entstanden, ein Fernrohr gehörte zur Wanderausrüstung, man suchte den Horizont zu erweitern.
    
-''Johann Seumes'' //»Spaziergang nach Syrakus«// von 1802 wird gerne als Höhepunkt jener Zeit gesehen und ist doch eigentlich ein Kontrapunkt — Seume ist Realist, kein Romantiker, empfindsam, doch nicht schwärmerisch, wandert nicht aus Mode. Zwei Jahre nach Erscheinen der »Heloise« als Sohn eines verarmten Bauern geboren, ermöglichten ihm Gönner ein theologisches Studium. Das bricht er ab, macht sich auf den Weg nach Paris, und wird gesucht:// »Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns.«// Hessische Werber preßten ihn in das für Nordamerika bestimmte Söldnerheer. 1783, nach zwei Jahren Amerika desertierte er. Die Fußreise, zu der er im Dezember 1801 aufbricht, ist ihm etwas Besonderes: //»Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluß von einiger Bedeutung.«// Im April ist er in Syrakus, besteigt Ätna und Vesuv und wandert über Paris zurück, neun Monate währt die gesamte Tour.+''Johann Seumes'' //»[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] nach Syrakus«// von 1802 wird gerne als Höhepunkt jener Zeit gesehen und ist doch eigentlich ein Kontrapunkt — Seume ist Realist, kein Romantiker, empfindsam, doch nicht schwärmerisch, wandert nicht aus Mode. Zwei Jahre nach Erscheinen der »Heloise« als Sohn eines verarmten Bauern geboren, ermöglichten ihm Gönner ein theologisches Studium. Das bricht er ab, macht sich auf den Weg nach Paris, und wird gesucht:// »Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns.«// Hessische Werber preßten ihn in das für Nordamerika bestimmte Söldnerheer. 1783, nach zwei Jahren Amerika desertierte er. Die Fußreise, zu der er im Dezember 1801 aufbricht, ist ihm etwas Besonderes: //»Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluß von einiger Bedeutung.«// Im April ist er in Syrakus, besteigt Ätna und Vesuv und wandert über Paris zurück, neun Monate währt die gesamte Tour.
   »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne    »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne 
   und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. …    und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. … 
   Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«   Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«
-1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem Tempo und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der Geschwindigkeit, des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im 19. Jahrhundert allerdings für die Wanderarbeiter, das industrielle Proletariat.+1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem [[wiki:zeitempfinden|Tempo]] und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]], des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] allerdings für die [[wiki:wanderarbeiter|Wanderarbeiter]], das industrielle Proletariat.
  
-Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **Spaziergang** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.+Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] ** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.
  
 +==== Reiseführer und Wandervereine ====
 Der gesellschaftlichen Revolution folgte die industrielle. Auch Reisen wurde beschleunigt, die Rousseauschen Ideen verblaßten. ''Karl Baedeker'' gab 1839 seinem ersten Reiseführer, einer Rheinreise von Mainz nach Cölln, den Untertitel //»Handbuch für Schnellreisende«//. Mit der ersten Eisenbahnstrecken in England 1825, in Deutschland 1835 und international 1843 verkleinerte sich die Welt zusehends, wurde für weitere Schichten erschwinglich. 20 Jahre später durchzog ein Schienennetz die Alpen. **Wandervereine** entstanden — die Eisenbahngesellschaften förderten die Gruppenreise — die Berge rückten näher, der Alpinismus wurde modern. Der erste Alpenverein wurde 1857 in England gegründet, der österreichische 1862, der deutsche 1869. Im Alpinismus wurde die schon etwas schal gewordene Melange aus [[wiki:freiheit|Freiheit]], körperlicher Bewegung und Natur wiedergeboren. Das sportliche Interesse wuchs, der //english sportsman// war Vorbild. Wieder war es das gehobene Bürgertum, das sich in den Alpenvereinen fand, für Handwerker, Arbeiter und Tagelöhner war kein Platz. Der gesellschaftlichen Revolution folgte die industrielle. Auch Reisen wurde beschleunigt, die Rousseauschen Ideen verblaßten. ''Karl Baedeker'' gab 1839 seinem ersten Reiseführer, einer Rheinreise von Mainz nach Cölln, den Untertitel //»Handbuch für Schnellreisende«//. Mit der ersten Eisenbahnstrecken in England 1825, in Deutschland 1835 und international 1843 verkleinerte sich die Welt zusehends, wurde für weitere Schichten erschwinglich. 20 Jahre später durchzog ein Schienennetz die Alpen. **Wandervereine** entstanden — die Eisenbahngesellschaften förderten die Gruppenreise — die Berge rückten näher, der Alpinismus wurde modern. Der erste Alpenverein wurde 1857 in England gegründet, der österreichische 1862, der deutsche 1869. Im Alpinismus wurde die schon etwas schal gewordene Melange aus [[wiki:freiheit|Freiheit]], körperlicher Bewegung und Natur wiedergeboren. Das sportliche Interesse wuchs, der //english sportsman// war Vorbild. Wieder war es das gehobene Bürgertum, das sich in den Alpenvereinen fand, für Handwerker, Arbeiter und Tagelöhner war kein Platz.
  
-Doch das Proletariat holte auf und genoß einige Jahrzehnte die abgelegten Wandermoden des Bürgertums. In Wandervereinen zogen Arbeiter am arbeitsfreien Sonntag nach einer 80-Stunden-Woche in die stadtnahe Natur, »soziales Wandern« wurde angestrebt, die Jugend von »Kneipe und Kirmes« ferngehalten, »Reisehandbücher für wandernde Arbeiter« beschrieben detaillierte Strecken. Solche Freizeit war preiswert, erholsam, entspannend. Eine Generation später gründeten Sozialdemokraten 1895 den Arbeiter-Wanderverein »Die Naturfreunde«. Bis 1923 hatte er mit 100.000 Mitglieder zum deutsch-österreichischen Alpenverein aufgeschlossen, 1932 waren in 53 touristischen Wandervereinen 250.000 Mitglieder organisiert.+Doch das Proletariat holte auf und genoß einige Jahrzehnte die abgelegten Wandermoden des Bürgertums. Um 1900 wird das Wandern zur Massenbewegung und Ideologie, verbunden mit Körperkultur, Volksliedern und Sagen, eine Wander- und Jugendbewegung entsteht, auch die Arbeiterbewegungen entdecken das Wandern. Die Fußreise erreicht ihren touristischen Höhepunkt. In Wandervereinen zogen Arbeiter am arbeitsfreien Sonntag nach einer 80-Stunden-Woche in die stadtnahe Natur, »soziales Wandern« wurde angestrebt, die Jugend von »Kneipe und Kirmes« ferngehalten, »Reisehandbücher für wandernde Arbeiter« beschrieben detaillierte Strecken. Solche Freizeit war preiswert, erholsam, entspannend. Eine Generation später gründeten Sozialdemokraten 1895 den Arbeiter-Wanderverein »Die Naturfreunde«. Bis 1923 hatte er mit 100.000 Mitglieder zum deutsch-österreichischen Alpenverein aufgeschlossen, 1932 waren in 53 touristischen Wandervereinen 250.000 Mitglieder organisiert.
  
 +==== Jugendherbergen ====
 Der Volksschullehrer ''Richard Schirrmann'' sorgte in Altena-Nette ab 1907 für Wanderunterkünfte und schuf 1912 die erste **Jugendherberge**, der Förderer ''Dr. Graßl'' nennt das Ziel: Der Volksschullehrer ''Richard Schirrmann'' sorgte in Altena-Nette ab 1907 für Wanderunterkünfte und schuf 1912 die erste **Jugendherberge**, der Förderer ''Dr. Graßl'' nennt das Ziel:
   »Überall soll der Wanderer ein sauberes, sicheres Heim vorfinden,    »Überall soll der Wanderer ein sauberes, sicheres Heim vorfinden, 
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 1786 wurde der Montblanc erstmals erstiegen, 1953 der Mount Everest. Die Welt der Berge ist dem Mythos und der Poesie entrungen. Nichts bleibt übrig, das zu erobern wäre. Hier noch eine Nordwand, dort eine letzte Flanke — und dann? 1786 wurde der Montblanc erstmals erstiegen, 1953 der Mount Everest. Die Welt der Berge ist dem Mythos und der Poesie entrungen. Nichts bleibt übrig, das zu erobern wäre. Hier noch eine Nordwand, dort eine letzte Flanke — und dann?
  
-Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer.\\  +==== Die Grenzen des Wanderns ==== 
-Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder Flucht noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial Reisende, Wandervögel und Spaziergänger, Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und Kunden, durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.+Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer.
  
-Um 1870 entstehen die europäischen **Alpenvereine**in England der erste Camping-ClubUm 1900 wird das Wandern zur Massenbewegung und Ideologieverbunden mit KörperkulturVolksliedern und Sageneine Wander- und Jugendbewegung entstehtauch die Arbeiterbewegungen entdecken das Wandern. Die Fußreise erreicht ihren touristischen Höhepunkt.+Wahres Reisen ist freiwillig und beendbardarf Last sein und Mühe, ist jedoch weder [[wiki:flucht|Flucht]] noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruheund Rastlosen legitimierte WandermöglichkeitenReisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probemessen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial [[wiki:reisende|Reisende]][[wiki:wandervogel|Wandervögel]] und [[wiki:spaziergang|Spaziergänger]]Gesellen und ArbeiterVagabunden und [[wiki:kundige|Kunden]], durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.
  
 Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie. Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie.
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 siehe auch:\\  siehe auch:\\ 
-* Quellen: [[wiki:Literaturliste zum Fussreisen|Literaturliste zum Fussreisen]]\\  +* Quellen: [[wiki:literaturliste_fussreisen|Literaturliste zum Fussreisen]]\\  
-* [[wiki:literaturliste_zur_reiseliteratur|Literaturliste zur Reiseliteratur]]\\ +* [[wiki:literaturliste_reiseliteratur|Literaturliste zur Reiseliteratur]]\\ 
 * [[wiki:fachliteratur|Fachliteratur]]\\  * [[wiki:fachliteratur|Fachliteratur]]\\ 
  
 <html><img src="https://vg07.met.vgwort.de/na/708528d1d7be46419e3ad492e83f0c01" width="1" height="1" alt=""></html> <html><img src="https://vg07.met.vgwort.de/na/708528d1d7be46419e3ad492e83f0c01" width="1" height="1" alt=""></html>
wiki/fussreisen.1574177091.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/12/07 15:07 (Externe Bearbeitung)

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