Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


wiki:fussreisen

Unterschiede

Hier werden die Unterschiede zwischen zwei Versionen der Seite angezeigt.

Link zu der Vergleichsansicht

Beide Seiten, vorherige ÜberarbeitungVorherige Überarbeitung
Nächste Überarbeitung
Vorherige Überarbeitung
Nächste ÜberarbeitungBeide Seiten, nächste Überarbeitung
wiki:fussreisen [2021/05/22 07:46] norbertwiki:fussreisen [2021/06/15 03:13] norbert
Zeile 124: Zeile 124:
   Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger 1320-1520   Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger 1320-1520
   Gunter Narr Verlag, 1990   Gunter Narr Verlag, 1990
 +  
 +''Carl Gustav Carus'' //Pilger im Felsental//, nach 1828/30 (Öl auf Leinwand, 28×22 cm Nationalgalerie Berlin)
 ==== Fahrendes Volk ==== ==== Fahrendes Volk ====
 In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? [[wiki:zeitempfinden|Keine Zeit]]! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im 19. Jahrhundert blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch'').  In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? [[wiki:zeitempfinden|Keine Zeit]]! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im 19. Jahrhundert blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch''). 
Zeile 253: Zeile 255:
 Bedenkt man, daß zu dieser Zeit vielleicht 80% der Deutschen von der Landwirtschaft lebten und preußische Bauern noch als Leibeigene galten, daß in dieser Zeit etwa 10% der Deutschen auf den Landstraßen aus Not vagabundierend umherzogen, so ist das verträumte und romantische Ideal des //Taugenichts//, sein freies Sich-treiben-lassen eine Chimäre. Der deutsche Weg in eine bessere Welt führte weder in die gesellschaftliche Revolution wie in Frankreich, noch in eine industrielle Revolution wie in England, sondern auf Pegasus’ Flügel in »**kleine Fluchten**«, in Traum und Transzendenz. Sichtweisen änderten sich: Aussichtstürme entstanden, ein Fernrohr gehörte zur Wanderausrüstung, man suchte den Horizont zu erweitern. Bedenkt man, daß zu dieser Zeit vielleicht 80% der Deutschen von der Landwirtschaft lebten und preußische Bauern noch als Leibeigene galten, daß in dieser Zeit etwa 10% der Deutschen auf den Landstraßen aus Not vagabundierend umherzogen, so ist das verträumte und romantische Ideal des //Taugenichts//, sein freies Sich-treiben-lassen eine Chimäre. Der deutsche Weg in eine bessere Welt führte weder in die gesellschaftliche Revolution wie in Frankreich, noch in eine industrielle Revolution wie in England, sondern auf Pegasus’ Flügel in »**kleine Fluchten**«, in Traum und Transzendenz. Sichtweisen änderten sich: Aussichtstürme entstanden, ein Fernrohr gehörte zur Wanderausrüstung, man suchte den Horizont zu erweitern.
    
-''Johann Seumes'' //»Spaziergang nach Syrakus«// von 1802 wird gerne als Höhepunkt jener Zeit gesehen und ist doch eigentlich ein Kontrapunkt — Seume ist Realist, kein Romantiker, empfindsam, doch nicht schwärmerisch, wandert nicht aus Mode. Zwei Jahre nach Erscheinen der »Heloise« als Sohn eines verarmten Bauern geboren, ermöglichten ihm Gönner ein theologisches Studium. Das bricht er ab, macht sich auf den Weg nach Paris, und wird gesucht:// »Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns.«// Hessische Werber preßten ihn in das für Nordamerika bestimmte Söldnerheer. 1783, nach zwei Jahren Amerika desertierte er. Die Fußreise, zu der er im Dezember 1801 aufbricht, ist ihm etwas Besonderes: //»Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluß von einiger Bedeutung.«// Im April ist er in Syrakus, besteigt Ätna und Vesuv und wandert über Paris zurück, neun Monate währt die gesamte Tour.+''Johann Seumes'' //»[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] nach Syrakus«// von 1802 wird gerne als Höhepunkt jener Zeit gesehen und ist doch eigentlich ein Kontrapunkt — Seume ist Realist, kein Romantiker, empfindsam, doch nicht schwärmerisch, wandert nicht aus Mode. Zwei Jahre nach Erscheinen der »Heloise« als Sohn eines verarmten Bauern geboren, ermöglichten ihm Gönner ein theologisches Studium. Das bricht er ab, macht sich auf den Weg nach Paris, und wird gesucht:// »Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns.«// Hessische Werber preßten ihn in das für Nordamerika bestimmte Söldnerheer. 1783, nach zwei Jahren Amerika desertierte er. Die Fußreise, zu der er im Dezember 1801 aufbricht, ist ihm etwas Besonderes: //»Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluß von einiger Bedeutung.«// Im April ist er in Syrakus, besteigt Ätna und Vesuv und wandert über Paris zurück, neun Monate währt die gesamte Tour.
   »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne    »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne 
   und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. …    und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. … 
Zeile 259: Zeile 261:
 1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem [[wiki:zeitempfinden|Tempo]] und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]], des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im 19. Jahrhundert allerdings für die Wanderarbeiter, das industrielle Proletariat. 1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem [[wiki:zeitempfinden|Tempo]] und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]], des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im 19. Jahrhundert allerdings für die Wanderarbeiter, das industrielle Proletariat.
  
-Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **Spaziergang** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.+Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] ** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.
  
 ==== Reiseführer und Wandervereine ==== ==== Reiseführer und Wandervereine ====
Zeile 277: Zeile 279:
 Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer. Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer.
  
-Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder Flucht noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial Reisende, Wandervögel und Spaziergänger, Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und Kunden, durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.+Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder [[wiki:flucht|Flucht]] noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial [[wiki:reisende|Reisende]][[wiki:wandervogel|Wandervögel]] und [[wiki:spaziergang|Spaziergänger]], Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und Kunden, durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.
  
 Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie. Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie.
wiki/fussreisen.txt · Zuletzt geändert: 2024/03/17 04:58 von norbert

Donate Powered by PHP Valid HTML5 Valid CSS Driven by DokuWiki