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wiki:fussreisen

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wiki:fussreisen [2021/05/22 07:46] norbertwiki:fussreisen [2021/09/07 04:19] norbert
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 ''Helena'', Mutter des römischen Kaisers ''Konstantin'', reiste 326 nach Palästina und wurde zum Vorbild der entstehenden Pilgerbewegung — es waren meist Frauen, die in den nächsten Jahrhunderten pilgerten. Die Wanderungen Jesu nachvollziehend, wurden dessen unsichtbare Spuren zum Objekt der Anbetung. »Lasset uns beten an den Stellen, wo sein Fuß gestanden hat.«  ''Helena'', Mutter des römischen Kaisers ''Konstantin'', reiste 326 nach Palästina und wurde zum Vorbild der entstehenden Pilgerbewegung — es waren meist Frauen, die in den nächsten Jahrhunderten pilgerten. Die Wanderungen Jesu nachvollziehend, wurden dessen unsichtbare Spuren zum Objekt der Anbetung. »Lasset uns beten an den Stellen, wo sein Fuß gestanden hat.« 
  
-Bereits in der griechisch-römischen Antike war ein Philosoph kaum anders als wandernd vorstellbar. ''Strabon'' (griechischer Historiker und Geograph, 63 v. - 23 n. Chr.) fand die, die nach dem Sinn des Lebens suchen, in jenen, die die Berge durchstreiften. Erst im 6. Jahrhundert verpflichtete die sogenannte Benediktinerregel die Mönche zur Seßhaftigkeit, zur //[[wiki:stabilitas_loci|stabilitas loci]]//. Entvölkert wurden die Straßen dadurch nicht, sorgten doch Scholaren nach den Universitätsgründungen des 12. und 13. Jahrhunderts für weltlichen Nachwuchs. In den Liedern der //Carmina Burana// spiegelt sich der Geist der gelehrten, doch armen [[wiki:vaganten|Vaganten]], denen sich im nachfolgenden Humanismus die //Bacchanten//, fahrende Schüler mit schlechtem Ruf, zugesellten, und denen ''Goethe'' mit dem Mephistopheles ein Denkmal setzte.+Bereits in der griechisch-römischen Antike war ein Philosoph kaum anders als wandernd vorstellbar. ''Strabon'' (griechischer Historiker und Geograph, 63 v. - 23 n. Chr.) fand die, die nach dem Sinn des Lebens suchen, in jenen, die die Berge durchstreiften. Erst im [[wiki:reisegenerationen#6./7. Jahrhundert|6. Jahrhundert]]  verpflichtete die sogenannte Benediktinerregel die Mönche zur Seßhaftigkeit, zur //[[wiki:stabilitas_loci|stabilitas loci]]//. Entvölkert wurden die Straßen dadurch nicht, sorgten doch Scholaren nach den Universitätsgründungen des 12. und 13. [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 12. Jahrhundert| Jahrhunderts]] für weltlichen Nachwuchs. In den Liedern der //Carmina Burana// spiegelt sich der Geist der gelehrten, doch armen [[wiki:vaganten|Vaganten]], denen sich im nachfolgenden Humanismus die //Bacchanten//, fahrende Schüler mit schlechtem Ruf, zugesellten, und denen ''Goethe'' mit dem Mephistopheles ein Denkmal setzte.
  
 Im //[[wiki:itinerar|Itinerarium]] Burdigalense//, dem ältesten bekannten Pilgerführer (333 n. Chr.), wird die Reise von Bordeaux nach Jerusalem über Toulouse, Narbonne, Mailand, Padua, Belgrad, Sofia, Adrianopel, Konstantinopel, durch Syrien nach Palästina, beschrieben. Neben Jerusalem und Rom entstanden weitere Ziele: Santiago de Compostela, Canterbury, Einsiedeln, die Heilige Linde, Lourdes. Waffenlos und barfuß im einfachen Gewand mit breitkrempigem Hut, Umhängetasche und dem Kürbis als Wasserflasche wanderten die Pilger; warme Bäder und weiche Betten sollten gemieden, Haare und Fingernägel durften nicht geschnitten werden. Als Ziel für Überfälle waren Pilger wenig attraktiv.\\  Im //[[wiki:itinerar|Itinerarium]] Burdigalense//, dem ältesten bekannten Pilgerführer (333 n. Chr.), wird die Reise von Bordeaux nach Jerusalem über Toulouse, Narbonne, Mailand, Padua, Belgrad, Sofia, Adrianopel, Konstantinopel, durch Syrien nach Palästina, beschrieben. Neben Jerusalem und Rom entstanden weitere Ziele: Santiago de Compostela, Canterbury, Einsiedeln, die Heilige Linde, Lourdes. Waffenlos und barfuß im einfachen Gewand mit breitkrempigem Hut, Umhängetasche und dem Kürbis als Wasserflasche wanderten die Pilger; warme Bäder und weiche Betten sollten gemieden, Haare und Fingernägel durften nicht geschnitten werden. Als Ziel für Überfälle waren Pilger wenig attraktiv.\\ 
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   Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger 1320-1520   Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger 1320-1520
   Gunter Narr Verlag, 1990   Gunter Narr Verlag, 1990
 +  
 +''Carl Gustav Carus'' //Pilger im Felsental//, nach 1828/30 (Öl auf Leinwand, 28×22 cm Nationalgalerie Berlin)
 ==== Fahrendes Volk ==== ==== Fahrendes Volk ====
-In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? [[wiki:zeitempfinden|Keine Zeit]]! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im 19. Jahrhundert blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch''). +In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? [[wiki:zeitempfinden|Keine Zeit]]! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch''). 
 Paradoxerweise wurde die Epoche zum Zeitalter der [[wiki:erforscher|Entdecker und Erforscher]] hochgejubelt. Doch längst war die Welt zu Fuß entdeckt, viel gründlicher als „Eroberer“ das vermochten. Es ging vielmehr darum, das Wissen über die Wege rund um den Globus zu nutzen – nicht die Welt wurde entdeckt, sondern Kunden, nicht Länder wurden erobert, sondern Märkte. Nach der Seßhaftwerdung war dies die zweite Hinwendung zum Materialismus. Paradoxerweise wurde die Epoche zum Zeitalter der [[wiki:erforscher|Entdecker und Erforscher]] hochgejubelt. Doch längst war die Welt zu Fuß entdeckt, viel gründlicher als „Eroberer“ das vermochten. Es ging vielmehr darum, das Wissen über die Wege rund um den Globus zu nutzen – nicht die Welt wurde entdeckt, sondern Kunden, nicht Länder wurden erobert, sondern Märkte. Nach der Seßhaftwerdung war dies die zweite Hinwendung zum Materialismus.
  
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 Die Hauptmahlzeit war üblicherweise abends (wenn es denn etwas gab) - das französische Diner bedeutete ursprünglich „entfasten“: zum Abend das erste Essen des Tages einnehmen. Diese Tageseinteilung findet man noch heute bei Nomaden in arabischen und afrikanischen Ländern. Selbst Brot war nicht immer selbstverständlich, schließlich setzt es einen Backofen und Brennmaterial voraus. Üblich war roher oder gekochter Getreidebrei. Das Wort „Kumpan“ entstand aus „conpagn“: Der Begleiter, mit dem ich mein Brot teile.\\  Die Hauptmahlzeit war üblicherweise abends (wenn es denn etwas gab) - das französische Diner bedeutete ursprünglich „entfasten“: zum Abend das erste Essen des Tages einnehmen. Diese Tageseinteilung findet man noch heute bei Nomaden in arabischen und afrikanischen Ländern. Selbst Brot war nicht immer selbstverständlich, schließlich setzt es einen Backofen und Brennmaterial voraus. Üblich war roher oder gekochter Getreidebrei. Das Wort „Kumpan“ entstand aus „conpagn“: Der Begleiter, mit dem ich mein Brot teile.\\ 
 Ein Fußwanderer geht kaum langsamer als drei, kaum schneller als sieben Stundenkilometer. Eine Tagesstrecke von 25 Kilometern ist unter normalen Umständen problemlos, bei guten Wetter- und Straßenverhältnissen, bei entsprechender Kondition sind auch 70 Tageskilometer zu schaffen. Schlamm, Regen, Schnee, Eis verzögern das Tempo ebenso wie Flußüberquerungen, Täler, Berge, Unterholz, Sandboden. Orientierungspausen und Umwege kosten viel Zeit, Unterkunft, [[wiki:proviant|Proviant]], Trinken müssen organisiert, Schuhe geflickt werden. Erholungstage sind nötig, Krankheiten fesseln ans Bett, Zöllner machen Schwierigkeiten .... Der Probleme gibt es reichlich. Eine Strecke von 1500 Kilometern bedurfte etwa zweier Monate für einen Fußreisenden.\\  Ein Fußwanderer geht kaum langsamer als drei, kaum schneller als sieben Stundenkilometer. Eine Tagesstrecke von 25 Kilometern ist unter normalen Umständen problemlos, bei guten Wetter- und Straßenverhältnissen, bei entsprechender Kondition sind auch 70 Tageskilometer zu schaffen. Schlamm, Regen, Schnee, Eis verzögern das Tempo ebenso wie Flußüberquerungen, Täler, Berge, Unterholz, Sandboden. Orientierungspausen und Umwege kosten viel Zeit, Unterkunft, [[wiki:proviant|Proviant]], Trinken müssen organisiert, Schuhe geflickt werden. Erholungstage sind nötig, Krankheiten fesseln ans Bett, Zöllner machen Schwierigkeiten .... Der Probleme gibt es reichlich. Eine Strecke von 1500 Kilometern bedurfte etwa zweier Monate für einen Fußreisenden.\\ 
-Jahrzehntausende lang gab es keine Alternativen. Ein erstes Verkehrsmittel war das Tragetuch für die Kinder, das zweite die nachgezogene Astgabel, beladen mit Lasten, Alten, Schwachen. Daraus mag die getragene Sänfte entstanden sein. Das Tragen von „Häuptlingen“ verlangt Hierarchien, die es unter Nomaden kaum in solchem Maße gab. Wo immer möglich, folgten frühe Routen den Flüssen. Wenn Sümpfe, Überschwemmungsgebiete und Auen das Verlassen des Flußlaufs erforderten, könnten treibende Baumstämme, Flöße und Einbäume (Dug-outs) flußabwärts das Reisen erleichtert haben, waren aber mit hohem [[wiki:risiko|Risiko]] verbunden: Wo kam die nächste Stromschnelle? Wer konnte schwimmen im Fall des Kenterns? Zur Flußüberquerung waren sie sicher ein geeignetes Mittel. Auch der Beruf des Fährmanns dürfte zu den ersten Berufen gezählt haben, wurde vielleicht noch vor den Zeiten der Seßhaftwerdung auf den Routen der Nomaden von Ausgestoßenen ausgeübt und erlangte mythologische Bedeutung * ([[wiki:christophorus|Christophorus]]). Das Reisen mit dem Esel gibt es seit dem dritten Jahrtausend vor Christus, das Kamel wurde erst tausend Jahre später genutzt, zu Pferd ritt man seit etwa 1000 v. Chr. – weil es Vorteile im Kampf bot. Der Mythos des Kentauren entstand. Erste Streit- und Reisewagen tauchten in der Antike auf, erforderten aber geeignete Straßen und eine gute Infrastruktur, die im Mittelalter zusehends verfiel. Erst im 11. Jahrhundert n. Chr. dienten Wagen wieder dem Reisen und dann zunächst für Verbrecher, für Kranke, Frauen, Alte.\\ +Jahrzehntausende lang gab es keine Alternativen. Ein erstes Verkehrsmittel war das Tragetuch für die Kinder, das zweite die nachgezogene Astgabel, beladen mit Lasten, Alten, Schwachen. Daraus mag die getragene Sänfte entstanden sein. Das Tragen von „Häuptlingen“ verlangt Hierarchien, die es unter Nomaden kaum in solchem Maße gab. Wo immer möglich, folgten frühe Routen den Flüssen. Wenn Sümpfe, Überschwemmungsgebiete und Auen das Verlassen des Flußlaufs erforderten, könnten treibende Baumstämme, Flöße und Einbäume (Dug-outs) flußabwärts das Reisen erleichtert haben, waren aber mit hohem [[wiki:risiko|Risiko]] verbunden: Wo kam die nächste Stromschnelle? Wer konnte schwimmen im Fall des Kenterns? Zur Flußüberquerung waren sie sicher ein geeignetes Mittel. Auch der Beruf des Fährmanns dürfte zu den ersten Berufen gezählt haben, wurde vielleicht noch vor den Zeiten der Seßhaftwerdung auf den Routen der Nomaden von Ausgestoßenen ausgeübt und erlangte mythologische Bedeutung * ([[wiki:christophorus|Christophorus]]). Das Reisen mit dem Esel gibt es seit dem dritten Jahrtausend vor Christus, das Kamel wurde erst tausend Jahre später genutzt, zu Pferd ritt man seit etwa 1000 v. Chr. – weil es Vorteile im Kampf bot. Der Mythos des Kentauren entstand. Erste Streit- und Reisewagen tauchten in der Antike auf, erforderten aber geeignete Straßen und eine gute Infrastruktur, die im Mittelalter zusehends verfiel. Erst im [[wiki:reisegenerationen#Seit dem 11. Jahrhundert|11. Jahrhundert]] n. Chr. dienten Wagen wieder dem Reisen und dann zunächst für Verbrecher, für Kranke, Frauen, Alte.\\ 
    
 ==== Auf der Walz ==== ==== Auf der Walz ====
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 Bedenkt man, daß zu dieser Zeit vielleicht 80% der Deutschen von der Landwirtschaft lebten und preußische Bauern noch als Leibeigene galten, daß in dieser Zeit etwa 10% der Deutschen auf den Landstraßen aus Not vagabundierend umherzogen, so ist das verträumte und romantische Ideal des //Taugenichts//, sein freies Sich-treiben-lassen eine Chimäre. Der deutsche Weg in eine bessere Welt führte weder in die gesellschaftliche Revolution wie in Frankreich, noch in eine industrielle Revolution wie in England, sondern auf Pegasus’ Flügel in »**kleine Fluchten**«, in Traum und Transzendenz. Sichtweisen änderten sich: Aussichtstürme entstanden, ein Fernrohr gehörte zur Wanderausrüstung, man suchte den Horizont zu erweitern. Bedenkt man, daß zu dieser Zeit vielleicht 80% der Deutschen von der Landwirtschaft lebten und preußische Bauern noch als Leibeigene galten, daß in dieser Zeit etwa 10% der Deutschen auf den Landstraßen aus Not vagabundierend umherzogen, so ist das verträumte und romantische Ideal des //Taugenichts//, sein freies Sich-treiben-lassen eine Chimäre. Der deutsche Weg in eine bessere Welt führte weder in die gesellschaftliche Revolution wie in Frankreich, noch in eine industrielle Revolution wie in England, sondern auf Pegasus’ Flügel in »**kleine Fluchten**«, in Traum und Transzendenz. Sichtweisen änderten sich: Aussichtstürme entstanden, ein Fernrohr gehörte zur Wanderausrüstung, man suchte den Horizont zu erweitern.
    
-''Johann Seumes'' //»Spaziergang nach Syrakus«// von 1802 wird gerne als Höhepunkt jener Zeit gesehen und ist doch eigentlich ein Kontrapunkt — Seume ist Realist, kein Romantiker, empfindsam, doch nicht schwärmerisch, wandert nicht aus Mode. Zwei Jahre nach Erscheinen der »Heloise« als Sohn eines verarmten Bauern geboren, ermöglichten ihm Gönner ein theologisches Studium. Das bricht er ab, macht sich auf den Weg nach Paris, und wird gesucht:// »Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns.«// Hessische Werber preßten ihn in das für Nordamerika bestimmte Söldnerheer. 1783, nach zwei Jahren Amerika desertierte er. Die Fußreise, zu der er im Dezember 1801 aufbricht, ist ihm etwas Besonderes: //»Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluß von einiger Bedeutung.«// Im April ist er in Syrakus, besteigt Ätna und Vesuv und wandert über Paris zurück, neun Monate währt die gesamte Tour.+''Johann Seumes'' //»[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] nach Syrakus«// von 1802 wird gerne als Höhepunkt jener Zeit gesehen und ist doch eigentlich ein Kontrapunkt — Seume ist Realist, kein Romantiker, empfindsam, doch nicht schwärmerisch, wandert nicht aus Mode. Zwei Jahre nach Erscheinen der »Heloise« als Sohn eines verarmten Bauern geboren, ermöglichten ihm Gönner ein theologisches Studium. Das bricht er ab, macht sich auf den Weg nach Paris, und wird gesucht:// »Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns.«// Hessische Werber preßten ihn in das für Nordamerika bestimmte Söldnerheer. 1783, nach zwei Jahren Amerika desertierte er. Die Fußreise, zu der er im Dezember 1801 aufbricht, ist ihm etwas Besonderes: //»Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluß von einiger Bedeutung.«// Im April ist er in Syrakus, besteigt Ätna und Vesuv und wandert über Paris zurück, neun Monate währt die gesamte Tour.
   »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne    »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne 
   und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. …    und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. … 
   Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«   Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«
-1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem [[wiki:zeitempfinden|Tempo]] und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]], des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im 19. Jahrhundert allerdings für die Wanderarbeiter, das industrielle Proletariat.+1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem [[wiki:zeitempfinden|Tempo]] und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]], des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] allerdings für die Wanderarbeiter, das industrielle Proletariat.
  
-Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **Spaziergang** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.+Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] ** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.
  
 ==== Reiseführer und Wandervereine ==== ==== Reiseführer und Wandervereine ====
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 Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer. Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer.
  
-Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder Flucht noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial Reisende, Wandervögel und Spaziergänger, Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und Kunden, durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.+Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder [[wiki:flucht|Flucht]] noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial [[wiki:reisende|Reisende]][[wiki:wandervogel|Wandervögel]] und [[wiki:spaziergang|Spaziergänger]], Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und Kunden, durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.
  
 Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie. Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie.
wiki/fussreisen.txt · Zuletzt geändert: 2024/04/07 06:50 von norbert

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