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wiki:flucht

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wiki:flucht [2019/06/14 10:49] – [1 Vorbemerkung] norbertwiki:flucht [2023/09/09 04:52] (aktuell) norbert
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 ===== 1 Vorbemerkung ===== ===== 1 Vorbemerkung =====
-Während langer Zeiten im 20. Jahrhundert war das Reisen oft undenkbar. Unterwegs waren dann meist Flüchtlinge, Gestrandete, Heimatlose, Soldaten. Wie erging es Reisenden, die im fremden Land vom Krieg überrascht wurden? Gab es freiwillig Reisende in den Kriegsjahren? Wie „reiste“ man auf der Flucht?\\ +Während langer Zeiten im [[wiki:reisegenerationen#20. Jahrhundert|20. Jahrhundert]] war das Reisen oft undenkbar. [[wiki:unterwegs-sein|Unterwegs]] waren dann meist Flüchtlinge, Gestrandete, Heimatlose, Soldaten. Wie erging es Reisenden, die im fremden Land vom Krieg überrascht wurden? Gab es freiwillig Reisende in den Kriegsjahren? Wie „reiste“ man auf der Flucht?\\ 
 Die wohl berühmteste Flucht des 20. Jahrhunderts ist im ersten Kapitel beschrieben: Einzigartig ist, daß gleich fünf der sieben Flüchtenden ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben haben: ''Heinrich Harrer'', ''Peter Aufschnaiter'', ''Rolf Magener'', ''Friedel Sattler'' und ''Hans Kopp''.\\  Die wohl berühmteste Flucht des 20. Jahrhunderts ist im ersten Kapitel beschrieben: Einzigartig ist, daß gleich fünf der sieben Flüchtenden ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben haben: ''Heinrich Harrer'', ''Peter Aufschnaiter'', ''Rolf Magener'', ''Friedel Sattler'' und ''Hans Kopp''.\\ 
 Im zweiten Kapitel folgen Einzelerfahrungen mit Krieg, Putsch, Internierung, dem Überleben in fremden Ländern und Möglichkeiten zur [[wiki:Heimkehr|Heimkehr]], basierend auf Reiseberichten des Engländers ''Chatwin'', der Polen ''Rawitsch'' und ''Ossendowski'', der Österreicher ''Fruhmann'', ''Aufschnaiter'', ''Harrer'' und ''Kolb'', des Schweizers ''Meiss-Teuffen'' sowie einiger Deutscher.\\  Im zweiten Kapitel folgen Einzelerfahrungen mit Krieg, Putsch, Internierung, dem Überleben in fremden Ländern und Möglichkeiten zur [[wiki:Heimkehr|Heimkehr]], basierend auf Reiseberichten des Engländers ''Chatwin'', der Polen ''Rawitsch'' und ''Ossendowski'', der Österreicher ''Fruhmann'', ''Aufschnaiter'', ''Harrer'' und ''Kolb'', des Schweizers ''Meiss-Teuffen'' sowie einiger Deutscher.\\ 
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 ==== Warum flüchten? ====  ==== Warum flüchten? ==== 
-''Sattler'' findet das Lager gut geführt und mit zahlreichen Annehmlichkeiten ausgestattet. Auch Kopp lobt das Lager, die Offiziere behandelten sie gut und menschlich, die Verpflegung war großartig, Schneiderei, Bügelei, Wäscherei und Schuhmacherwerkstatt standen zur Verfügung; ein Orchester spielte auf, Theater wurde gegeben, Filme gezeigt, die verschiedensten Sportarten waren möglich. Deutsche Tropenärzte leiteten ein Hospital und ein Zahnlabor. // „Wir durften zweimal in der Woche Spaziergänge außerhalb des Lagers machen, hatten Unterhaltung und Sport. Zweimal wöchentlich spielte ein für uns gebautes und eingerichtetes Kino. Es gab eine große Bibliothek, die Bücher in fast allen Sprachen der Welt umfaßte. Eine Schule, Vorträge aller Art, Theater, Arbeitsräume für jeden nur erdenklichen Handwerksberuf - kurzum, wir hatten alles, was ein zivilisierter Europäer zu seiner Zufriedenheit braucht.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ... , 12))  +''Sattler'' findet das Lager gut geführt und mit zahlreichen Annehmlichkeiten ausgestattet. Auch Kopp lobt das Lager, die Offiziere behandelten sie gut und menschlich, die Verpflegung war großartig, Schneiderei, Bügelei, Wäscherei und Schuhmacherwerkstatt standen zur Verfügung; ein Orchester spielte auf, Theater wurde gegeben, Filme gezeigt, die verschiedensten Sportarten waren möglich. Deutsche Tropenärzte leiteten ein Hospital und ein Zahnlabor. // „Wir durften zweimal in der Woche [[wiki:spaziergang|Spaziergänge]] außerhalb des Lagers machen, hatten Unterhaltung und Sport. Zweimal wöchentlich spielte ein für uns gebautes und eingerichtetes Kino. Es gab eine große Bibliothek, die Bücher in fast allen Sprachen der Welt umfaßte. Eine Schule, Vorträge aller Art, Theater, Arbeitsräume für jeden nur erdenklichen Handwerksberuf - kurzum, wir hatten alles, was ein zivilisierter Europäer zu seiner Zufriedenheit braucht.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ... , 12))  
-Weswegen also fliehen? Der Drang zur Freiheit, Abenteuerlust, das intellektuelle Vergnügen, gesetzte Schranken zumindest geistig zu überwinden, der Glaube an eine offene Zukunft - viele Motive waren möglich, jenseits praktischer Erwägungen:  //„Wenn ich mich trotzdem mit Fluchtgedanken trug, so bedarf das keiner näheren Erläuterung: jeder, der einmal längere Zeit hinter Stacheldraht lebte, wird das verstehen. Das unerträgliche Gefühl des Eingesperrt-Seins, des nutzlosen Ausharrens in einer klimatisch so ungünstigen Zone und auch ein Körnchen Abenteuerlust waren die wichtigsten Beweggründe für meinen Plan...“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ... , 12)) +Weswegen also fliehen? Der Drang zur [[wiki:freiheit|Freiheit]][[wiki:abenteuer|Abenteuerlust]], das intellektuelle Vergnügen, gesetzte Schranken zumindest geistig zu überwinden, der Glaube an eine offene Zukunft - viele Motive waren möglich, jenseits praktischer Erwägungen:  //„Wenn ich mich trotzdem mit Fluchtgedanken trug, so bedarf das keiner näheren Erläuterung: jeder, der einmal längere Zeit hinter Stacheldraht lebte, wird das verstehen. Das unerträgliche Gefühl des Eingesperrt-Seins, des nutzlosen Ausharrens in einer klimatisch so ungünstigen Zone und auch ein Körnchen Abenteuerlust waren die wichtigsten Beweggründe für meinen Plan...“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ... , 12)) 
 Auch für ''Hans Kopp'' war die Sache klar: // „Von jeher galt mir Freiheit als das Höchste. Schon als Kind begriff ich etwas von ihrem unschätzbarem Wert und fühlte mich nur dort wohl, wo ich meine eigenen Wege gehen und tun und lassen konnte, was ich wollte. Jedem Zwang verschloß ich mich oder suchte ihm zu entrinnen. Soweit ich zurückdenken kann, beseelten mich Abenteuerlust und eine unbändige Sehnsucht nach Unabhängigkeit, Wesenszüge, die denn auch mein ganzes bisheriges Leben mitbestimmten.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 5)) Auch für ''Hans Kopp'' war die Sache klar: // „Von jeher galt mir Freiheit als das Höchste. Schon als Kind begriff ich etwas von ihrem unschätzbarem Wert und fühlte mich nur dort wohl, wo ich meine eigenen Wege gehen und tun und lassen konnte, was ich wollte. Jedem Zwang verschloß ich mich oder suchte ihm zu entrinnen. Soweit ich zurückdenken kann, beseelten mich Abenteuerlust und eine unbändige Sehnsucht nach Unabhängigkeit, Wesenszüge, die denn auch mein ganzes bisheriges Leben mitbestimmten.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 5))
  
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 ==== Vorbereitungen zur Flucht ==== ==== Vorbereitungen zur Flucht ====
-Geldmangel war ein großes Problem: ''Heins von Have'' hatte wie die anderen die Erfahrung gemacht, daß Geldmangel das Risiko der Flucht erhöht, da man unterwegs handeln oder tauschen muß. ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 12)) Eine Art Lagergeld war außerhalb des Lagers wertlos. Indische Rupies erhielt man durch den Verkauf von Wertgegenständen an Inder oder durch Betrügereien auf Kosten der Engländer: So manches Schwein wurde an die Lagerküche geliefert, erreichte sie aber nie und wurde dennoch von den Engländern bezahlt. // „Da war zunächst die Beschaffung einer möglichst großen Summe Geldes: Wir beschafften sie uns, indem wir Wein und Schnaps aus Rosinen und Melasse fabrizierten. ...“//  Rupies zu besitzen war verboten, doch immer kursierte eine gewisse Menge im Lager. Wer indische Banknoten besaß, versteckte oder vergrub sie. Oft machten sich dann Ameisen über die Scheine her und ließen kaum etwas übrig.+Geldmangel war ein großes Problem: ''Heins von Have'' hatte wie die anderen die Erfahrung gemacht, daß Geldmangel das Risiko der Flucht erhöht, da man [[wiki:unterwegs-sein|unterwegs]] handeln oder tauschen muß. ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 12)) Eine Art Lagergeld war außerhalb des Lagers wertlos. Indische Rupies erhielt man durch den Verkauf von Wertgegenständen an Inder oder durch Betrügereien auf Kosten der Engländer: So manches Schwein wurde an die Lagerküche geliefert, erreichte sie aber nie und wurde dennoch von den Engländern bezahlt. // „Da war zunächst die Beschaffung einer möglichst großen Summe Geldes: Wir beschafften sie uns, indem wir Wein und Schnaps aus Rosinen und Melasse fabrizierten. ...“//  Rupies zu besitzen war verboten, doch immer kursierte eine gewisse Menge im Lager. Wer indische Banknoten besaß, versteckte oder vergrub sie. Oft machten sich dann Ameisen über die Scheine her und ließen kaum etwas übrig.
  
 ==== Die Suche nach Gleichgesinnten ==== ==== Die Suche nach Gleichgesinnten ====
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 ''Have'' war als Kaufmann in Batavia tätig gewesen, wurde dort von den Holländern interniert und vor der Landung der Japaner auf Java mit den anderen Deutschen aus Indonesien nach Britisch-Indien gebracht. Dabei unternahm er zusammen mit dem Hamburger ''Hans Peter Hülsen'' einen ersten Fluchtversuch, indem sie aus einem fahrenden Zug sprangen. Zunächst erfolgreich, wurden sie dennoch bald gefaßt. Ein zweiter Fluchtversuch der beiden endete kurz vor dem Erreichen der burmesischen Grenze mit dem Tod des Hamburgers. ((Magener, Die Chance war Null, 6)) 1945 brach der deutsche Bergsteiger ''Ludwig Schmaderer'' aus dem Lager aus, gemeinsam mit seinem Kameraden ''Herbert Paidar''. Sie gingen den gleichen Weg wie Harrer, Kopp, Aufschnaiter ein Jahr zuvor und gelangten nach Schipki. Weil Schmaderer sein Geld allzu offen zeigte, folgten ihm vier Bewohner des Ortes, schlugen ihn zusammen und warfen seine Leiche in den Fluß. Ein Tibeter, der dieses Geschehen heimlich beobachtete, brachte das Verbrechen an die Öffentlichkeit. ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 134)) ''Have'' war als Kaufmann in Batavia tätig gewesen, wurde dort von den Holländern interniert und vor der Landung der Japaner auf Java mit den anderen Deutschen aus Indonesien nach Britisch-Indien gebracht. Dabei unternahm er zusammen mit dem Hamburger ''Hans Peter Hülsen'' einen ersten Fluchtversuch, indem sie aus einem fahrenden Zug sprangen. Zunächst erfolgreich, wurden sie dennoch bald gefaßt. Ein zweiter Fluchtversuch der beiden endete kurz vor dem Erreichen der burmesischen Grenze mit dem Tod des Hamburgers. ((Magener, Die Chance war Null, 6)) 1945 brach der deutsche Bergsteiger ''Ludwig Schmaderer'' aus dem Lager aus, gemeinsam mit seinem Kameraden ''Herbert Paidar''. Sie gingen den gleichen Weg wie Harrer, Kopp, Aufschnaiter ein Jahr zuvor und gelangten nach Schipki. Weil Schmaderer sein Geld allzu offen zeigte, folgten ihm vier Bewohner des Ortes, schlugen ihn zusammen und warfen seine Leiche in den Fluß. Ein Tibeter, der dieses Geschehen heimlich beobachtete, brachte das Verbrechen an die Öffentlichkeit. ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 134))
  
-Während einige nach mißlungenen Fluchtversuchen aufgaben (Krämer, Marchese) wollten andere daraus lernen: // „Nun aber hatten wir die Pionierarbeiten geleistet, kannten die Wege und die Lebensbedingungen des Landes und waren ungleich besser in der Lage, Vorbereitungen für eine zweite Flucht zu treffen. ... Zahlreiche Partner boten sich mir an und steigerten die Angebote für meine Führung bis zu 5000 Rupien. Aber am Gelde lag mir nichts. Ich wollte bei meinem nächsten Abenteuer einzig wieder einen sportlich gut durchtrainierten, anständigen Kameraden bei mir wissen.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 95)) Kopps Wahl fällt auf den Mittelstürmer ''Friedel Sattler'', der ihm versprechen muß, sich ernsthaft vorzubereiten. Wieder fängt er an zu organisieren, legt Medikamente auf Seite und läßt sich vom Lagerarzt über deren Anwendung instruieren. Nach und nach wird die Ausrüstung aus dem Lager geschmuggelt und am Tonsfluß versteckt. (( Aufschnaiter erinnerte sich: //„Die Engländer merkten dies zwar und führten Kontrollen durch, doch waren sie - wie bei allen solchen Dingen - niemals hart.“// (Brauen, Peter Aufschnaiter ..., 24) ))+Während einige nach mißlungenen Fluchtversuchen aufgaben (Krämer, Marchese) wollten andere daraus lernen: // „Nun aber hatten wir die Pionierarbeiten geleistet, kannten die Wege und die Lebensbedingungen des Landes und waren ungleich besser in der Lage, Vorbereitungen für eine zweite Flucht zu treffen. ... Zahlreiche Partner boten sich mir an und steigerten die Angebote für meine Führung bis zu 5000 Rupien. Aber am Gelde lag mir nichts. Ich wollte bei meinem nächsten Abenteuer einzig wieder einen sportlich gut durchtrainierten, anständigen Kameraden bei mir wissen.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 95)) Kopps Wahl fällt auf den Mittelstürmer ''Friedel Sattler'', der ihm versprechen muß, sich ernsthaft vorzubereiten. Wieder fängt er an zu organisieren, legt Medikamente auf Seite und läßt sich vom Lagerarzt über deren Anwendung instruieren. Nach und nach wird die [[wiki:ausruestung|Ausrüstung]] aus dem Lager geschmuggelt und am Tonsfluß versteckt. ((Aufschnaiter erinnerte sich: //„Die Engländer merkten dies zwar und führten Kontrollen durch, doch waren sie - wie bei allen solchen Dingen - niemals hart.“// (Brauen, Peter Aufschnaiter ..., 24) ))
  
 ==== Solidarität und Erfolg ==== ==== Solidarität und Erfolg ====
-Als klar wird, daß ein gemeinsamer Ausbruch für alle Vorteile bietet, plant man die Ausbruchsphase gemeinsam.  //„Ungelöst war noch das Problem des Herauskommens aus dem Lager. Die Flucht während eines Spazierganges schalteten wir von vornherein aus. Das hätte einen Parolebruch ((Als „Parole“ wurde eine unterzeichnete Selbstverpflichtung bezeichnet, in der man auf einen Fluchtversuch während eines offiziellen „Lagerurlaubs“ verzichtete.)) bedeutet, und im Falle des Nichtgelingens langjährige Haft oder Zwangsarbeit nach sich gezogen. Zunächst dachten wir daran, in der Nacht zu fliehen. Der Kommandant war für die Bewachung des Lagers nach Sonnenuntergang nicht verantwortlich, nahm daher auch eine nächtliche Flucht nicht besonders tragisch. Floh aber jemand bei Tag, gab es oft monatelang für die Internierten Ausgangsbeschränkungen und andere, fühlbare Vergeltungsmaßnahmen. Ganze Nächte beobachteten wir den Stand der Posten, ihre Gepflogenheiten und Bewegungen, ihre Ablösung und den automatischen Lichtwechsel der Scheinwerferlampen.“// ((Entsprechend der Genfer Konvention drohten jedem Flüchtling nach seiner Ergreifung 28 Tage Einzelhaft. Dieses Risiko ging man ein. Mischte man beim Stuhlgang etwas Tamarindensaft unter, kam man schnell ins Hospital und lag den Rest der Strafe dort ab.)) ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 12))+Als klar wird, daß ein gemeinsamer Ausbruch für alle Vorteile bietet, plant man die Ausbruchsphase gemeinsam.  //„Ungelöst war noch das Problem des Herauskommens aus dem Lager. Die Flucht während eines [[wiki:spaziergang|Spazierganges]] schalteten wir von vornherein aus. Das hätte einen Parolebruch ((Als „Parole“ wurde eine unterzeichnete Selbstverpflichtung bezeichnet, in der man auf einen Fluchtversuch während eines offiziellen „Lagerurlaubs“ verzichtete.)) bedeutet, und im Falle des Nichtgelingens langjährige Haft oder Zwangsarbeit nach sich gezogen. Zunächst dachten wir daran, in der Nacht zu fliehen. Der Kommandant war für die Bewachung des Lagers nach Sonnenuntergang nicht verantwortlich, nahm daher auch eine nächtliche Flucht nicht besonders tragisch. Floh aber jemand bei Tag, gab es oft monatelang für die Internierten Ausgangsbeschränkungen und andere, fühlbare Vergeltungsmaßnahmen. Ganze Nächte beobachteten wir den Stand der Posten, ihre Gepflogenheiten und Bewegungen, ihre Ablösung und den automatischen Lichtwechsel der Scheinwerferlampen.“// ((Entsprechend der Genfer Konvention drohten jedem Flüchtling nach seiner Ergreifung 28 Tage Einzelhaft. Dieses Risiko ging man ein. Mischte man beim Stuhlgang etwas Tamarindensaft unter, kam man schnell ins Hospital und lag den Rest der Strafe dort ab.)) ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 12))
  
-Die Gefangenen durften auf sogenannte Paroleausflüge gehen, wenn sie zuvor einen Zettel unterschrieben, daß sie außerhalb des Lagers mit niemandem sprechen würden, keine Verkehrsmittel verwendeten und keinen Fluchtversuch unternehmen würden. Man respektierte die Fairneß der Engländer und hielt sich an das Abkommen, nutzte jedoch die Ausflüge, um zu trainieren, die Gegend für die ersten Marschtage möglichst gut kennenzulernen, um Ausrüstung herauszuschmuggeln und Depots anzulegen. Ein deutscher Arzt im Lager besorgte Arzneien, ein Handwerker fabrizierte einen langen Dolch aus einer alten Autofeder, ein Pater, der bei den Tibetern missioniert hatte, informierte über Gebräuche und Sprache der Tibeter und zeichnete Karten. ''Aufschnaiter'' und ''Harrer'' besaßen noch die Expeditionsbücher und Karten der Nanga-Parbat-Expedition und nutzten sie zur genauen Planung der Fluchtroute.+Die Gefangenen durften auf sogenannte Paroleausflüge gehen, wenn sie zuvor einen Zettel unterschrieben, daß sie außerhalb des Lagers mit niemandem sprechen würden, keine Verkehrsmittel verwendeten und keinen Fluchtversuch unternehmen würden. Man respektierte die Fairneß der Engländer und hielt sich an das Abkommen, nutzte jedoch die Ausflüge, um zu trainieren, die Gegend für die ersten Marschtage möglichst gut kennenzulernen, um [[wiki:ausruestung|Ausrüstung]] herauszuschmuggeln und Depots anzulegen. Ein deutscher Arzt im Lager besorgte Arzneien, ein Handwerker fabrizierte einen langen Dolch aus einer alten Autofeder, ein Pater, der bei den Tibetern missioniert hatte, informierte über Gebräuche und Sprache der Tibeter und zeichnete Karten. ''Aufschnaiter'' und ''Harrer'' besaßen noch die Expeditionsbücher und Karten der Nanga-Parbat-Expedition und nutzten sie zur genauen Planung der Fluchtroute.
  
 Eine Gruppe bestand aus ''Rolf Magener'' und ''Heins von Have'', eine weitere aus ''Peter Aufschnaiter'' und dem Salzburger ''Bruno Treipel'', die dritte aus ''Hans „Hanne“ Kopp'' und ''Friedel Sattler''; ''Heinrich Harrer'' ging allein. Als Ausbruchszeit legten sie Ende April fest. Sie wollten das Lager als Reparaturkolonne verlassen. Harrer und Kopp schnitten 30 Meter Stacheldraht aus dem Zaun, wickelten ihn auf eine Rolle und stellten sich aus Bambus eine Leiter her. Ein Schneider hatte die Ausbrecher kostümiert: Magener und von Have sprachen ein ausgezeichnetes Oxford-Englisch und wurden als englische Offiziere ausstaffiert. Sie trugen eine Mischung aus entwendeten und selbstgeschneiderten Uniformteilen inklusive Offiziersstöckchen und Blaupausen des Lagers, die anderen gingen als indische Kulis. Je näher der Fluchtzeitpunkt rückte, desto größer wurden die Ängste: // „Was fruchtet jetzt noch grübelndes Abwägen? Von Anfang an stand fest, daß Nachdenken über den Fluchtentschluß in Widersprüche verwickelt. Längst habe ich begriffen, daß zuweilen das Unverständige gerade deshalb getan werden muß, weil es das Vernünftige ist. Der Versuch soll entscheiden. Der entschlossene Versuch. Morgen.“// ((Magener, Die Chance war Null, 19)) Eine Gruppe bestand aus ''Rolf Magener'' und ''Heins von Have'', eine weitere aus ''Peter Aufschnaiter'' und dem Salzburger ''Bruno Treipel'', die dritte aus ''Hans „Hanne“ Kopp'' und ''Friedel Sattler''; ''Heinrich Harrer'' ging allein. Als Ausbruchszeit legten sie Ende April fest. Sie wollten das Lager als Reparaturkolonne verlassen. Harrer und Kopp schnitten 30 Meter Stacheldraht aus dem Zaun, wickelten ihn auf eine Rolle und stellten sich aus Bambus eine Leiter her. Ein Schneider hatte die Ausbrecher kostümiert: Magener und von Have sprachen ein ausgezeichnetes Oxford-Englisch und wurden als englische Offiziere ausstaffiert. Sie trugen eine Mischung aus entwendeten und selbstgeschneiderten Uniformteilen inklusive Offiziersstöckchen und Blaupausen des Lagers, die anderen gingen als indische Kulis. Je näher der Fluchtzeitpunkt rückte, desto größer wurden die Ängste: // „Was fruchtet jetzt noch grübelndes Abwägen? Von Anfang an stand fest, daß Nachdenken über den Fluchtentschluß in Widersprüche verwickelt. Längst habe ich begriffen, daß zuweilen das Unverständige gerade deshalb getan werden muß, weil es das Vernünftige ist. Der Versuch soll entscheiden. Der entschlossene Versuch. Morgen.“// ((Magener, Die Chance war Null, 19))
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 Während der größten Hitze und der Mittagsruhe, gegen zwei Uhr am 29. April 1944, war es soweit. // „Ein letzter Blick in den Spiegel: Ein Inder, wie er leibt und lebt, sah mich an. Eine zerrissene Pyjamahose, ein schmutziges, ölbeflecktes Hemd, ein vorschriftsmäßig gebundener grau-weißer Turban, die Haut mit einer Permanganlösung ((Kaliumpermanganat, ein kristalliner Feststoff, der sich in Wasser violett löst und die Haut bei Kontakt schon in geringen Mengen für einige Tage tiefbraun färbt.)) braungefärbt, das Weiß der Augen durch Augentropfen bläulich getrübt und ein langer Schnurrbart, in langen Spitzen endend - das war meine vorzügliche Tarnung.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 18)) Während der größten Hitze und der Mittagsruhe, gegen zwei Uhr am 29. April 1944, war es soweit. // „Ein letzter Blick in den Spiegel: Ein Inder, wie er leibt und lebt, sah mich an. Eine zerrissene Pyjamahose, ein schmutziges, ölbeflecktes Hemd, ein vorschriftsmäßig gebundener grau-weißer Turban, die Haut mit einer Permanganlösung ((Kaliumpermanganat, ein kristalliner Feststoff, der sich in Wasser violett löst und die Haut bei Kontakt schon in geringen Mengen für einige Tage tiefbraun färbt.)) braungefärbt, das Weiß der Augen durch Augentropfen bläulich getrübt und ein langer Schnurrbart, in langen Spitzen endend - das war meine vorzügliche Tarnung.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 18))
  
-Frech durchschritten zwei englische Offiziere mit fünf indischen Kulis das Lagertor, bepackt mit Leiter und Stacheldraht, Pinsel und Teertöpfen, in denen sich Teile des Gepäcks befanden. Niemand hielt sie auf. Kaum außer Sichtweite, entledigten sie sich der Tarnung und spurteten zu ihrem versteckten Gepäck. Harrer, Magener und von Have trennten sich nach kurzer Zeit. Harrer marschierte allein Richtung Tibet, Rolf Magener und Heins von Have, wollten mit der Bahn zur Burmafront und dann nach Japan. Die vier übrigen wollten gemeinsam nach Tibet: Aufschnaiter (damals bereits über vierzig) und Treipel trailten, dann folgten Kopp und Sattler. Schon auf den ersten Kilometern hatte Sattler Schwierigkeiten, sprach von einem Krampf in den Beinen. // „Trotz meiner vielen Übungsmärsche vom Lager aus fehlten mir Ausdauer und der lange Atem der Bergsteiger.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 27))  Kopp war da anderer Meinung:  //„Wie sich dann später herausstellte, war sein Versagen darauf zurückzuführen, daß er nie genügend trainiert hatte. Während wir mit schwer beladenen Rucksäcken voll Steinen die Berge hinauf- und hinuntergestiegen waren, um uns zu üben, hatte er, an einem Lagerfeuer im Tal sitzend, unseren Anstrengungen zugeschaut.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 102))+Frech durchschritten zwei englische Offiziere mit fünf indischen Kulis das Lagertor, bepackt mit Leiter und Stacheldraht, Pinsel und Teertöpfen, in denen sich Teile des Gepäcks befanden. Niemand hielt sie auf. Kaum außer Sichtweite, entledigten sie sich der Tarnung und spurteten zu ihrem versteckten Gepäck. Harrer, Magener und von Have trennten sich nach kurzer Zeit. Harrer marschierte allein [[wiki:orientierung|Richtung]] Tibet, Rolf Magener und Heins von Have, wollten mit der Bahn zur Burmafront und dann nach Japan. Die vier übrigen wollten gemeinsam nach Tibet: Aufschnaiter (damals bereits über vierzig) und Treipel trailten, dann folgten Kopp und Sattler. Schon auf den ersten Kilometern hatte Sattler Schwierigkeiten, sprach von einem Krampf in den Beinen. // „Trotz meiner vielen Übungsmärsche vom Lager aus fehlten mir Ausdauer und der lange Atem der Bergsteiger.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 27))  Kopp war da anderer Meinung:  //„Wie sich dann später herausstellte, war sein Versagen darauf zurückzuführen, daß er nie genügend trainiert hatte. Während wir mit schwer beladenen [[wiki:rucksack|Rucksack]] voll Steinen die Berge hinauf- und hinuntergestiegen waren, um uns zu üben, hatte er, an einem Lagerfeuer im Tal sitzend, unseren Anstrengungen zugeschaut.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 102))
  
-Sie marschierten nur nachts. In zwei Wochen sollte der Weg zur tibetischen Grenze zurückgelegt werden, der Proviant war genau eingeteilt. Tags wurden Ausrüstung, Schuhe und Kleidung repariert und verbessert oder es wurde geschlafen, immer in der Angst, entdeckt zu werden. Die nächtlichen Märsche boten genug Gefahren: Begegnungen mit Bären, die Entdeckung, daß man sein Lager neben dem Loch einer Kobra aufgeschlagen hat, Stürze im Dunkeln an gefährlichen Hängen, Schluchtüberquerungen an einem Drahtseil hängend, das Durchwaten von Bächen auf glitschigen Felsen - alles im Dunkeln.+Sie marschierten nur nachts. In zwei Wochen sollte der Weg zur tibetischen Grenze zurückgelegt werden, der [[wiki:proviant|Proviant]] war genau eingeteilt. Tags wurden [[wiki:ausruestung|Ausrüstung]], Schuhe und [[wiki:reisekleidung|Kleidung]] repariert und verbessert oder es wurde geschlafen, immer in der Angst, entdeckt zu werden. Die nächtlichen Märsche boten genug Gefahren: Begegnungen mit Bären, die Entdeckung, daß man sein Lager neben dem Loch einer Kobra aufgeschlagen hat, Stürze im Dunkeln an gefährlichen Hängen, Schluchtüberquerungen an einem Drahtseil hängend, das Durchwaten von Bächen auf glitschigen Felsen - alles im Dunkeln.
  
 Dörfer wurden heimlich durchquert: // „Lange vorher lagen wir auf der Lauer und warteten ab, bis der letzte Schein eines Feuers oder einer Laterne verlosch. Bei solchen Gelegenheiten tauschten wir unsere benagelten Bergschuhe gegen leichte Turnschuhe aus und versäumten nie, vorher unsere Feldflaschen zu entleeren, um zu vermeiden, daß das Glucksen des Wassers einen Dorfbewohner aufweckte.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 28)) Dörfer wurden heimlich durchquert: // „Lange vorher lagen wir auf der Lauer und warteten ab, bis der letzte Schein eines Feuers oder einer Laterne verlosch. Bei solchen Gelegenheiten tauschten wir unsere benagelten Bergschuhe gegen leichte Turnschuhe aus und versäumten nie, vorher unsere Feldflaschen zu entleeren, um zu vermeiden, daß das Glucksen des Wassers einen Dorfbewohner aufweckte.“// ((Sattler, Flucht durch den Himalaja ..., 28))
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 ==== In Tibet ==== ==== In Tibet ====
-Am 17. Mai 1944 erreichten die vier Flüchtenden den Grenzpaß Tsangtschok-La (5030 m). Die tibetischen Bevölkerung reagierte überwiegend mit Nichtbeachtung, Abweisung, Aggression. Man wollte sie nicht im Land haben, ergriff aber auch keine Maßnahmen, sie mit Gewalt abzuschieben. Zu hohen Preisen ((Für vier Pfund Zwiebeln zahlen sie fast zwanzig Mark.)) erhielten sie ranzige Butter und madiges Fleisch und erst, als sie versprachen, sich wieder Richtung Indien, nach Schangtse zu wenden, stellte ihnen der Gouverneur von Tsaparang vier Tragesel zur Verfügung und läßt sie ziehen:  „Anfangs wunderten wir uns, daß man uns ohne jede Bewachung, nur in Begleitung eines Eselstreibers, wegziehen ließ. Wir kamen aber bald darauf, daß die in Tibet übliche die einfachste Überwachungsmethode der Welt ist, nämlich den Lebensmittelverkauf an Fremde nur gegen einen Erlaubnisschein zu gestatten.“ ((Harrer, Sieben Jahre in Tibet, 23))  So landeten sie am 9. Juni wieder in Indien, diesmal am Schipki-Paß. Treipl sah sein Ziel, Japan, in immer größere Ferne rücken, hatte genug von Tibet und kehrte freiwillig ins Lager zurück. Aufschnaiter begleitete ihn ein Stück und schlug sich dann wieder nach Tibet durch, während Harrer und Kopp gemeinsam durch ein Seitental Richtung Tibet wanderten.+Am 17. Mai 1944 erreichten die vier Flüchtenden den Grenzpaß Tsangtschok-La (5030 m). Die tibetischen Bevölkerung reagierte überwiegend mit Nichtbeachtung, Abweisung, Aggression. Man wollte sie nicht im Land haben, ergriff aber auch keine Maßnahmen, sie mit Gewalt abzuschieben. Zu hohen Preisen ((Für vier Pfund Zwiebeln zahlen sie fast zwanzig Mark.)) erhielten sie ranzige Butter und madiges Fleisch und erst, als sie versprachen, sich wieder [[wiki:orientierung|Richtung]] Indien, nach Schangtse zu wenden, stellte ihnen der Gouverneur von Tsaparang vier Tragesel zur Verfügung und läßt sie ziehen:  „Anfangs wunderten wir uns, daß man uns ohne jede Bewachung, nur in Begleitung eines Eselstreibers, wegziehen ließ. Wir kamen aber bald darauf, daß die in Tibet übliche die einfachste Überwachungsmethode der Welt ist, nämlich den Lebensmittelverkauf an Fremde nur gegen einen Erlaubnisschein zu gestatten.“ ((Harrer, Sieben Jahre in Tibet, 23))  So landeten sie am 9. Juni wieder in Indien, diesmal am Schipki-Paß. Treipl sah sein Ziel, Japan, in immer größere Ferne rücken, hatte genug von Tibet und kehrte freiwillig ins Lager zurück. Aufschnaiter begleitete ihn ein Stück und schlug sich dann wieder nach Tibet durch, während Harrer und Kopp gemeinsam durch ein Seitental [[wiki:orientierung|Richtung]]Tibet wanderten.
  
 Kopp und Krämer hatten bereits im Vorjahr ähnliche Erfahrungen gemacht. Seit Tagen waren sie schon hungrig marschiert und trafen dann auf Menschen:  „Aber trotz unseres erbärmlichen Aussehens und des Hungers, der uns in den Augen geschrieben stand, ließen sie uns unbeachtet.“ ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 56))  Sie erhielten nicht einen Bissen, doch zeigte man ihnen bereitwillig den Weg zurück nach Indien.((Eine Begründung für dieses scheinbar widersprüchliche Verhalten findet sich bei der Tibet-Reisenden Alexandra David-Néel: //„Die Leute in Tibet sind von Natur aus freundlich und immer bereit, dem Wanderer den Weg zu zeigen; es gilt obendrein auch als verdienstvoll, weil man sich dafür auf Erden und im Jenseits Belohnung verspricht. Reisende irrezuführen hält man dagegen für sehr böse. Das „Bewußtsein“ würde, wenn ein Mensch dieses Unrecht begangen hätte, nach dem Tode und nach der Trennung vom Körper qualvoll im „Bardo“ umherirren und vergebens den Weg zu neuer Wiedergeburt suchen.“// [Mein Weg durch Himmel und Höllen, S. 124] )) Die wochenlange Sorge um Nahrung, das Zwangsfasten und gleichzeitig lange Märsche belasteten nicht nur den Körper, sondern auch die geistige Verfassung. Kopp erinnert sich:  //„Zu reden gab es auch nichts mehr, wo es kaum etwas zu hoffen gab. Nur ein einziges Mal handelten wir zusammen. Das war, als dicht vor uns ein Tier, ich glaube, ein Hamster, vorüberhuschte und unter einem flachen Stein Zuflucht suchte. Wir stürzten zu der Stelle hin, hoben einen mächtigen Steinbrocken auf, schmetterten ihn mehrmals auf die Deckung unserer Beute, rissen das halbzerquetschte Tier aus der Erde und verschlangen gierig das rohe Fleisch. So seltsam das auch in den Ohren derer klingen wird, die nie erfahren haben, wohin der Hunger einen Menschen bringen kann - seit jener blutigen Mahlzeit fürchteten wir einander. Niemals in jenen grauenvollen Tagen marschierte einer vor dem anderen. Es war unerträglich, den „Feind“ im Rücken zu wissen oder ihm durch Voraustritt irgendeine größere Chance einzuräumen. Schweigend taumelten wir nebeneinander her, immer auf der Lauer, das Messer griffbereit. Eine unbekannte Verwirrung bemächtigte sich unserer Gehirne. Das Zeitgefühl war erloschen, der Wahnsinn näher, als wir ahnten, und die Hoffnung auf Rettung ein Phantom.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 57))  Was Wunder, daß Krämer diesmal nicht mehr mitmachen wollte. Kopp und Krämer hatten bereits im Vorjahr ähnliche Erfahrungen gemacht. Seit Tagen waren sie schon hungrig marschiert und trafen dann auf Menschen:  „Aber trotz unseres erbärmlichen Aussehens und des Hungers, der uns in den Augen geschrieben stand, ließen sie uns unbeachtet.“ ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 56))  Sie erhielten nicht einen Bissen, doch zeigte man ihnen bereitwillig den Weg zurück nach Indien.((Eine Begründung für dieses scheinbar widersprüchliche Verhalten findet sich bei der Tibet-Reisenden Alexandra David-Néel: //„Die Leute in Tibet sind von Natur aus freundlich und immer bereit, dem Wanderer den Weg zu zeigen; es gilt obendrein auch als verdienstvoll, weil man sich dafür auf Erden und im Jenseits Belohnung verspricht. Reisende irrezuführen hält man dagegen für sehr böse. Das „Bewußtsein“ würde, wenn ein Mensch dieses Unrecht begangen hätte, nach dem Tode und nach der Trennung vom Körper qualvoll im „Bardo“ umherirren und vergebens den Weg zu neuer Wiedergeburt suchen.“// [Mein Weg durch Himmel und Höllen, S. 124] )) Die wochenlange Sorge um Nahrung, das Zwangsfasten und gleichzeitig lange Märsche belasteten nicht nur den Körper, sondern auch die geistige Verfassung. Kopp erinnert sich:  //„Zu reden gab es auch nichts mehr, wo es kaum etwas zu hoffen gab. Nur ein einziges Mal handelten wir zusammen. Das war, als dicht vor uns ein Tier, ich glaube, ein Hamster, vorüberhuschte und unter einem flachen Stein Zuflucht suchte. Wir stürzten zu der Stelle hin, hoben einen mächtigen Steinbrocken auf, schmetterten ihn mehrmals auf die Deckung unserer Beute, rissen das halbzerquetschte Tier aus der Erde und verschlangen gierig das rohe Fleisch. So seltsam das auch in den Ohren derer klingen wird, die nie erfahren haben, wohin der Hunger einen Menschen bringen kann - seit jener blutigen Mahlzeit fürchteten wir einander. Niemals in jenen grauenvollen Tagen marschierte einer vor dem anderen. Es war unerträglich, den „Feind“ im Rücken zu wissen oder ihm durch Voraustritt irgendeine größere Chance einzuräumen. Schweigend taumelten wir nebeneinander her, immer auf der Lauer, das Messer griffbereit. Eine unbekannte Verwirrung bemächtigte sich unserer Gehirne. Das Zeitgefühl war erloschen, der Wahnsinn näher, als wir ahnten, und die Hoffnung auf Rettung ein Phantom.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 57))  Was Wunder, daß Krämer diesmal nicht mehr mitmachen wollte.
  
 ==== Eine Pille gegen jedes Übel ==== ==== Eine Pille gegen jedes Übel ====
-Kopp und Krämer gaben sich häufig als Ärzte aus, ebenso wie Harrer und Aufschnaiter ein Jahr später. Zur Legitimation genügte der Anblick der mitgebrachten Medikamente und Instrumente. Das Vertrauen der Bevölkerung ließ sich so rasch gewinnen, viele wollten behandelt werden. Sie erhielten kaum Geld, doch Nahrungsmittel und Unterkunft. // „Besonders ein koloriertes anatomisches Bild des menschlichen Körpers erregte gewaltiges Aufsehen. Um einer Verschwendung unserer kostbaren Medizinen zu steuern, hatten wir uns selbst Mittelchen aus einem Mehlbrei bereitet, dem wir durch Atebrin ((Ein von Bayer 1932 entwickelter und früher gegen Malaria verwendeter Farbstoff.)) und Salz Geschmack und mit Permanganat ((Kaliumpermanganat ist in Kristallen erhältlich und kann in verdünnter Lösung zum Desinfizieren verwendet werden. Schon geringste Mengen färben intensiv violett.)) Farbe verliehen. Diesen schönen Brei rollten wir dünn aus und schnitten daraus Tabletten, die vorsichtig an der Sonne getrocknet wurden. Dann füllten wir unsere Wundertabletten in Original-Bayer-Ampullen, damit auch niemand auf den Gedanken kommen könnte, uns für Schwindler zu halten. ... Da wir kein ausgesprochenes Rheumamittel mit uns führten, kamen wir auf den Gedanken, Butter abzukochen und mit Hilfe einer Tablette Prontosil ((Das erste Sulfonamid, ebenfalls von Bayer 1932 hergestellt und antibakteriell wirksam. Als Farbstoff bewirkt es eine gelbrote Haut- und eine dunkelrote Harnfärbung.)) zu tönen. Die fette Soße gossen wir in eine bunte Leukoplastdose und ließen sie dort erstarren. Mit diesem Balsam massierten wir die schmerzenden Glieder kräftig. Der Erfolg war erstaunlich, denn schon nach einigen Behandlungen mit der Wundersalbe fühlten sich die Patienten bedeutend besser und bezahlten uns gern mit Butter-, Zamba- und Weizengaben.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 67f))+Kopp und Krämer gaben sich häufig als Ärzte aus, ebenso wie Harrer und Aufschnaiter ein Jahr später. Zur Legitimation genügte der Anblick der mitgebrachten Medikamente und Instrumente. Das *[[wiki:vertrauen|Vertrauen]] der Bevölkerung ließ sich so rasch gewinnen, viele wollten behandelt werden. Sie erhielten kaum Geld, doch Nahrungsmittel und Unterkunft. // „Besonders ein koloriertes anatomisches Bild des menschlichen Körpers erregte gewaltiges Aufsehen. Um einer Verschwendung unserer kostbaren Medizinen zu steuern, hatten wir uns selbst Mittelchen aus einem Mehlbrei bereitet, dem wir durch Atebrin ((Ein von Bayer 1932 entwickelter und früher gegen Malaria verwendeter Farbstoff.)) und Salz Geschmack und mit Permanganat ((Kaliumpermanganat ist in Kristallen erhältlich und kann in verdünnter Lösung zum Desinfizieren verwendet werden. Schon geringste Mengen färben intensiv violett.)) Farbe verliehen. Diesen schönen Brei rollten wir dünn aus und schnitten daraus Tabletten, die vorsichtig an der Sonne getrocknet wurden. Dann füllten wir unsere Wundertabletten in Original-Bayer-Ampullen, damit auch niemand auf den Gedanken kommen könnte, uns für Schwindler zu halten. ... Da wir kein ausgesprochenes Rheumamittel mit uns führten, kamen wir auf den Gedanken, Butter abzukochen und mit Hilfe einer Tablette Prontosil ((Das erste Sulfonamid, ebenfalls von Bayer 1932 hergestellt und antibakteriell wirksam. Als Farbstoff bewirkt es eine gelbrote Haut- und eine dunkelrote Harnfärbung.)) zu tönen. Die fette Soße gossen wir in eine bunte Leukoplastdose und ließen sie dort erstarren. Mit diesem Balsam massierten wir die schmerzenden Glieder kräftig. Der Erfolg war erstaunlich, denn schon nach einigen Behandlungen mit der Wundersalbe fühlten sich die Patienten bedeutend besser und bezahlten uns gern mit Butter-, Zamba- und Weizengaben.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 67f))
  
 ==== Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt ==== ==== Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt ====
 Am 24. Juni trafen Kopp und Harrer in Tibet wieder auf Aufschnaiter, doch während Kopp sich freute, war Harrer mißmutig und wollte zuerst nicht mit Aufschnaiter zusammen weiterziehen. ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 141)) Harrer dagegen betonte in seinem Buch, daß Aufschnaiter nicht mit ihnen weiterziehen wollte. Und obwohl sich die beiden nicht sehr zugetan sind, werden sie mehrere Jahre mehr oder weniger gemeinsam in Tibet verbringen. Bei Harrer werden Konflikte nicht thematisiert: Wo er im Landschaftlichen schwelgt, beschreibt Kopp Details im Zwischenmenschlichen. Wenn sich Harrer auf ein allgemeines „wir“ zurückzieht, nennt Kopp Namen, legt den Finger auf offene Wunden, auf eigene Unzulänglichkeiten, nennt Disharmonien, Ängste und Mißgeschicke beim Namen. Harrer schönt an diesen Stellen, schweigt oder wird doppeldeutig, überspielt Mißverständnisse und Streit. Während er sagt: //„...Aufschnaiter und Treipel waren etwas zurückgeblieben, Kopp und ich bildeten die Vorhut ...“// ((Harrer, Sieben Jahre in Tibet, 22)), heißt das bei Kopp: // „Leider war es in diesen Tagen dann und wann zu kleinen Mißhelligkeiten gekommen, so daß Harrer, als Aufschnaiter und Treipl am nächsten Morgen mit Kochen und Packen nicht rechtzeitig fertig wurden, sich dafür entschied, nicht länger auf sie zu warten.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 117)) Am 24. Juni trafen Kopp und Harrer in Tibet wieder auf Aufschnaiter, doch während Kopp sich freute, war Harrer mißmutig und wollte zuerst nicht mit Aufschnaiter zusammen weiterziehen. ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 141)) Harrer dagegen betonte in seinem Buch, daß Aufschnaiter nicht mit ihnen weiterziehen wollte. Und obwohl sich die beiden nicht sehr zugetan sind, werden sie mehrere Jahre mehr oder weniger gemeinsam in Tibet verbringen. Bei Harrer werden Konflikte nicht thematisiert: Wo er im Landschaftlichen schwelgt, beschreibt Kopp Details im Zwischenmenschlichen. Wenn sich Harrer auf ein allgemeines „wir“ zurückzieht, nennt Kopp Namen, legt den Finger auf offene Wunden, auf eigene Unzulänglichkeiten, nennt Disharmonien, Ängste und Mißgeschicke beim Namen. Harrer schönt an diesen Stellen, schweigt oder wird doppeldeutig, überspielt Mißverständnisse und Streit. Während er sagt: //„...Aufschnaiter und Treipel waren etwas zurückgeblieben, Kopp und ich bildeten die Vorhut ...“// ((Harrer, Sieben Jahre in Tibet, 22)), heißt das bei Kopp: // „Leider war es in diesen Tagen dann und wann zu kleinen Mißhelligkeiten gekommen, so daß Harrer, als Aufschnaiter und Treipl am nächsten Morgen mit Kochen und Packen nicht rechtzeitig fertig wurden, sich dafür entschied, nicht länger auf sie zu warten.“// ((Kopp, Sechsmal über den Himalaya, 117))
  
-In Gartok erhielten unsere drei Reisenden erstmals einen Reisepaß für Tibet, der die einzelnen Stationen ihrer Reise auswies und für die Ausreise nach Nepal galt. Alle drei schworen, sich daran zu halten und brachen am 13. Juli auf. Mehrere Wochen waren sie nun unterwegs mit ''Norbu'', ihrem tibetischen Begleiter und Aufpasser. Ihr Paß war gültig bis Gyabnak. Im nächsten Ort, in Tradün, wandten sie sich an den örtlichen Bönpo, den höchsten Beamten und handelten um die Erlaubnis, nach Lhasa ziehen zu dürfen. Sie erfuhren weder Ablehnung noch Zusage und durften einen Brief nach Lhasa schreiben, um ihr Anliegen vorzubringen. Sie erhielten eine Unterkunft, reichlich Lebensmittel und eine gewisse Bewegungsfreiheit. Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate. Aufschnaiter hatte mittlerweile fast sein ganzes Geld verbraucht. Er kaufte sich von seinem letzten Geld einige Lastschafe und wollte mit ihnen ins Landesinnere ziehen. Doch schon in der ersten Nacht wurden bis auf eines alle von Wölfen gerissen.+In Gartok erhielten unsere drei Reisenden erstmals einen Reisepaß für Tibet, der die einzelnen Stationen ihrer Reise auswies und für die Ausreise nach Nepal galt. Alle drei schworen, sich daran zu halten und brachen am 13. Juli auf. Mehrere Wochen waren sie nun unterwegs mit ''Norbu'', ihrem tibetischen Begleiter und Aufpasser. Ihr Paß war gültig bis Gyabnak. Im nächsten Ort, in Tradün, wandten sie sich an den örtlichen Bönpo, den höchsten Beamten und handelten um die Erlaubnis, nach Lhasa ziehen zu dürfen. Sie erfuhren weder Ablehnung noch Zusage und durften einen Brief nach Lhasa schreiben, um ihr Anliegen vorzubringen. Sie erhielten eine Unterkunft, reichlich [[wiki:lebensmittel|Lebensmittel]] und eine gewisse [[wiki:reisefreiheit|Bewegungsfreiheit]]. Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate. Aufschnaiter hatte mittlerweile fast sein ganzes Geld verbraucht. Er kaufte sich von seinem letzten Geld einige Lastschafe und wollte mit ihnen ins Landesinnere ziehen. Doch schon in der ersten Nacht wurden bis auf eines alle von Wölfen gerissen.
 Als nach drei Monaten die Antwort eintraf, hatte sich Kopp bereits verabschiedet und war unterwegs nach Nepal. Harrer, der noch über genügend Geld verfügte, blieb mit dem erfahrenen und sprachkundigen Aufschnaiter zurück:   //„Harrer besaß jedoch bedeutend mehr als ich, und er bot mir an, gemeinsam zu wirtschaften. Ein kleines Einkommen hatten wir aus unserer ärztlichen Tätigkeit, wobei es allerdings keine sensationellen Erfolge zu verzeichnen gab.“// ((Brauen, Peter Aufschnaiter. Sein Leben in Tibet, 41)) Als nach drei Monaten die Antwort eintraf, hatte sich Kopp bereits verabschiedet und war unterwegs nach Nepal. Harrer, der noch über genügend Geld verfügte, blieb mit dem erfahrenen und sprachkundigen Aufschnaiter zurück:   //„Harrer besaß jedoch bedeutend mehr als ich, und er bot mir an, gemeinsam zu wirtschaften. Ein kleines Einkommen hatten wir aus unserer ärztlichen Tätigkeit, wobei es allerdings keine sensationellen Erfolge zu verzeichnen gab.“// ((Brauen, Peter Aufschnaiter. Sein Leben in Tibet, 41))
  
 ==== Warten auf die Gunst des Schicksals ==== ==== Warten auf die Gunst des Schicksals ====
-Das Schreiben gab ihnen immerhin die Erlaubnis, noch bis in den Ort Kyirong zu ziehen, nur acht Kilometer von der nepalischen Grenze entfernt. Das nutzten die beiden aus und blieben zehn Monate in Kyirong: //„Einen guten Teil unserer Zeit und Energie verwendeten wir für die Beschaffung von Lebensmitteln zu optimal ausgehandelten Preisen und fürs Kochen. Ich muß sagen, daß ich eine solche Existenz gar nicht so unbefriedigend fand. Wir überlegten uns manchmal, wie wir hier einige Jahre verbringen könnten. Für jemanden, der in einer voll ausgefüllten Arbeit drinsteckt, wäre ein solches Dasein wahrscheinlich unvorstellbar gewesen und wäre als Abstieg angesehen worden, für uns jedoch war es besser, zumindest in dieser Weise zu existieren, statt über kommende Höllen brütend vor sich hinzustieren.“// ((Brauen, Peter Aufschnaiter. Sein Leben in Tibet, 41))+Das Schreiben gab ihnen immerhin die Erlaubnis, noch bis in den Ort Kyirong zu ziehen, nur acht Kilometer von der nepalischen Grenze entfernt. Das nutzten die beiden aus und blieben zehn Monate in Kyirong: //„Einen guten Teil unserer Zeit und Energie verwendeten wir für die Beschaffung von [[wiki:lebensmittel|Lebensmitteln]] zu optimal ausgehandelten Preisen und fürs Kochen. Ich muß sagen, daß ich eine solche Existenz gar nicht so unbefriedigend fand. Wir überlegten uns manchmal, wie wir hier einige Jahre verbringen könnten. Für jemanden, der in einer voll ausgefüllten Arbeit drinsteckt, wäre ein solches Dasein wahrscheinlich unvorstellbar gewesen und wäre als Abstieg angesehen worden, für uns jedoch war es besser, zumindest in dieser Weise zu existieren, statt über kommende Höllen brütend vor sich hinzustieren.“// ((Brauen, Peter Aufschnaiter. Sein Leben in Tibet, 41))
  
 Harrer und Aufschnaiter legten sich während ihrer Zeit in Kyirong ein Depot außerhalb des Ortes an, um für eine eventuelle Flucht im Falle einer plötzlichen Ausweisung gerüstet zu sein, denn sie wollten keinesfalls nach Nepal. Nachts stahlen sie sich, als „Tote“ verkleidet, aus dem Dorf, denn die Einheimischen hatten Angst vor in der Nacht umherirrenden Gespenstern, und ergänzten ihr Depot. Harrer und Aufschnaiter legten sich während ihrer Zeit in Kyirong ein Depot außerhalb des Ortes an, um für eine eventuelle Flucht im Falle einer plötzlichen Ausweisung gerüstet zu sein, denn sie wollten keinesfalls nach Nepal. Nachts stahlen sie sich, als „Tote“ verkleidet, aus dem Dorf, denn die Einheimischen hatten Angst vor in der Nacht umherirrenden Gespenstern, und ergänzten ihr Depot.
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 ==== In Lhasa ==== ==== In Lhasa ====
-Nach zehn Monaten wurden Harrer und Aufschnaiter in Kyirong zur Weiterreise gedrängt; illegal brachen sie Richtung Lhasa auf. Sie erreichten Lhasa erst zwei Jahre nach ihrem Ausbruch aus dem Lager. 65 Pässe zwischen 5000 und 6000 Metern Höhe hatten sie in dieser Zeit überquert. Die eigentliche Reise und Flucht war damit abgeschlossen, denn in Tibet verbrachten Aufschnaiter und Harrer die nächsten Jahre und betrachten es als zweite Heimat.+Nach zehn Monaten wurden Harrer und Aufschnaiter in Kyirong zur Weiterreise gedrängt; illegal brachen sie [[wiki:orientierung|Richtung]] Lhasa auf. Sie erreichten Lhasa erst zwei Jahre nach ihrem Ausbruch aus dem Lager. 65 Pässe zwischen 5000 und 6000 Metern Höhe hatten sie in dieser Zeit überquert. Die eigentliche Reise und Flucht war damit abgeschlossen, denn in Tibet verbrachten Aufschnaiter und Harrer die nächsten Jahre und betrachten es als zweite Heimat.
  
 ==== Die Flucht nach Burma ==== ==== Die Flucht nach Burma ====
-''Magener'' und ''Have'' setzten auf Bluff und Menschenkenntnis statt auf Kondition und Ausdauer. Sie wollten, nachdem sich die ersten Aufregungen infolge ihrer Flucht gelegt hatten, als Engländer auftreten und die offiziellen Verkehrsmittel benutzen. Sie wirkten britisch, trugen Militär-Khaki, beherrschten die Sprache vorzüglich und hatten sich Soldbücher von zwei Soldaten gestohlen und präpariert. Aus englischen Gesellschaftsblättern hatten sie sich eine Legende zusammengebastelt, Namen von Truppenteilen und Offizieren auswendig gelernt. Sechs Tage versteckten sie sich in den Bergen und wagten sich dann zurück in die Ebene. 2.300 Kilometer lagen vor ihnen bis nach Burma. +''Magener'' und ''Have'' setzten auf Bluff und Menschenkenntnis statt auf Kondition und Ausdauer. Sie wollten, nachdem sich die ersten Aufregungen infolge ihrer Flucht gelegt hatten, als Engländer auftreten und die offiziellen Verkehrsmittel benutzen. Sie wirkten britisch, trugen Militär-[[wiki:khaki|Khaki]], beherrschten die Sprache vorzüglich und hatten sich Soldbücher von zwei Soldaten gestohlen und präpariert. Aus englischen Gesellschaftsblättern hatten sie sich eine Legende zusammengebastelt, Namen von Truppenteilen und Offizieren auswendig gelernt. Sechs Tage versteckten sie sich in den Bergen und wagten sich dann zurück in die Ebene. 2.300 Kilometer lagen vor ihnen bis nach Burma. 
-Sie unterhielten sich ständig nur auf englisch, um gar nicht erst in einer zweiten Sprache zu denken. An ihrer Militär-Khaki-Kleidung hatten sie keine Rangabzeichen. Sie rechneten einfach damit, daß jeder annahm, sie seien vom Militär. Andererseits hätte diese Kleidung aber auch jeder Zivilist tragen können. Ebenso hielten sie es mit ihren gestohlenen Papieren: Sie würden sie gegenüber Zivilpersonen benutzen, nicht aber bei Kontrollen durch die Militärpolizei, um nach einer eventuellen Gefangennnahme nicht zusätzliche Strafen für die Benutzung militärischer Abzeichen und Papiere zu erhalten.+Sie unterhielten sich ständig nur auf englisch, um gar nicht erst in einer zweiten Sprache zu denken. An ihrer Militär-[[wiki:khaki|Khaki]]-[[wiki:reisekleidung|Kleidung]] hatten sie keine Rangabzeichen. Sie rechneten einfach damit, daß jeder annahm, sie seien vom Militär. Andererseits hätte diese Kleidung aber auch jeder Zivilist tragen können. Ebenso hielten sie es mit ihren gestohlenen Papieren: Sie würden sie gegenüber Zivilpersonen benutzen, nicht aber bei Kontrollen durch die Militärpolizei, um nach einer eventuellen Gefangennnahme nicht zusätzliche Strafen für die Benutzung militärischer Abzeichen und Papiere zu erhalten.
  
 Diese Methode funktionierte gut: mit dem Bus nach Saharanpur, mit dem Zug über Lucknow nach Kalkutta, auf der Straße, in Restaurants und Bahnhofshallen nirgends fielen sie auf. Mit Glück rutschten sie durch eine stichprobenartige Kontrolle der Militärpolizei. Problematisch war allerdings die Übernachtung in der Großstadt: Die großen Hotels waren für Militärs reserviert; diese zu benutzen, fehlten ihnen die geeigneten Papiere. Die Hotels der Einheimischen wurden besonders intensiv von der Polizei kontrolliert, kamen also auch nicht in Frage. Schließlich landeten sie im YMCA, das zwar auch nur Inder beherbergte, aber keine Papiere verlangte. Mit dem Zug ging es weiter nach Goalanda Chat, dann mit dem Schiff nach Chandpur, alles ohne eine Kontrolle. Die erfolgte erst beim Verlassen des Schiffes: Alle Militärpersonen sollten an Bord bleiben. Have und Magener gehen selbstsicher auf die Militärpolizei zu und überzeugten diese durch Vorzeigen ihrer Zivilfahrkarten, daß sie nicht zum Militär gehörten: // „Das war wieder so ein Streich nach Haves Geschmack. Er konnte dem Reiz der Lage nicht widerstehen ... Furchtlos, und ohne Nerven, mit einem unfehlbaren Instinkt für das gerade noch Mögliche, stand er immer über der Situation. Niemals habe ich ihn aufgeregt gesehen ... Hinterher sahen seine Abenteuer immer so aus, als habe er sie vorher genau durchkalkuliert.“// ((Magener, Die Chance war Null, 59)) Diese Methode funktionierte gut: mit dem Bus nach Saharanpur, mit dem Zug über Lucknow nach Kalkutta, auf der Straße, in Restaurants und Bahnhofshallen nirgends fielen sie auf. Mit Glück rutschten sie durch eine stichprobenartige Kontrolle der Militärpolizei. Problematisch war allerdings die Übernachtung in der Großstadt: Die großen Hotels waren für Militärs reserviert; diese zu benutzen, fehlten ihnen die geeigneten Papiere. Die Hotels der Einheimischen wurden besonders intensiv von der Polizei kontrolliert, kamen also auch nicht in Frage. Schließlich landeten sie im YMCA, das zwar auch nur Inder beherbergte, aber keine Papiere verlangte. Mit dem Zug ging es weiter nach Goalanda Chat, dann mit dem Schiff nach Chandpur, alles ohne eine Kontrolle. Die erfolgte erst beim Verlassen des Schiffes: Alle Militärpersonen sollten an Bord bleiben. Have und Magener gehen selbstsicher auf die Militärpolizei zu und überzeugten diese durch Vorzeigen ihrer Zivilfahrkarten, daß sie nicht zum Militär gehörten: // „Das war wieder so ein Streich nach Haves Geschmack. Er konnte dem Reiz der Lage nicht widerstehen ... Furchtlos, und ohne Nerven, mit einem unfehlbaren Instinkt für das gerade noch Mögliche, stand er immer über der Situation. Niemals habe ich ihn aufgeregt gesehen ... Hinterher sahen seine Abenteuer immer so aus, als habe er sie vorher genau durchkalkuliert.“// ((Magener, Die Chance war Null, 59))
  
-Nun stiegen sie um auf die Bahn nach Chittagong, mieteten dort einen einheimischen Führer, der sie auf seinem Sampan bis Cox' Bazar ruderte, drei Tage und Nächte versteckt unter dessen Palmendach. Von dort schlugen sie sich nur noch des nachts durch, auf und neben den Straßen durch den Dschungel. Mehrmals liefen sie in den dunklen Nächten in Militärlager, durchquerten sie aber ohne aufzufallen. Immer wieder fanden sie sich in den gefährlichsten Lagen, vertrauten auf ihre Intuition, handelten, ohne zu planen, verließen sich auf ihr Gefühl. Zu vieles geschah zu plötzlich: Da wurden sie in der Nacht mehrfach mit einem „Stop“ angerufen, hörten das Klicken der Gewehrsicherung in ihrem Rücken und gingen dennoch weiter - niemand schoß, niemand kam ihnen nach. Einen anderen Posten, der es wagte, sie nach ihren Papieren zu fragen, schüchterten sie dermaßen ein, daß der nur noch Entschuldigungen stammeln konnte. Dann wollten sie einen Ghurka-Posten umgehen, indem sie einen Hügel erkletterten. In der Mitte des Hangs lösten sich einige Felsbrocken unter ihren Füßen, der Posten guckte nach oben, die beiden winkten kräftig mit ihren Tropenhelmen, der Posten grüßte zurück und alle waren zufrieden.+Nun stiegen sie um auf die Bahn nach Chittagong, mieteten dort einen einheimischen Führer, der sie auf seinem Sampan bis Cox' Bazar ruderte, drei Tage und Nächte versteckt unter dessen Palmendach. Von dort schlugen sie sich nur noch des nachts durch, auf und neben den Straßen durch den Dschungel. Mehrmals liefen sie in den dunklen Nächten in Militärlager, durchquerten sie aber ohne aufzufallen. Immer wieder fanden sie sich in den gefährlichsten Lagen, vertrauten auf ihre Intuition, handelten, ohne zu planen, verließen sich auf ihr Gefühl. Zu vieles geschah zu plötzlich: Da wurden sie in der Nacht mehrfach mit einem „Stop“ angerufen, hörten das Klicken der Gewehrsicherung in ihrem Rücken und gingen dennoch weiter - niemand schoß, niemand kam ihnen nach. Einen anderen Posten, der es wagte, sie nach ihren Papieren zu fragen, schüchterten sie dermaßen ein, daß der nur noch Entschuldigungen stammeln konnte. Dann wollten sie einen Ghurka-Posten umgehen, indem sie einen Hügel erkletterten. In der Mitte des Hangs lösten sich einige Felsbrocken unter ihren Füßen, der Posten guckte nach oben, die beiden winkten kräftig mit ihren [[wiki:tropenhelm|Tropenhelmen]], der Posten grüßte zurück und alle waren zufrieden.
  
 //„Das Ungewisse, das Unbekannte war zu unserem eigentlichen Lebenselement geworden. Nirgends fanden wir sicheren Halt, nirgends eine verläßliche Größe, mit der wir rechnen konnte. Nur selten wußten wir genau, wo wir waren, und selbst dann, wenn wir eine bestimmte Örtlichkeit ausgemacht hatten, blieb uns unsere Lage in bezug auf unser Endziel unklar, denn wo dieses sich befand, konnten wir ja noch gar nicht angeben. ... Die Ereignisse waren auf wenige atemraubende Augenblicke zusammengedrängt, auf allerkleinste Zeiteinheiten, zwischen denen lange, qualvolle Pausen, große, leere Zwischenräume lagen. ... Jeder Augenblick konnte den ganzen Mann erfordern. Mit dieser Umstellung ging auch die Führung vom Verstand auf den Instinkt über; wir überließen uns unbewußten Reaktionen und Reflexbewegungen. Weil ununterbrochen neue Ereignisse auf uns einstürmten, wären wir ihnen alsbald nicht gewachsen gewesen, hätte nicht unsere eigene Natur durch einen Entlastungsmechanismus Abhilfe geschaffen. Er bestand einmal darin, daß das soeben Erlebte weit in die Vergangenheit zurückgestoßen wurde, beklemmende Eindrücke also ihre lähmende Nachwirkung verloren. ... Wir waren noch keine zwanzig Schritt an den Straßenposten vorbei, da waren sie schon aus dem Sinn und vergessen. Und zum anderen wurden wir gegen Gefahren zusehends unempfindlicher; immer gefährlichere Begebenheiten kamen uns harmlos vor ...“// ((Magener, Die Chance war Null, 73f.)) //„Das Ungewisse, das Unbekannte war zu unserem eigentlichen Lebenselement geworden. Nirgends fanden wir sicheren Halt, nirgends eine verläßliche Größe, mit der wir rechnen konnte. Nur selten wußten wir genau, wo wir waren, und selbst dann, wenn wir eine bestimmte Örtlichkeit ausgemacht hatten, blieb uns unsere Lage in bezug auf unser Endziel unklar, denn wo dieses sich befand, konnten wir ja noch gar nicht angeben. ... Die Ereignisse waren auf wenige atemraubende Augenblicke zusammengedrängt, auf allerkleinste Zeiteinheiten, zwischen denen lange, qualvolle Pausen, große, leere Zwischenräume lagen. ... Jeder Augenblick konnte den ganzen Mann erfordern. Mit dieser Umstellung ging auch die Führung vom Verstand auf den Instinkt über; wir überließen uns unbewußten Reaktionen und Reflexbewegungen. Weil ununterbrochen neue Ereignisse auf uns einstürmten, wären wir ihnen alsbald nicht gewachsen gewesen, hätte nicht unsere eigene Natur durch einen Entlastungsmechanismus Abhilfe geschaffen. Er bestand einmal darin, daß das soeben Erlebte weit in die Vergangenheit zurückgestoßen wurde, beklemmende Eindrücke also ihre lähmende Nachwirkung verloren. ... Wir waren noch keine zwanzig Schritt an den Straßenposten vorbei, da waren sie schon aus dem Sinn und vergessen. Und zum anderen wurden wir gegen Gefahren zusehends unempfindlicher; immer gefährlichere Begebenheiten kamen uns harmlos vor ...“// ((Magener, Die Chance war Null, 73f.))
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 ''August Hauer'' ((August Hauer: Kumbuke. Berlin 1943 7.A.)) war Arzt und Leiter des Schlafkrankheitsbezirkes Nianza am Tanganjikasee. Im Juli 1914 begann er eine Rundreise durch seinen Distrikt; am 4. August brachte ihm ein Bote den Brief mit der Nachricht der Kriegserklärung zwischen Deutschland und Rußland. Der Einberufungsbefehl zur 9. Feldkompagnie in Usambara wartete bereits in Gitega. Dort traf er auch auf den aus dem Kongo kommenden „Abenteurer und Elefantenjäger“, den Deutsch-Amerikaner ''Kramer''.\\  ''August Hauer'' ((August Hauer: Kumbuke. Berlin 1943 7.A.)) war Arzt und Leiter des Schlafkrankheitsbezirkes Nianza am Tanganjikasee. Im Juli 1914 begann er eine Rundreise durch seinen Distrikt; am 4. August brachte ihm ein Bote den Brief mit der Nachricht der Kriegserklärung zwischen Deutschland und Rußland. Der Einberufungsbefehl zur 9. Feldkompagnie in Usambara wartete bereits in Gitega. Dort traf er auch auf den aus dem Kongo kommenden „Abenteurer und Elefantenjäger“, den Deutsch-Amerikaner ''Kramer''.\\ 
 Bis Mitte 1917 war Hauer in den Kampfgebieten Ostafrikas eingesetzt, dann wurde er gefangengenommen und Ende November in das Gefangenenlager in Lindi gebracht. Ein Hospitalschiff brachte ihn nach siebenwöchigem Typhusleiden und abgemagert auf 45 Kilo nach Indien und dort über Karachi ins Gefangenenlager von Ahmednagar, einem der gesündesten, wenngleich äußerst heißen Plätze Südindiens. Hier waren nicht nur die deutschen Soldaten aus Ostafrika, sondern auch Zivildeutsche aus Siam und China interniert. Schon bald sah er, wie eine Gruppe Ausbrecher zurückgebracht wurde, die ein altes, den Engländern unbekanntes Kanalsystem zur Flucht benutzt hatten, sich aber durch ungeschicktes Verhalten nach etwa zehn Tagen in der Freiheit verraten hatten.\\  Bis Mitte 1917 war Hauer in den Kampfgebieten Ostafrikas eingesetzt, dann wurde er gefangengenommen und Ende November in das Gefangenenlager in Lindi gebracht. Ein Hospitalschiff brachte ihn nach siebenwöchigem Typhusleiden und abgemagert auf 45 Kilo nach Indien und dort über Karachi ins Gefangenenlager von Ahmednagar, einem der gesündesten, wenngleich äußerst heißen Plätze Südindiens. Hier waren nicht nur die deutschen Soldaten aus Ostafrika, sondern auch Zivildeutsche aus Siam und China interniert. Schon bald sah er, wie eine Gruppe Ausbrecher zurückgebracht wurde, die ein altes, den Engländern unbekanntes Kanalsystem zur Flucht benutzt hatten, sich aber durch ungeschicktes Verhalten nach etwa zehn Tagen in der Freiheit verraten hatten.\\ 
-Außerdem berichtet er von einer weiteren Flucht, die auch Heye erwähnt: // „Eines Morgens fehlte jener schlagfertige Leipziger. In einem Brief, der jedem Melancholiker Ehre gemacht hätte, teilte er dem Kommandanten mit, daß die Quälereien des `schwarzen Peter´ ... ihn zum Selbstmord getrieben hätten. Während nun tagelang Busch und Höhlen vergebens durchsucht wurden, saß Herr Hahn zuversichtlich in der Bahn. Bei der Ankunft in Madras ... ward er der Polizei nur dadurch verdächtig, daß er das wenigste Gepäck von allen Reisenden trug.“// ((Hauer, Kumbuke, 311))+Außerdem berichtet er von einer weiteren Flucht, die auch Heye erwähnt: // „Eines Morgens fehlte jener schlagfertige Leipziger. In einem Brief, der jedem Melancholiker [[wiki:ehre|Ehre]] gemacht hätte, teilte er dem Kommandanten mit, daß die Quälereien des `schwarzen Peter´ ... ihn zum Selbstmord getrieben hätten. Während nun tagelang Busch und Höhlen vergebens durchsucht wurden, saß Herr Hahn zuversichtlich in der Bahn. Bei der Ankunft in Madras ... ward er der Polizei nur dadurch verdächtig, daß er das wenigste Gepäck von allen Reisenden trug.“// ((Hauer, Kumbuke, 311))
  
 Bei Heye heißt der Flüchtige allerdings ''Blum'' und die Flucht fand aus Ramandrugh statt, im übrigen gleichen sich die Angaben. Heye traf Blum später nochmals in Deutschland und gibt zahlreiche Details an, so z. B., das Blum zu vier Jahren Militärgefängnis in Poona verurteilt wurde, diese jedoch nicht abzusitzen brauchte und zusammen mit allen anderen Anfang 1920 nach Deutschland überführt wurde. Am 30. Dezember 1919 wurden die internierten Deutschen zurück nach Deutschland geschickt. Bei Heye heißt der Flüchtige allerdings ''Blum'' und die Flucht fand aus Ramandrugh statt, im übrigen gleichen sich die Angaben. Heye traf Blum später nochmals in Deutschland und gibt zahlreiche Details an, so z. B., das Blum zu vier Jahren Militärgefängnis in Poona verurteilt wurde, diese jedoch nicht abzusitzen brauchte und zusammen mit allen anderen Anfang 1920 nach Deutschland überführt wurde. Am 30. Dezember 1919 wurden die internierten Deutschen zurück nach Deutschland geschickt.
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 ''Werner-Otto von Hentig'' ist von 1915 bis 1917 in geheimer Mission nach Afghanistan unterwegs, das damals, zwischen den Einflußsphären der Kriegsgegner Rußland und England liegend, geopolitisch wichtig wurde. Seine besondere Aufgabe war es, den Herrscher von Afghanistan zu besuchen und ihn den deutschen Interessen gewogen zu machen. Dabei war Hentig auf sich allein gestellt; seine Expedition wurde jedoch mit 250.000 Reichsmark unterstützt, von denen er letztlich in 26 Monaten 100.000 Mark ausgab und die Hinreise von zwanzig sowie die Rückreise von sechs Personen finanzierte. Nur zwei, allerdings landes- und sprachkundige Europäer nahm er von Berlin mit: den Arzt ''Dr. Becker'', Mitglied des Garde-Jäger-Bataillons, und ''Walter Röhr'', einen Magdeburger Kaufmann, der schon seit seinem siebzehnten Lebensjahr in Persien lebte. Sechs //Afridis//, Krieger von der indischen Nordgrenze, sorgten für den Schutz der Truppe, außerdem kamen einige Inder mit, darunter ein Prinz. Außerdem stoßen in Persien die Teilnehmer einer zweiten Expedition zu ihnen: sechs österreichische Offiziere sowie der deutsche Offizier ''Niedermayer'' und der Südwestafrikaner ''Wilhelm Paschen'', schließlich einige weitere Deutsche ((Später werden noch erwähnt: ''Hans Jakob'' und der Steiermärker Zugführer ''Jandl''.)), Perser und Ungarn.\\  ''Werner-Otto von Hentig'' ist von 1915 bis 1917 in geheimer Mission nach Afghanistan unterwegs, das damals, zwischen den Einflußsphären der Kriegsgegner Rußland und England liegend, geopolitisch wichtig wurde. Seine besondere Aufgabe war es, den Herrscher von Afghanistan zu besuchen und ihn den deutschen Interessen gewogen zu machen. Dabei war Hentig auf sich allein gestellt; seine Expedition wurde jedoch mit 250.000 Reichsmark unterstützt, von denen er letztlich in 26 Monaten 100.000 Mark ausgab und die Hinreise von zwanzig sowie die Rückreise von sechs Personen finanzierte. Nur zwei, allerdings landes- und sprachkundige Europäer nahm er von Berlin mit: den Arzt ''Dr. Becker'', Mitglied des Garde-Jäger-Bataillons, und ''Walter Röhr'', einen Magdeburger Kaufmann, der schon seit seinem siebzehnten Lebensjahr in Persien lebte. Sechs //Afridis//, Krieger von der indischen Nordgrenze, sorgten für den Schutz der Truppe, außerdem kamen einige Inder mit, darunter ein Prinz. Außerdem stoßen in Persien die Teilnehmer einer zweiten Expedition zu ihnen: sechs österreichische Offiziere sowie der deutsche Offizier ''Niedermayer'' und der Südwestafrikaner ''Wilhelm Paschen'', schließlich einige weitere Deutsche ((Später werden noch erwähnt: ''Hans Jakob'' und der Steiermärker Zugführer ''Jandl''.)), Perser und Ungarn.\\ 
-Getrennt reisen die Expeditionsteilnehmer am 14. April 1915 von Berlin über Wien und durch Rumänien nach Konstantinopel, dann mit der Bahn durch die Türkei, schließlich auf Booten nach Bagdad. Hentig beschreibt die aufreibende Organisation der Fahrt: //„Zum Transport unsres Gepäcks hätten wir mindestens 150 Tiere, für Wacht- und Treiberpersonal wie für das Futter weitere hundert Tiere gebraucht. Die Kosten hätten sich auf annähernd zehntausend Mark belaufen. Statt dessen schaffte es der Euphrat in weniger als einem Drittel der Zeit und für etwa ein Zehntel der Kosten ... bis zur alten Kaiserstadt Bagdad hinunter.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 32))\\  +Getrennt reisen die Expeditionsteilnehmer am 14. April 1915 von Berlin über Wien und durch Rumänien nach Konstantinopel, dann mit der Bahn durch die Türkei, schließlich auf Booten nach Bagdad. Hentig beschreibt die aufreibende Organisation der [[wiki:fahrt|Fahrt]]: //„Zum Transport unsres Gepäcks hätten wir mindestens 150 Tiere, für Wacht- und Treiberpersonal wie für das Futter weitere hundert Tiere gebraucht. Die Kosten hätten sich auf annähernd zehntausend Mark belaufen. Statt dessen schaffte es der Euphrat in weniger als einem Drittel der Zeit und für etwa ein Zehntel der Kosten ... bis zur alten Kaiserstadt Bagdad hinunter.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 32))\\  
-Am 1. Juni 1915 brechen sie erneut auf, ab nun begleitet von Spionen, denn sie befinden sich bereits im englischen Einfluß, nicht aber in deren Machtbereich. Mit Maultieren, Eseln, Pferden und Kamelen ziehen sie durch Persien, getrenntt, in drei Gruppen, meist auf den schwierigsten Strecken, meist durch die trockensten Wüstengegenden, da sie sich zwischen russischen und englischen Einflußsphären möglichst ungesehen hindurchschlängeln müssen. Ein Kamel kostete 2,40 Mark pro Tag, an Verpflegung nochmals 3,20 Mark, während die Menschen bereits mit 1,60 Mark verpflegt wurden. Problemlos war die Strecke von Kirmanschah nach Teheran und Isfahan, schwierig wurden die Wüstenstrecken über Najin nach Tebbes, der heißesten Stadt der Welt, wo sie am 23. Juni ((Auf Seite 56 wird der 23. Juli genannt. Das kann jedoch nicht sein, da sie vier Wochen später, am 22. Juli, die afghanische Grenze überschreiten (S. 72). Vermutlich handelt es sich um einen Übertragungsfehler.)) ankommen: Einen Monat lang sind sie täglich etwa sechzig Kilometer marschiert, bei sommerlicher Wüstenhitze und all den Problemen, die die Organisation einer so großen Gruppe mit sich bringt. Ohne direkte Feindberührung, jedoch oft in Hör- und Sichtweite feindlicher Patrouillen erreichen sie schließlich Afghanistan bei Doroschk und Tacht-i-Wun am 22. Juni 1915, erreichen Kabul aber erst Ende September. Zehn Monate bleiben sie in Afghanistan als Gast des Emirs und obwohl sie eine recht große Freiheit genießen, gelten sie aus Rücksicht auf die Engländer als Gefangene. In dieser Zeit geht Hentig seiner politischen und nicht näher beschriebenen Aufgabe nach, die im Wesentlichen nur darin bestehen kann, freundschaftliche Beziehungen zu fördern. Nach Abschluß seiner Tätigkeit machten sich Niedermayer und er auf den Rückweg, jedoch in östlicher Richtung und auf getrennten Wegen, vermutlich aus taktischen Erwägungen. Die üblichen Karawanenstraßen wurden von Engländern und Russen kontrolliert, so daß ''Hentig'' zusammen mit ''Röhr'', dem Ungarn ''Jossip'', dem Perser ''Afgher'' und dem Inder ''Seyed Achmed'' eine Route durch den Pamir wählte, durch das nicht deutlich abgegrenzte Land zwischen Rußland und Indien, das so gut wie unvermessen war, kaum Namen trug und daher Sicherheit bot. Am 21. Mai 1916 begann die Reise nach Osten. Hin und wieder begleiteten einheimische Führer die Gruppe, sonst richtete sich von Hentig nach einer Karte im Maßstab 1 zu 7,5 Millionen. Mehrfach von russischen Truppen verfolgt erreichen sie nach mörderischen Strapazen ihr Ziel Yarkent im chinesischen Turkestan. Damit war zwar nur relative Sicherheit erreicht - die Russen hatten auch dort noch einen großen Einfluß und überschritten oft die Grenze - doch mußten sie weitere hundertdreißig Tage durch Wüsten marschieren, zehn, zwölf Stunden täglich: // „Von all der Mühsal, wie jeder einzelne dieser Tage sie brachte, kann ich heute noch nicht reden. So viele dumpfe Gedanken, wie sie dabei in ununterbrochener Wiederholung des Gehirns sich bemächtigen, soll man anderen nicht vortragen wollen. Und dann - ich würde daran verzweifeln, einen hinreichenden Begriff von einhundertdreißigmal zehn- bis zwölfstündigen Märschen geben zu können. Acht Tage schreitet man ja, von Hitze und Kälte getrieben, freudig fürbaß. Vier Wochen kann man es, mit einem Ziel vor Augen, noch gut aushalten. Selbst zwei Monate wären noch keine Leistung. Aber dann auch noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt zu haben, täglich weiter mit wunden Füßen, zerrissenen Händen, klaffenden Sohlen, verschlissenen Kleidern, ohne etwas Rechtes im Magen, marschieren und frieren, frieren und wieder marschieren zu müssen, auch des nachts keine Ruhe zu finden und nur immer mit wunder Seele an einer ungelösten Rechnung zu rechnen, das darf man nicht vorher schon einmal durchgemacht haben, wenn man der sprungbereiten, gierig lauernden Verzweiflung entgehen will.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 147 f.))\\  +Am 1. Juni 1915 brechen sie erneut auf, ab nun begleitet von Spionen, denn sie befinden sich bereits im englischen Einfluß, nicht aber in deren Machtbereich. Mit Maultieren, Eseln, Pferden und Kamelen ziehen sie durch Persien, getrenntt, in drei Gruppen, meist auf den schwierigsten Strecken, meist durch die trockensten Wüstengegenden, da sie sich zwischen russischen und englischen Einflußsphären möglichst ungesehen hindurchschlängeln müssen. Ein Kamel kostete 2,40 Mark pro Tag, an Verpflegung nochmals 3,20 Mark, während die Menschen bereits mit 1,60 Mark verpflegt wurden. Problemlos war die Strecke von Kirmanschah nach Teheran und Isfahan, schwierig wurden die Wüstenstrecken über Najin nach Tebbes, der heißesten Stadt der Welt, wo sie am 23. Juni ((Auf Seite 56 wird der 23. Juli genannt. Das kann jedoch nicht sein, da sie vier Wochen später, am 22. Juli, die afghanische Grenze überschreiten (S. 72). Vermutlich handelt es sich um einen Übertragungsfehler.)) ankommen: Einen Monat lang sind sie täglich etwa sechzig Kilometer marschiert, bei sommerlicher Wüstenhitze und all den Problemen, die die Organisation einer so großen Gruppe mit sich bringt. Ohne direkte Feindberührung, jedoch oft in Hör- und Sichtweite feindlicher Patrouillen erreichen sie schließlich Afghanistan bei //Doroschk// und //Tacht-i-Wun// am 22. Juni 1915, erreichen Kabul aber erst Ende September. Zehn Monate bleiben sie in Afghanistan als [[wiki:gast|Gast]] des Emirs und obwohl sie eine recht große Freiheit genießen, gelten sie aus Rücksicht auf die Engländer als Gefangene. In dieser Zeit geht Hentig seiner politischen und nicht näher beschriebenen Aufgabe nach, die im Wesentlichen nur darin bestehen kann, freundschaftliche Beziehungen zu fördern. Nach Abschluß seiner Tätigkeit machten sich Niedermayer und er auf den Rückweg, jedoch in östlicher [[wiki:orientierung|Richtung]] und auf getrennten Wegen, vermutlich aus taktischen Erwägungen. Die üblichen Karawanenstraßen wurden von Engländern und Russen kontrolliert, so daß ''Hentig'' zusammen mit ''Röhr'', dem Ungarn ''Jossip'', dem Perser ''Afgher'' und dem Inder ''Seyed Achmed'' eine Route durch den Pamir wählte, durch das nicht deutlich abgegrenzte Land zwischen Rußland und Indien, das so gut wie unvermessen war, kaum Namen trug und daher [[wiki:sicherheit|Sicherheit]] bot. Am 21. Mai 1916 begann die Reise nach Osten. Hin und wieder begleiteten einheimische Führer die Gruppe, sonst richtete sich von Hentig nach einer Karte im Maßstab 1 zu 7,5 Millionen. Mehrfach von russischen Truppen verfolgt erreichen sie nach mörderischen Strapazen ihr Ziel Yarkent im chinesischen Turkestan. Damit war zwar nur relative Sicherheit erreicht - die Russen hatten auch dort noch einen großen Einfluß und überschritten oft die Grenze - doch mußten sie weitere hundertdreißig Tage durch Wüsten marschieren, zehn, zwölf Stunden täglich: // „Von all der Mühsal, wie jeder einzelne dieser Tage sie brachte, kann ich heute noch nicht reden. So viele dumpfe Gedanken, wie sie dabei in ununterbrochener Wiederholung des Gehirns sich bemächtigen, soll man anderen nicht vortragen wollen. Und dann - ich würde daran verzweifeln, einen hinreichenden Begriff von einhundertdreißigmal zehn- bis zwölfstündigen Märschen geben zu können. Acht Tage schreitet man ja, von Hitze und Kälte getrieben, freudig fürbaß. Vier Wochen kann man es, mit einem Ziel vor Augen, noch gut aushalten. Selbst zwei Monate wären noch keine Leistung. Aber dann auch noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt zu haben, täglich weiter mit wunden Füßen, zerrissenen Händen, klaffenden Sohlen, verschlissenen Kleidern, ohne etwas Rechtes im Magen, marschieren und frieren, frieren und wieder marschieren zu müssen, auch des nachts keine Ruhe zu finden und nur immer mit wunder Seele an einer ungelösten Rechnung zu rechnen, das darf man nicht vorher schon einmal durchgemacht haben, wenn man der sprungbereiten, gierig lauernden Verzweiflung entgehen will.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 147 f.))\\  
-Erst am 24. Dezember 1916 ist die erste Bahnverbindung erreicht, sie betreten Mientsche. Über Honan, Tschentschou gelangen sie nach Hankau und werden vom deutschen Konsul aufgenommen. Doch drei Monate später erreicht der Krieg auch diesen Winkel der Welt: China hat die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen. Als Diplomat hat Hentig eingentlich freies Geleit, doch das ist Theorie: die chinesischen Beamten verzögern die Ausstellung der Reisepapiere immer wieder, die Engländer verweigern sie, die Franzosen reagieren gar nicht, die Amerikaner wollen zunächst, dann wieder nicht. Kurzum: Man sitzt fest.// „Die schönen Wege, die im Anfang des Krieges noch Flüchtlingen offenstanden, über Sibirien, den Suezkanal und so weiter, waren so streng überwacht, daß ihre Benutzung, zumal ohne eine lange, gründliche Vorbereitung, nur zu sicheren Entdeckung geführt hätte. Der Krieg mit Amerika stand vor der Tür.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 166))+Erst am 24. Dezember 1916 ist die erste Bahnverbindung erreicht, sie betreten //Mientsche//. Über //Honan////Tschentschou// gelangen sie nach //Hankau// und werden vom deutschen Konsul aufgenommen. Doch drei Monate später erreicht der Krieg auch diesen Winkel der Welt: China hat die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen. Als Diplomat hat Hentig eingentlich freies [[wiki:geleitswesen|Geleit]], doch das ist Theorie: die chinesischen Beamten verzögern die Ausstellung der [[wiki:dokumente|Reisepapiere]] immer wieder, die Engländer verweigern sie, die Franzosen reagieren gar nicht, die Amerikaner wollen zunächst, dann wieder nicht. Kurzum: Man sitzt fest.// „Die schönen Wege, die im Anfang des Krieges noch Flüchtlingen offenstanden, über Sibirien, den Suezkanal und so weiter, waren so streng überwacht, daß ihre Benutzung, zumal ohne eine lange, gründliche Vorbereitung, nur zu sicheren Entdeckung geführt hätte. Der Krieg mit Amerika stand vor der Tür.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 166))
  
-Nach der letzten Absage handelt Hentig schnell, taucht noch abends in Shanghai unter und läßt sein Gepäck zurück, besitzt lediglich ein amerikanisches Marine-Hemd, eine Missionars-Jacke und eine Seemannsmütze, um in möglichst unterschiedliche Rollen schlüpfen zu können, und begibt sich als blinder Passagier auf den am 1. April 1917 auslaufenden amerikanischen Dampfer Ecuador. Es gelingt ihm, zwei österreichische Offiziere zu überreden, ihn in ihrer Erster-Klasse-Kabine zu verbergen, dabei faltet er sich täglich von neun bis zwölf Uhr in einen engen Kleiderschrank. Die gefürchteten Kontrollen in Japan sind oberflächlich, die Kabinen werden gar nicht kontrolliert, doch bei der zweiten Landung, diesmal in Yokohama, werden sechs Deutsche gefunden. Bei der Landung in Honolulu verläßt er das Schiff, schwimmend, da alle Ein- und Ausgänge schwer bewacht werden, seit Amerika in den Krieg eingetreten ist. Es gelingt ihm wohl, ungesehen an Land zu kommen, doch zeigt es sich, die Kontrollen in Honolulu sehr streng sind. Schließlich stellt sich Hentig freiwillig dem Generalstaatsanwalt, bekommt ein Ticket nach Amerika und wird bei San Francisco auf der Einwandererinsel //Angel Island// im Hospital interniert. Auch die Österreicher und die anderen sechs Deutschen befinden sich dort in Internierung ebenso wie die Kapitäne deutscher Schiffe.  //„Am Tage nach meinem Einzug auf der Engels-Insel fand ein eingehendes Verhör statt. Ich wußte, daß hiervon, wenn nicht alles, so doch außerordentlich viel abhänge. Mein Plan war einfach die Fortsetzung des von mir stets auf der Reise und meist mit erstaunlichem Erfolg innegehaltenen Programms: die Wahrheit und Tatsachen für mich sprechen zu lassen und den Gegner zu fassen, sobald er sich in eine, nur durch Kombinationen gedeckte Stellung begäbe.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 187 f))\\  +Nach der letzten Absage handelt Hentig schnell, taucht noch abends in Shanghai unter und läßt sein Gepäck zurück, besitzt lediglich ein amerikanisches Marine-Hemd, eine Missionars-Jacke und eine Seemannsmütze, um in möglichst unterschiedliche Rollen schlüpfen zu können, und begibt sich als blinder Passagier auf den am 1. April 1917 auslaufenden amerikanischen Dampfer //Ecuador//. Es gelingt ihm, zwei österreichische Offiziere zu überreden, ihn in ihrer Erster-Klasse-Kabine zu verbergen, dabei faltet er sich täglich von neun bis zwölf Uhr in einen engen Kleiderschrank. Die gefürchteten Kontrollen in Japan sind oberflächlich, die Kabinen werden gar nicht kontrolliert, doch bei der zweiten Landung, diesmal in Yokohama, werden sechs Deutsche gefunden. Bei der Landung in Honolulu verläßt er das Schiff, schwimmend, da alle Ein- und Ausgänge schwer bewacht werden, seit Amerika in den Krieg eingetreten ist. Es gelingt ihm wohl, ungesehen an Land zu kommen, doch zeigt es sich, die Kontrollen in Honolulu sehr streng sind. Schließlich stellt sich Hentig freiwillig dem Generalstaatsanwalt, bekommt ein Ticket nach Amerika und wird bei San Francisco auf der Einwandererinsel //Angel Island// im Hospital interniert. Auch die Österreicher und die anderen sechs Deutschen befinden sich dort in Internierung ebenso wie die Kapitäne deutscher Schiffe.  //„Am Tage nach meinem Einzug auf der Engels-Insel fand ein eingehendes Verhör statt. Ich wußte, daß hiervon, wenn nicht alles, so doch außerordentlich viel abhänge. Mein Plan war einfach die Fortsetzung des von mir stets auf der Reise und meist mit erstaunlichem Erfolg innegehaltenen Programms: die Wahrheit und Tatsachen für mich sprechen zu lassen und den Gegner zu fassen, sobald er sich in eine, nur durch Kombinationen gedeckte Stellung begäbe.“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 187 f))\\  
-Zu seiner Überraschung wird er nach einiger Zeit freigelassen, allerdings noch nicht als Diplomat anerkannt, und ständig überwacht. Doch schließlich gelingt ihm auch die Zusicherung freien Geleits. In Kanada kann er sich offiziell auf der norwegischen Halifax nach Bergen einschiffen und trifft sechsundzwanzig Monate nach seiner Abreise aus Deutschland in Norwegen ein.+Zu seiner Überraschung wird er nach einiger Zeit freigelassen, allerdings noch nicht als Diplomat anerkannt, und ständig überwacht. Doch schließlich gelingt ihm auch die Zusicherung freien Geleits. In Kanada kann er sich offiziell auf der norwegischen //Halifax// nach Bergen einschiffen und trifft sechsundzwanzig Monate nach seiner Abreise aus Deutschland in Norwegen ein.
  
 Die Art der Schilderung hebt sich angenehm von ähnlichen Publikationen aus den Kriegsjahren ab. Hentig bekennt sich als Deutscher, schildert seine Erlebnisse jedoch ohne jeden Hurra-Patriotismus. Erfahrungen, Empfindungen und Einstellungen werden meist ohne übertreibenden Zierrat vorgetragen, bekennend, aber nicht mit missionarischem Eifer. Dadurch ist der schmale Band auch heute noch kurzweilig zu lesen. Vieles wird nur kurz vorgetragen, wo der Leser Lust auf mehr bekommt, das Prosaische kommt zu kurz. Hentig weist alle Eigenschaften eines Globetrotters auf, wir würden ihn heute gar als Abenteurer einstufen, doch genau das widerspricht seinem Bild: // „...ich hoffe dadurch nicht in den Ruf der Abenteuerlichkeit zu kommen ...“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 191))  Hentig war Adliger, Akademiker, Soldat, Diplomat. Zwar war er auch in der Wanderbewegung aktiv, doch mußte sich der Abenteurer unterordnen, Pflicht, Selbstdisziplin, Gehorsam bestimmten sein Verhalten auch fern der Heimat. Dafür spricht auch der Titel seiner 1963 veröffentlichten Biographie: //„Mein Leben, eine Dienstreise.“// Die Art der Schilderung hebt sich angenehm von ähnlichen Publikationen aus den Kriegsjahren ab. Hentig bekennt sich als Deutscher, schildert seine Erlebnisse jedoch ohne jeden Hurra-Patriotismus. Erfahrungen, Empfindungen und Einstellungen werden meist ohne übertreibenden Zierrat vorgetragen, bekennend, aber nicht mit missionarischem Eifer. Dadurch ist der schmale Band auch heute noch kurzweilig zu lesen. Vieles wird nur kurz vorgetragen, wo der Leser Lust auf mehr bekommt, das Prosaische kommt zu kurz. Hentig weist alle Eigenschaften eines Globetrotters auf, wir würden ihn heute gar als Abenteurer einstufen, doch genau das widerspricht seinem Bild: // „...ich hoffe dadurch nicht in den Ruf der Abenteuerlichkeit zu kommen ...“// ((Hentig, Ins verschlossene Land, 191))  Hentig war Adliger, Akademiker, Soldat, Diplomat. Zwar war er auch in der Wanderbewegung aktiv, doch mußte sich der Abenteurer unterordnen, Pflicht, Selbstdisziplin, Gehorsam bestimmten sein Verhalten auch fern der Heimat. Dafür spricht auch der Titel seiner 1963 veröffentlichten Biographie: //„Mein Leben, eine Dienstreise.“//
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 ==== 3.2 Der 2. Weltkrieg 1939-1945 ==== ==== 3.2 Der 2. Weltkrieg 1939-1945 ====
 ''Herbert Pritzke'' war Arzt und wurde 1944 nach Afrika beordert, zum Rommel-Korps. Nach seinem ersten Fluchtversuch aus englischer Gefangenschaft verlegte man ihn in das berüchtigte Lager 307 bei Fanara in der Suezkanal-Zone, ein Entkommen von dort war unmöglich. So begann er, Wadenkrämpfe zu simulieren und erreichte bald sein Ziel, die Verlegung ins Hospital nach Fayed. Er wurde an den Krampfadern operiert und kaum zu Kräften gelangt, floh er, 18 Monate nach Kriegsende.\\  ''Herbert Pritzke'' war Arzt und wurde 1944 nach Afrika beordert, zum Rommel-Korps. Nach seinem ersten Fluchtversuch aus englischer Gefangenschaft verlegte man ihn in das berüchtigte Lager 307 bei Fanara in der Suezkanal-Zone, ein Entkommen von dort war unmöglich. So begann er, Wadenkrämpfe zu simulieren und erreichte bald sein Ziel, die Verlegung ins Hospital nach Fayed. Er wurde an den Krampfadern operiert und kaum zu Kräften gelangt, floh er, 18 Monate nach Kriegsende.\\ 
-Ausgerüstet war er mit einem zwei Meter langen Zeltstock, der ihm mit seinen eisenbeschlagenen Spitzen als Waffe dienen sollte. Aufpassen mußte er aber auch vor den anderen Internierten: 100 Zigaretten Belohnung gab es, wenn eine Flucht verraten wurde. Gefährlich waren die //„knüppelbewaffneten deutschen Lagerwachen, meist Fallschirmjäger, die für dreißig Pfennig am Tag ihre eigenen Kameraden bewachten und robuste Methoden anwandten, um den Ertappten das Heimweh aus den Knochen zu prügeln, ehe sie vom Wachsergeanten die Belohnung in Zigaretten einkassierten.“// ((Pritzke, Nach Hause kommst du nie ..., 12)) Doch so lange nach Kriegsende war die Aufmerksamkeit der Wachen gering, und nur ein Zaun war zu überwinden. Seine Fluchtroute war ihm klar: // „Ich folgte dem klassischen Fluchtweg der deutschen Kriegsgefangenen: zunächst drei Stunden in genau westlicher Richtung, um aus der britischen Kanal-Enklave herauszukommen, dann abschwenken nach Nordwesten bis an den Süßwasserkanal, der von Ismailia nach Kairo führt.“// ((Pritzke, Nach Hause kommst du nie ..., 16))\\  +Ausgerüstet war er mit einem zwei Meter langen [[wiki:stab|Zeltstock]], der ihm mit seinen eisenbeschlagenen Spitzen als Waffe dienen sollte. Aufpassen mußte er aber auch vor den anderen Internierten: 100 Zigaretten Belohnung gab es, wenn eine Flucht verraten wurde. Gefährlich waren die //„knüppelbewaffneten deutschen Lagerwachen, meist Fallschirmjäger, die für dreißig Pfennig am Tag ihre eigenen Kameraden bewachten und robuste Methoden anwandten, um den Ertappten das Heimweh aus den Knochen zu prügeln, ehe sie vom Wachsergeanten die Belohnung in Zigaretten einkassierten.“// ((''Pritzke'', Nach Hause kommst du nie ..., 12)) Doch so lange nach Kriegsende war die Aufmerksamkeit der Wachen gering, und nur ein Zaun war zu überwinden. Seine Fluchtroute war ihm klar: // „Ich folgte dem klassischen Fluchtweg der deutschen Kriegsgefangenen: zunächst drei Stunden in genau westlicher [[wiki:orientierung|Richtung]], um aus der britischen Kanal-Enklave herauszukommen, dann abschwenken nach Nordwesten bis an den Süßwasserkanal, der von Ismailia nach Kairo führt.“// ((Pritzke, Nach Hause kommst du nie ..., 16))\\  
-Drei Tage lief er ohne Wasser, dann brach er zusammen. Beduinen fanden ihn, gaben ihm Wasser und bei den Beduinen blieb er, als sie seine Qualitäten als Arzt entdeckten. Der nur geduldete Flüchtling wurde zum //Hakim Alemanni// mit Ruf und Ansehen. Als solcher praktizierte er in einem Beduinenzelt, ließ sich Medikamente und Geräte aus Ismailia beschaffen und baute sich eine kleine, mobile Praxis auf. Rezepte für Patienten unterschrieb er mit// „Le docteur inconnu.“// Als Dank für die Gastfreundschaft wurde von ihm die Unterstützung illegaler Geschäfte erwartet und Pritzke beteiligte sich daher am Haschisch-Schmuggel. Der Diebstahl einer Kiste mit Morphium aus einem englischen Lager schlug allerdings fehl.\\  +Drei Tage lief er ohne Wasser, dann brach er zusammen. [[wiki:beduinen|Beduinen]] fanden ihn, gaben ihm Wasser und bei den Beduinen blieb er, als sie seine Qualitäten als Arzt entdeckten. Der nur geduldete Flüchtling wurde zum //Hakim Alemanni// mit Ruf und Ansehen. Als solcher praktizierte er in einem Beduinenzelt, ließ sich Medikamente und Geräte aus Ismailia beschaffen und baute sich eine kleine, mobile Praxis auf. Rezepte für Patienten unterschrieb er mit// „Le docteur inconnu.“// Als Dank für die Gastfreundschaft wurde von ihm die Unterstützung illegaler Geschäfte erwartet und Pritzke beteiligte sich daher am Haschisch-Schmuggel. Der Diebstahl einer Kiste mit Morphium aus einem englischen Lager schlug allerdings fehl.\\  
-Etwa ein Jahr blieb er bei den Beduinen, lernte deren Sprache, kleidete sich wie sie, paßte sich an, auch wenn es ihm hin und wieder schwerfiel: // „Ich war bevorzugter Gast. `Hier ist etwas Gutes für dich, Salameh!“ sagte der Onkel und hielt mir mit seinen schmutzigen Fingern ein Auge des Hammels hin. Kaum eine Situation im Krieg hatte mich soviel Todesverachtung gekostet wie das würgende Hinunterschlucken solcher Gastbrocken. ... Der Onkel jedoch, der mich ins Herz geschlossen hatte, streifte sich die Ärmel hoch, beugte sich so weit vor, daß sein Bart beinahe mit dem Gericht in Berührung kam, griff ein paarmal ein Stück Fleisch heraus und prüfte es, ob es auch gut genug war für den Gast; aber jedes Stück warf er wieder zurück, bis er endlich vom Besten das Allerbeste für mich gefunden hatte. ... Es war ein Stück Schwanzfett, mit dem ich den ganzen aufdringlichen Geruch des Fettschwanzhammels in die Nase bekam. Um den Fettklumpen gekrümmt, sah ich die unsagbar dreckige Hand, vom Fettklumpen weg rann die Brühe über den nackten haarigen Arm ... Die Natur sorgte dafür, daß ich das Schwanzfett nicht mehr zu essen brauchte und auch das Hammelauge wieder zurückbekam, nachdem es sich in meinem aufgewühlten Inneren nur eine Weile hatte umsehen dürfen.“// ((Pritzke, Nach Hause kommst du nie ..., 139))\\ +Etwa ein Jahr blieb er bei den Beduinen, lernte deren [[wiki:sprachen|Sprache]], kleidete sich wie sie, paßte sich an, auch wenn es ihm hin und wieder schwerfiel: // „Ich war bevorzugter Gast. `Hier ist etwas Gutes für dich, Salameh!“ sagte der Onkel und hielt mir mit seinen schmutzigen Fingern ein Auge des Hammels hin. Kaum eine Situation im Krieg hatte mich soviel Todesverachtung gekostet wie das würgende Hinunterschlucken solcher Gastbrocken. ... Der Onkel jedoch, der mich ins Herz geschlossen hatte, streifte sich die Ärmel hoch, beugte sich so weit vor, daß sein Bart beinahe mit dem Gericht in Berührung kam, griff ein paarmal ein Stück Fleisch heraus und prüfte es, ob es auch gut genug war für den Gast; aber jedes Stück warf er wieder zurück, bis er endlich vom Besten das Allerbeste für mich gefunden hatte. ... Es war ein Stück Schwanzfett, mit dem ich den ganzen aufdringlichen Geruch des Fettschwanzhammels in die Nase bekam. Um den Fettklumpen gekrümmt, sah ich die unsagbar dreckige Hand, vom Fettklumpen weg rann die Brühe über den nackten haarigen Arm ... Die Natur sorgte dafür, daß ich das Schwanzfett nicht mehr zu essen brauchte und auch das Hammelauge wieder zurückbekam, nachdem es sich in meinem aufgewühlten Inneren nur eine Weile hatte umsehen dürfen.“// ((Pritzke, Nach Hause kommst du nie ..., 139))\\ 
 Erst Ende 1947 durfte er die Beduinen verlassen und ging nach Kairo. Seine Versuche, sich einen Paß und eine Fahrkarte nach Europa zu organisieren, scheiterten kläglich, er mußte erneut untertauchen und fiel in die Hände der Muslim-Bruderschaft von Hadji Khaled, die ihm eine neue Identität verschafften.\\  Erst Ende 1947 durfte er die Beduinen verlassen und ging nach Kairo. Seine Versuche, sich einen Paß und eine Fahrkarte nach Europa zu organisieren, scheiterten kläglich, er mußte erneut untertauchen und fiel in die Hände der Muslim-Bruderschaft von Hadji Khaled, die ihm eine neue Identität verschafften.\\ 
 Als Gegenleistung verpflichtete er sich als Söldner im Palästina-Krieg mit dem Einsatzort Jaffa. Weder Israelis noch Araber waren militärisch organisiert, so daß dieser Krieg eher aus Provokationen, Unruhen und Guerilla-Aktionen bestand. Ende April 1948 brach die Jaffa-Front zusammen und Pritzke floh mit zwei Kameraden nach Beirut; die Überfahrt bezahlten sie mit ihren Waffen.\\  Als Gegenleistung verpflichtete er sich als Söldner im Palästina-Krieg mit dem Einsatzort Jaffa. Weder Israelis noch Araber waren militärisch organisiert, so daß dieser Krieg eher aus Provokationen, Unruhen und Guerilla-Aktionen bestand. Ende April 1948 brach die Jaffa-Front zusammen und Pritzke floh mit zwei Kameraden nach Beirut; die Überfahrt bezahlten sie mit ihren Waffen.\\ 
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 ==== Glück gehabt? ====  ==== Glück gehabt? ==== 
-''Walter-Eberhard Freiherr von Medem'' begab sich noch im März 1939 auf eine Weltreise: durch Italien, Äthiopien, Ostafrika, Japan, Korea, China und die Südsee ging die Fahrt. Er hielt sich am 23. August wieder in Hongkong auf, als zwei englische Kriminalbeamte mit den Worten in sein Hotelzimmer eintraten: //„Ihren Paß, Sie sind verhaftet, folgen Sie zur Polizei.“// ((Medem, Blick in die weite Welt, 288)) Eine Kontaktaufnahme mit dem deutschen Generalkonsulat wurde verhindert, jedoch konnte von Medem den Portier in der Eingangshalle noch entsprechend beauftragen. Es folgten Verhöre über seine Absichten, die von Medem mit dem Hinweis auf seine ordnungsgemäßen Papiere und seine Weltreise konterte. Seine Papiere seien allerdings nicht zu finden, wurde ihm entgegnet. Glücklicherweise konnte er das gültige Ticket für seine bereits gebuchte Schiffspassage am nächsten Tag vorzeigen und noch ließen die Behörden mit sich handeln.  //„Man kann es auch Ausweisung nennen, immerhin besser, als interniert zu werden. ... Ich erkannte plötzlich, was die englische Geheimpolizei schon wußte, den bevorstehenden Kriegsausbruch!“// ((Medem, Blick in die weite Welt, 288))+''Walter-Eberhard Freiherr von Medem'' begab sich noch im März 1939 auf eine Weltreise: durch Italien, Äthiopien, Ostafrika, Japan, Korea, China und die Südsee ging die [[wiki:fahrt|Fahrt]]. Er hielt sich am 23. August wieder in Hongkong auf, als zwei englische Kriminalbeamte mit den Worten in sein Hotelzimmer eintraten: //„Ihren Paß, Sie sind verhaftet, folgen Sie zur Polizei.“// ((Medem, Blick in die weite Welt, 288)) Eine Kontaktaufnahme mit dem deutschen Generalkonsulat wurde verhindert, jedoch konnte von Medem den Portier in der Eingangshalle noch entsprechend beauftragen. Es folgten Verhöre über seine Absichten, die von Medem mit dem Hinweis auf seine ordnungsgemäßen Papiere und seine Weltreise konterte. Seine Papiere seien allerdings nicht zu finden, wurde ihm entgegnet. Glücklicherweise konnte er das gültige Ticket für seine bereits gebuchte Schiffspassage am nächsten Tag vorzeigen und noch ließen die Behörden mit sich handeln.  //„Man kann es auch Ausweisung nennen, immerhin besser, als interniert zu werden. ... Ich erkannte plötzlich, was die englische Geheimpolizei schon wußte, den bevorstehenden Kriegsausbruch!“// ((Medem, Blick in die weite Welt, 288))
  
 Die weitere Heimreise nach Deutschland konnte nur entweder über Amerika erfolgen oder durch Sibirien, denn der Suezkanal wurde von den Engländern kontrolliert. Noch im August hatte Deutschland einen Pakt mit Rußland geschlossen und so erhielt von Medem ein Visum beim russischen Botschafter, eben weil er deutscher Offizier war. Unterwegs traf er auf andere heimreisende Deutsche:  „In Harbin ((Harbin, etwa 2,5 Millionen Einwohner, liegt im Nordosten Chinas; der Name bedeutet „Platz zum Trocknen der Fischernetze“. Seit dem Bau einer Eisenbahnlinie 1896 als Teil der transsibirischen Eisenbahn, entwickelte sich Harbin zu einer Industriestadt mit westlichem Flair.)) fanden sich fünf deutsche Männer, ein deutsches Professorenpaar, das aus Amerika kam, und die Frau eines deutschen Diplomaten zusammen ...“ ((Medem, Blick in die weite Welt, 298)) Die weitere Heimreise nach Deutschland konnte nur entweder über Amerika erfolgen oder durch Sibirien, denn der Suezkanal wurde von den Engländern kontrolliert. Noch im August hatte Deutschland einen Pakt mit Rußland geschlossen und so erhielt von Medem ein Visum beim russischen Botschafter, eben weil er deutscher Offizier war. Unterwegs traf er auf andere heimreisende Deutsche:  „In Harbin ((Harbin, etwa 2,5 Millionen Einwohner, liegt im Nordosten Chinas; der Name bedeutet „Platz zum Trocknen der Fischernetze“. Seit dem Bau einer Eisenbahnlinie 1896 als Teil der transsibirischen Eisenbahn, entwickelte sich Harbin zu einer Industriestadt mit westlichem Flair.)) fanden sich fünf deutsche Männer, ein deutsches Professorenpaar, das aus Amerika kam, und die Frau eines deutschen Diplomaten zusammen ...“ ((Medem, Blick in die weite Welt, 298))
  
 ==== Der Legion entkommen ==== ==== Der Legion entkommen ====
-''Philip Rosenthal'' war schon als Kind nach England gekommen, besaß aber noch die deutsche Staatsbürgerschaft. Er hatte sein Studium in Oxord beendet und war mit einem Freund in Frankreich unterwegs, wollte dort zunächst seine Mutter in ihrer Villa in Juan-Les-Pins besuchen, dann zu Fuß und per Anhalter durch den Balkan und die Türkei bis nach Persien.  „Danach wollte ich sehen, was sich weiter ergab. Was jedoch kam, war der Krieg. Wie so viele Menschen konnten wir nicht begreifen, daß der Krieg da war; was man nie erlebt hat, kommt einem irgendwie nicht recht möglich vor.“ ((Rosenthal, Einmal Legionär, 18)) Er wollte nicht ins faschistische Deutschland zurück, in England und Frankreich war er Ausländer. So beschloß er kurzerhand, sich der Fremdenlegion anzuschließen. Doch die bot nicht das, was er sich vorgestellt hatte: Anstatt gegen das NS-Regime kämpfen zu dürfen, muß er in der Sahara Sand schaufeln.\\ +''Philip Rosenthal'' war schon als Kind nach England gekommen, besaß aber noch die deutsche Staatsbürgerschaft. Er hatte sein Studium in Oxord beendet und war mit einem Freund in Frankreich unterwegs, wollte dort zunächst seine Mutter in ihrer Villa in Juan-Les-Pins besuchen, dann zu Fuß und per Anhalter durch den [[wiki:staunen_fremdheit_neues_neugier#Dort fängt der Balkan an|Balkan]] und die Türkei bis nach Persien.  „Danach wollte ich sehen, was sich weiter ergab. Was jedoch kam, war der Krieg. Wie so viele Menschen konnten wir nicht begreifen, daß der Krieg da war; was man nie erlebt hat, kommt einem irgendwie nicht recht möglich vor.“ ((Rosenthal, Einmal Legionär, 18)) Er wollte nicht ins faschistische Deutschland zurück, in England und Frankreich war er [[wiki:auslaender|Ausländer]]. So beschloß er kurzerhand, sich der Fremdenlegion anzuschließen. Doch die bot nicht das, was er sich vorgestellt hatte: Anstatt gegen das NS-Regime kämpfen zu dürfen, muß er in der Sahara Sand schaufeln.\\ 
 1940 erklärte Frankreich den Waffenstillstand. Damit fehlte ihm dann auch die letzte Perspektive.// „Ich hatte nie ein Abenteuer in der Legion, bis ich versuchte, von ihr wegzukommen; aus dem einfachen Grunde, daß es kein Abenteuer ist, mehr Arbeit unter häßlicheren Bedingungen und mit weniger Lohn und weniger Anerkennung zu leisten als die meisten Arbeiter der Welt. Auch kann selbst das Kämpfen kein Abenteuer sein, wenn es zur Dauerbeschäftigung wird. Abenteuer bedeutet, aus der Routine rauszukommen, und nicht, sich in einer zu befinden, die besonders gräßlich ist.“// ((Rosenthal, Einmal Legionär, 65))  Dreimal versuchte er aus der Legion zu fliehen, erst der letzte Versuch gelang. Er hatte sich Geld gespart, einen gefälschten Urlaubsschein ausstellen, gute Zivilkleidung schneidern lassen und läßt sich am Tag seiner Flucht rasieren und maniküren - sein Plan beruhte darauf, nicht wie ein Legionär auszusehen. Über Fes, Meknes und Rabat gelangte er nach Casablanca und da jedes Hotel Ausweise verlangte, nahm er erst spät abends Quartier, trug einen falsche Namen ein und wechselte das Hotel früh am nächsten Morgen, da erst dann die Papiere zur Polizei gebracht wurden. Tagelang suchte er Möglichkeiten, außer Landes zu gelangen: Doch weder im Prostituierten-Milieu noch bei der amerikanischen Botschaft noch im Hafen bot sich eine Chance. Der amerikanische Konsul schlug ihm ernsthaft vor, nach Britisch-Gambia mit dem Fahrrad zu fahren. Dann lernte er einen entlassenen Legionär kennen und erschwindelte sich mit dessen Entlassungsschein bei der Polizei einen neuen Personalausweis auf den baskischen Namen ''Thomas Bartolomeo Echevarria''. Die neue Identität hielt künftig allen Überprüfungen stand, nur das Land verlassen konnte er auch damit nicht. Bei einem solchen Versuch wurde er verhaftet, kam zunächst ins Gefängnis, dann ins Lager, wurde aber nicht als entlaufener Legionär erkannt. Erst im September 1942 gelang es ihm mit Hilfe von Freunden und Beziehungen, in einem kleinen Fischkutter Marokko zu verlassen und nach Gibraltar überzusetzen. 1940 erklärte Frankreich den Waffenstillstand. Damit fehlte ihm dann auch die letzte Perspektive.// „Ich hatte nie ein Abenteuer in der Legion, bis ich versuchte, von ihr wegzukommen; aus dem einfachen Grunde, daß es kein Abenteuer ist, mehr Arbeit unter häßlicheren Bedingungen und mit weniger Lohn und weniger Anerkennung zu leisten als die meisten Arbeiter der Welt. Auch kann selbst das Kämpfen kein Abenteuer sein, wenn es zur Dauerbeschäftigung wird. Abenteuer bedeutet, aus der Routine rauszukommen, und nicht, sich in einer zu befinden, die besonders gräßlich ist.“// ((Rosenthal, Einmal Legionär, 65))  Dreimal versuchte er aus der Legion zu fliehen, erst der letzte Versuch gelang. Er hatte sich Geld gespart, einen gefälschten Urlaubsschein ausstellen, gute Zivilkleidung schneidern lassen und läßt sich am Tag seiner Flucht rasieren und maniküren - sein Plan beruhte darauf, nicht wie ein Legionär auszusehen. Über Fes, Meknes und Rabat gelangte er nach Casablanca und da jedes Hotel Ausweise verlangte, nahm er erst spät abends Quartier, trug einen falsche Namen ein und wechselte das Hotel früh am nächsten Morgen, da erst dann die Papiere zur Polizei gebracht wurden. Tagelang suchte er Möglichkeiten, außer Landes zu gelangen: Doch weder im Prostituierten-Milieu noch bei der amerikanischen Botschaft noch im Hafen bot sich eine Chance. Der amerikanische Konsul schlug ihm ernsthaft vor, nach Britisch-Gambia mit dem Fahrrad zu fahren. Dann lernte er einen entlassenen Legionär kennen und erschwindelte sich mit dessen Entlassungsschein bei der Polizei einen neuen Personalausweis auf den baskischen Namen ''Thomas Bartolomeo Echevarria''. Die neue Identität hielt künftig allen Überprüfungen stand, nur das Land verlassen konnte er auch damit nicht. Bei einem solchen Versuch wurde er verhaftet, kam zunächst ins Gefängnis, dann ins Lager, wurde aber nicht als entlaufener Legionär erkannt. Erst im September 1942 gelang es ihm mit Hilfe von Freunden und Beziehungen, in einem kleinen Fischkutter Marokko zu verlassen und nach Gibraltar überzusetzen.
  
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 ==== 3.4 Entkommen aus Sibirien ==== ==== 3.4 Entkommen aus Sibirien ====
-''Kurt Aram'' hatte Pech: Zusammen mit seiner Frau war er auf dem Weg von Istanbul über Tiflis nach Eriwan und Wan. Er hatte den kürzeren Weg über Batum am Schwarzen Meer gewählt und befand sich in Rußland, als am 1. August 1914 Deutschland Rußland den Krieg erklärte. Während der nächsten Tage wollte niemand diese Nachricht glauben, man bestätigte sich gegenseitig, daß das doch gar nicht sein könne - auch der deutsche Konsul hatte keine offiziellen Nachrichten erhalten. Und doch - das Verhalten wurde distanzierter, die Menschen auf der Straße gingen den Deutschen aus dem Weg. Das Hotel //London//, in dem sich Aram befand, gehörte einer seit vielen Jahren dort lebenden Deutschen, einer Frau ''Richter'' aus Mainz. Dann wird die Kriegserklärung zwischen England und Deutschland bekannt, die Engländer ziehen aus dem Hotel aus, auch die Holländer verlassen das sinkende Schiff, distanzieren sich von der kriegerischen Nation. In ganz Rußland werden dann die Deutschen und Deutschstämmigen im Alter von 17 bis 50 Jahren interniert und Kurt Aram landet mit seiner Frau in Sibirien. Dort finden sich in erster Linie Geschäftsleute wieder, nur wenige Reisende sind darunter. Alle Kosten der Internierung, Essen und Trinken, warme Kleidung für Sibirien, sogar die zehntägige Bahnfahrt ins sibirische Gouvernement Watka haben die Gefangenen selbst zu bezahlen, wer kein Geld hat, leidet Hunger, friert, ist obdachlos. In den ersten Tagen hätte Aram noch ausreisen können, doch fehlte ihm der Paß, der noch zur Anmeldung bei der Polizei lag. Diese hatte aber wohl schon frühzeitig Order, die Pässe zurückzuhalten. Die zweite Bedingung war Geld, denn mit zunehmender Krise stiegen die Kosten für Fahrten und notwendige Bestechungen. Dennoch gelang Aram nach fünf Monaten die Ausreise mittels überlegter Tricks, Beziehungen zu bekannten Russen, Geld und der notwendigen Beherrschung des Russischen. Diese zweite Phase ist unter Reiseaspekten interessanter als die erste, da sie zeigt, unter welchen besonderen Bedingungen in Krisenzeiten eine Reise organisiert werden muß: Aram erhält nach allerlei Manipulationen einen Auslandsreisepaß für sich und seine Frau, den er fortan nicht mehr aus der Hand gibt. Baldmöglichst läßt er sich eine beglaubigte Kopie anfertigen. Außerdem versucht er trotz seines Passes möglichst wenig aufzufallen: //„Reisende sind von vornherein verdächtig.“// ((Aram, Nach Sibirien ..., 220)) Er rechnet vielmehr mit der Willkür der Behörden, die, wenn sie ihn erst einmal als „feindlichen“ Deutschen erkannt haben, ihn erneut internieren. Sein Auslandspaß verschwände dann in irgendeiner Schublade. Das bedeutet für ihn, der recht gut russisch spricht, schnell zu sein und möglichst keinen Kontakt mit anderen Leuten zu haben. Also kauft er eine Fahrkarte erster Klasse, da in diesen Abteilen nur zwei Personen Platz haben, und verläßt es außer zum Umsteigen nicht. Für die mehrtägigen Bahnfahrten setzt das eine ausreichende Verpflegung voraus. Schwierig wird es in Petersburg: Dort müssen sie übernachten, da der nächste Anschlußzug erst am folgenden Tag fährt. Alle Hotels verlangen jedoch den Reisepaß und auf dem Bahnhof patrouillieren Soldaten. Glücklicherweise können sie bei einem Russen, den Aram von einer früheren Reise her kennt, unterkommen. Auf der letzten Etappe, von Petersburg nach Raumo, wird der Zug dann doch noch kontrolliert. Auch Aram und seine Frau werden gründlichst durchsucht: Leibesvisitation, ausziehen, die Sohlen werden von den Schuhen getrennt. Alles Schriftliche wird beschlagnahmt, der Baedeker ebenso wie das (leere) Notizbuch. Nur fünfzig Rubel erhalten sie pro Person zurück, der Rest wird konfisziert. Auch hier hofft er zu Recht, daß man sich seinen Paß nicht genauer ansieht, nicht sieht, daß er aus einem Lager kommt. Denn mittlerweile sind fast nur noch Ausländer im Zug; es sind zu viele, um sie alle gründlich zu kontrollieren. Die Hoffnung erfüllt sich und drei Tage nach der Abfahrt von Petersburg befinden sich beide an Bord einer schwedischen Fähre.+''Kurt Aram'' hatte Pech: Zusammen mit seiner Frau war er auf dem Weg von Istanbul über Tiflis nach Eriwan und Wan. Er hatte den kürzeren Weg über Batum am Schwarzen Meer gewählt und befand sich in Rußland, als am 1. August 1914 Deutschland Rußland den Krieg erklärte. Während der nächsten Tage wollte niemand diese Nachricht glauben, man bestätigte sich gegenseitig, daß das doch gar nicht sein könne - auch der deutsche Konsul hatte keine offiziellen Nachrichten erhalten. Und doch - das Verhalten wurde distanzierter, die Menschen auf der Straße gingen den Deutschen aus dem Weg. Das Hotel //London//, in dem sich Aram befand, gehörte einer seit vielen Jahren dort lebenden Deutschen, einer Frau ''Richter'' aus Mainz. Dann wird die Kriegserklärung zwischen England und Deutschland bekannt, die Engländer ziehen aus dem Hotel aus, auch die Holländer verlassen das sinkende Schiff, distanzieren sich von der kriegerischen Nation. In ganz Rußland werden dann die Deutschen und Deutschstämmigen im Alter von 17 bis 50 Jahren interniert und ''Kurt Aram'' landet mit seiner Frau in Sibirien. Dort finden sich in erster Linie Geschäftsleute wieder, nur wenige Reisende sind darunter. Alle Kosten der Internierung, Essen und Trinken, warme [[wiki:reisekleidung|Kleidung]] für Sibirien, sogar die zehntägige Bahnfahrt ins sibirische Gouvernement Watka haben die Gefangenen selbst zu bezahlen, wer kein Geld hat, leidet Hunger, friert, ist obdachlos. In den ersten Tagen hätte Aram noch ausreisen können, doch fehlte ihm der Paß, der noch zur Anmeldung bei der Polizei lag. Diese hatte aber wohl schon frühzeitig Order, die Pässe zurückzuhalten. Die zweite Bedingung war Geld, denn mit zunehmender *[[wiki:krise|Krise]] stiegen die Kosten für [[wiki:fahrt|Fahrt]]en und notwendige Bestechungen. Dennoch gelang Aram nach fünf Monaten die Ausreise mittels überlegter Tricks, Beziehungen zu bekannten Russen, Geld und der notwendigen Beherrschung des Russischen. Diese zweite Phase ist unter Reiseaspekten interessanter als die erste, da sie zeigt, unter welchen besonderen Bedingungen in Krisenzeiten eine Reise organisiert werden muß: Aram erhält nach allerlei Manipulationen einen Auslandsreisepaß für sich und seine Frau, den er fortan nicht mehr aus der Hand gibt. Baldmöglichst läßt er sich eine beglaubigte Kopie anfertigen. Außerdem versucht er trotz seines Passes möglichst wenig aufzufallen: //„Reisende sind von vornherein verdächtig.“// ((Aram, Nach Sibirien ..., 220)) Er rechnet vielmehr mit der Willkür der Behörden, die, wenn sie ihn erst einmal als „feindlichen“ Deutschen erkannt haben, ihn erneut internieren. Sein Auslandspaß verschwände dann in irgendeiner Schublade. Das bedeutet für ihn, der recht gut russisch spricht, schnell zu sein und möglichst keinen Kontakt mit anderen Leuten zu haben. Also kauft er eine Fahrkarte erster Klasse, da in diesen Abteilen nur zwei Personen Platz haben, und verläßt es außer zum Umsteigen nicht. Für die mehrtägigen Bahnfahrten setzt das eine ausreichende Verpflegung voraus. Schwierig wird es in Petersburg: Dort müssen sie übernachten, da der nächste Anschlußzug erst am folgenden Tag fährt. Alle Hotels verlangen jedoch den Reisepaß und auf dem Bahnhof patrouillieren Soldaten. Glücklicherweise können sie bei einem Russen, den Aram von einer früheren Reise her kennt, unterkommen. Auf der letzten Etappe, von Petersburg nach Raumo, wird der Zug dann doch noch kontrolliert. Auch Aram und seine Frau werden gründlichst durchsucht: Leibesvisitation, ausziehen, die Sohlen werden von den Schuhen getrennt. Alles Schriftliche wird beschlagnahmt, der Baedeker ebenso wie das (leere) Notizbuch. Nur fünfzig Rubel erhalten sie pro Person zurück, der Rest wird konfisziert. Auch hier hofft er zu Recht, daß man sich seinen Paß nicht genauer ansieht, nicht sieht, daß er aus einem Lager kommt. Denn mittlerweile sind fast nur noch [[wiki:auslaender|Ausländer]] im Zug; es sind zu viele, um sie alle gründlich zu kontrollieren. Die Hoffnung erfüllt sich und drei Tage nach der Abfahrt von Petersburg befinden sich beide an Bord einer schwedischen Fähre.
  
 ''Slavomir Rawitsch'', Leutnant der polnischen Kavallerie, wurde nach dem Zusammenbruch der polnischen Armee am 19.11.1939 von den Russen gefangengenommen, er war gerade 24 Jahre alt. Verhöre, Einzelhaft und Folter in den Gefängnissen von Minsk, Charkow und in der Lubjanka in Moskau gingen seiner Verurteilung voraus, die für ihn fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in Sibirien vorsah. Ende November 1940 wurde er zusammen mit etwa 60 anderen Verurteilten in einen Viehwaggon gesperrt, der für 8 Pferde vorgesehen war. Es war so eng, daß sich niemand setzen kann. //„Die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag über durften wir die Waggons nicht einmal verlassen. ... Die Männer mußten sich im Stehen entleeren. Der Gestank war unerträglich.“// ((Rawitsch, 41))  Mitte Dezember kamen sie in Irkutsk an, 5000 Männer wurden auf einem Kartoffelfeld versammelt. Nach drei Tagen gab es Winterkleidung, dann wurden sie in einer Reihe aneinander gekettet. 1.600 Kilometer Fußmarsch lagen vor ihnen. Ihr Ziel, das Lager 303 am Nordufer der Lena, etwa 350 Kilometer südlich von Irkutsk, erreichten sie nach zwei Monaten, im Februar 1941. ''Slavomir Rawitsch'', Leutnant der polnischen Kavallerie, wurde nach dem Zusammenbruch der polnischen Armee am 19.11.1939 von den Russen gefangengenommen, er war gerade 24 Jahre alt. Verhöre, Einzelhaft und Folter in den Gefängnissen von Minsk, Charkow und in der Lubjanka in Moskau gingen seiner Verurteilung voraus, die für ihn fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in Sibirien vorsah. Ende November 1940 wurde er zusammen mit etwa 60 anderen Verurteilten in einen Viehwaggon gesperrt, der für 8 Pferde vorgesehen war. Es war so eng, daß sich niemand setzen kann. //„Die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag über durften wir die Waggons nicht einmal verlassen. ... Die Männer mußten sich im Stehen entleeren. Der Gestank war unerträglich.“// ((Rawitsch, 41))  Mitte Dezember kamen sie in Irkutsk an, 5000 Männer wurden auf einem Kartoffelfeld versammelt. Nach drei Tagen gab es Winterkleidung, dann wurden sie in einer Reihe aneinander gekettet. 1.600 Kilometer Fußmarsch lagen vor ihnen. Ihr Ziel, das Lager 303 am Nordufer der Lena, etwa 350 Kilometer südlich von Irkutsk, erreichten sie nach zwei Monaten, im Februar 1941.
-Vom ersten Tag an beschäftigte sich Rawitsch mit Fluchtgedanken, suchte vorsichtig tastend nach geeigneten Fluchtkameraden und fand schließlich sechs Fluchtwillige: den Amerikaner ''Smith'', einen Ingenieur, den man wegen Spionageverdacht zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt hatte; ''Eugen Zavo'', einen dreißig Jahre alten Jugoslawen, der zuletzt als Buchhalter tätig gewesen war; ''Anastasi Kolomenos'', einen blonden Hünen, 27 Jahre alt, der in Litauen einen Hof gehabt hatte; ''Sigmund Makowski'', 37 Jahre alt und Hauptmann der polnischen Armee; ''Zacharius Marchinkowas'', einen knapp dreißigjährigen Architekten aus Litauen und schließlich ''Anton Paluchowitsch'', 41 Jahre alt, einen polnischen Kavallerie-Feldwebel. Sie entschieden sich für eine Flucht nach Süden, Richtung Mongolei und weiter zum Himalaya. Dies ist mit 1.500 Kilometern zur mongolischen Grenze der zwar längste, aber auch der sicherste Weg, da wenig bevölkert und wenig kontrolliert.\\  +Vom ersten Tag an beschäftigte sich Rawitsch mit Fluchtgedanken, suchte vorsichtig tastend nach geeigneten Fluchtkameraden und fand schließlich sechs Fluchtwillige: den Amerikaner ''Smith'', einen Ingenieur, den man wegen Spionageverdacht zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt hatte; ''Eugen Zavo'', einen dreißig Jahre alten Jugoslawen, der zuletzt als Buchhalter tätig gewesen war; ''Anastasi Kolomenos'', einen blonden Hünen, 27 Jahre alt, der in Litauen einen Hof gehabt hatte; ''Sigmund Makowski'', 37 Jahre alt und Hauptmann der polnischen Armee; ''Zacharius Marchinkowas'', einen knapp dreißigjährigen Architekten aus Litauen und schließlich ''Anton Paluchowitsch'', 41 Jahre alt, einen polnischen Kavallerie-Feldwebel. Sie entschieden sich für eine Flucht nach Süden, [[wiki:orientierung|Richtung]] Mongolei und weiter zum Himalaya. Dies ist mit 1.500 Kilometern zur mongolischen Grenze der zwar längste, aber auch der sicherste Weg, da wenig bevölkert und wenig kontrolliert.\\  
-Ihre Fluchtvorbereitungen waren relativ bescheiden, da die Umstände kaum mehr zuließen: Von ihrer Tagesration (1 kg Brot) trockneten sie täglich ein Viertel auf einem Ofen; organisierten sich ein wenig Mehl und Salz, Graupen und Tabak; jeden Tag stahlen sie von den zahlreichen Pelzen, die die sowjetischen Soldaten zum Trocknen aufhängten, ein Stück, und schneiderten sich daraus warme Kleidung, Mokassins, Gürtel, Riemen, Gamaschen und Balaklawa-Fellmützen (( Balaklawa-Mützen bedecken den ganzen Kopf, oft auch noch den Hals, und haben lediglich Löcher für Augen und Mund.)); sie konnten eine Axt erbeuten und Rawitsch schmiedete sich ein Messer aus den Resten einer gebrochenen Säge; aus Holz geschnitzte Löffel und ein einziger Aluminiumbecher bildeten das gesamte Kochgeschirr. Interessant ist ihre Methode, sich mangels Streichhölzern eine Art Feuerzeug zu basteln: //„Man verwendete das schwammartige Gubkamoos, das sich von den Bäumen abreißen läßt. Zum Feueranmachen braucht man dann nur noch einen gebrochenen Nagel und ein Stück Feuerstein. ((Dieses System wurde von den Russen „Chakkalo-bakkalo“ genannt.)) Das trockene Gubka, das wir alle vorrätig bei uns hatten, entzündete sich am Funken des Feuersteins und brannte, wenn es angeblasen wurde, mit schwelender Flamme.“// ((Rawitsch, 119))  Im April 1941 waren die Vorbereitungen abgeschlossen und in einer Nacht, als dichter Schneefall jede Sicht nahm und ihre Spuren rasch verdecken würde, entkamen die sieben über die gestaffelte Befestigungsanlage. Als besonderen Trick zogen sie ein Schaffell hinter sich her, damit sollte die Witterung der Hunde vom Menschen abgelenkt werden.\\ +Ihre Fluchtvorbereitungen waren relativ bescheiden, da die Umstände kaum mehr zuließen: Von ihrer Tagesration (1 kg Brot) trockneten sie täglich ein Viertel auf einem Ofen; organisierten sich ein wenig Mehl und Salz, Graupen und Tabak; jeden Tag stahlen sie von den zahlreichen Pelzen, die die sowjetischen Soldaten zum Trocknen aufhängten, ein Stück, und schneiderten sich daraus warme Kleidung, Mokassins, [[wiki:guertel|Gürtel]], Riemen, Gamaschen und Balaklava-Fellmützen (( Balaklawa-Mützen bedecken den ganzen Kopf, oft auch noch den Hals, und haben lediglich Löcher für Augen und Mund.)); sie konnten eine Axt erbeuten und Rawitsch schmiedete sich ein Messer aus den Resten einer gebrochenen Säge; aus Holz geschnitzte Löffel und ein einziger Aluminiumbecher bildeten das gesamte Kochgeschirr. Interessant ist ihre Methode, sich mangels Streichhölzern eine Art Feuerzeug zu basteln: //„Man verwendete das schwammartige Gubkamoos, das sich von den Bäumen abreißen läßt. Zum Feueranmachen braucht man dann nur noch einen gebrochenen Nagel und ein Stück Feuerstein. ((Dieses System wurde von den Russen „Chakkalo-bakkalo“ genannt.)) Das trockene Gubka, das wir alle vorrätig bei uns hatten, entzündete sich am Funken des Feuersteins und brannte, wenn es angeblasen wurde, mit schwelender Flamme.“// ((Rawitsch, 119))  Im April 1941 waren die Vorbereitungen abgeschlossen und in einer Nacht, als dichter Schneefall jede Sicht nahm und ihre Spuren rasch verdecken würde, entkamen die sieben über die gestaffelte Befestigungsanlage. Als besonderen [[wiki:kniff|Trick]] zogen sie ein Schaffell hinter sich her, damit sollte die Witterung der Hunde vom Menschen abgelenkt werden.\\ 
 Aus Angst vor Entdeckung liefen sie die ersten Tage nur nachts und gruben sich tags in Schneehöhlen ein. Zeitweise mußten sie in einem Meter tiefem Neuschnee spuren und erst, als sie tagsüber marschierten, erhöhten sie ihr Tagespensum auf bis zu fünfzig Kilometer. Manchmal konnten sie den kargen Speisezettel etwas aufbessern, so, als sie ein Loch in einen zugefrorenen Fluß hackten:  „Das Wasser quoll als Fontäne in die Höhe und strudelte eisig um unsere Füße. Und siehe da - vier Fische, so groß wie Heringe, kamen an die Oberfläche. Aufgeregt wie Schuljungen stürzten wir uns auf unsere Beute.“ ((Rawitsch, 132)) Ein andermal gelang es ihnen, einen sibirischen Hasen zu fangen. Rawitsch war der einzige, der sich auf Weidmannskunst und Jägerkniffe verstand, alle anderen waren Städter. Neun Tage nach ihrem Ausbruch erreichten sie die Lena, scheuen aber weiterhin die Begegnung mit Menschen: //„Die wenigen Straßen, auf die wir stießen, überquerten wir nur nach eingehender vorheriger Erkundung. Manchmal sahen wir nachts in der Ferne die Lichter eines Dorfes oder einer kleinen Stadt und am Tage die Umrisse von Häusern und rauchende hohe Schornsteine. In solchen Gegenden bewegten wir uns besonders vorsichtig.“// ((Rawitsch, 143)) Während die Wochen vergehen, schlich sich der Frühling ins Land, das Eis auf den Flüssen wurde dünner und machte oft das Durchschwimmen der Flußmitte nötig. Auf Höhe des Baikalsees schloß sich ihnen ein siebzehnjähriges polnisches Mädchen, Kristina, an, das ebenfalls ausgerissen war.\\  Aus Angst vor Entdeckung liefen sie die ersten Tage nur nachts und gruben sich tags in Schneehöhlen ein. Zeitweise mußten sie in einem Meter tiefem Neuschnee spuren und erst, als sie tagsüber marschierten, erhöhten sie ihr Tagespensum auf bis zu fünfzig Kilometer. Manchmal konnten sie den kargen Speisezettel etwas aufbessern, so, als sie ein Loch in einen zugefrorenen Fluß hackten:  „Das Wasser quoll als Fontäne in die Höhe und strudelte eisig um unsere Füße. Und siehe da - vier Fische, so groß wie Heringe, kamen an die Oberfläche. Aufgeregt wie Schuljungen stürzten wir uns auf unsere Beute.“ ((Rawitsch, 132)) Ein andermal gelang es ihnen, einen sibirischen Hasen zu fangen. Rawitsch war der einzige, der sich auf Weidmannskunst und Jägerkniffe verstand, alle anderen waren Städter. Neun Tage nach ihrem Ausbruch erreichten sie die Lena, scheuen aber weiterhin die Begegnung mit Menschen: //„Die wenigen Straßen, auf die wir stießen, überquerten wir nur nach eingehender vorheriger Erkundung. Manchmal sahen wir nachts in der Ferne die Lichter eines Dorfes oder einer kleinen Stadt und am Tage die Umrisse von Häusern und rauchende hohe Schornsteine. In solchen Gegenden bewegten wir uns besonders vorsichtig.“// ((Rawitsch, 143)) Während die Wochen vergehen, schlich sich der Frühling ins Land, das Eis auf den Flüssen wurde dünner und machte oft das Durchschwimmen der Flußmitte nötig. Auf Höhe des Baikalsees schloß sich ihnen ein siebzehnjähriges polnisches Mädchen, Kristina, an, das ebenfalls ausgerissen war.\\ 
-In der zweiten Juni-Woche überschritten sie die mongolisch-russische Grenze und bewegten sich auf die Kentei-Shen-Berge zu: in sechzig Tagen hatten sie zweitausend Kilometer zurückgelegt. Weiterhin waren die Lebensmittel knapp, oft hungerten sie tagelang. Vor Verlassen der Sowjetunion gruben sie auf einem Acker einen Zentner Frühkartoffel aus, manchmal fanden sie Pilze und einmal hatten sie das Glück, einen Hirsch erlegen zu können, der sich mit dem Geweih in der Krone eines umgestürzten Baumes verfangen hatte.\\  +In der zweiten Juni-Woche überschritten sie die mongolisch-russische Grenze und bewegten sich auf die Kentei-Shen-Berge zu: in sechzig Tagen hatten sie zweitausend Kilometer zurückgelegt. Weiterhin waren die [[wiki:lebensmittel|Lebensmittel]] knapp, oft hungerten sie tagelang. Vor Verlassen der Sowjetunion gruben sie auf einem Acker einen Zentner Frühkartoffel aus, manchmal fanden sie Pilze und einmal hatten sie das Glück, einen Hirsch erlegen zu können, der sich mit dem Geweih in der Krone eines umgestürzten Baumes verfangen hatte.\\  
-In der besiedelten äußeren Mongolei trafen sie auf gastfreundliche Bewohner, die ihnen öfters mit Lebensmitteln aushalfen. Zunehmend wurde die Gegend karger und sandiger, ein Anzeichen für die nahende Wüste Gobi, die sie zu Fuß durchquerten, ohne eine andere Ausrüstung zu haben als bisher: ihr einziges Vorratsgefäß für Wasser bildete der Aluminiumbecher, die einzigen Lebensmittel bestanden in einer Anzahl getrockneter Fische, die am fünften Tage alle waren. Erst am siebten Tag erreichten sie halb verdurstet eine Oase und konnten doch nicht bleiben, da sie keine Lebensmittel mehr hatten. Am sechsten Tag nach Verlassen der Oase starb ''Kristina'' an Erschöpfung, am zehnten Tag starb auch ''Makowski'', erst am dreizehnten Tag stießen sie wieder auf eine karge Quelle. Nun erst kamen sie auf die Idee, die recht häufig vorkommenden Schlangen zu fangen und zu essen. Wieder folgten acht Tage ohne Wasser, bevor sie die Berge erreichten. Drei Wochen später, Anfang Oktober, trafen sie in der Provinz Kansu wieder einen Menschen, einen Schäfer, der sie üppig bewirtete. Weiterhin blieb das Essen karg, nur alle paar Tage trafen sie auf Hirten. Straßen und Wege gab es nicht, sie gingen einfach in eine bestimmte Himmelsrichtung und versuchten, mit den Hindernissen fertig zu werden. Nach einer der vielen Nächte in den tibetischen Bergen stellten sie morgens fest, daß ''Marchinkowas'' nachts gestorben ist, ohne daß sie die Ursache erkennen konnten. Ende Januar überschritten sie irgendwo westlich von Lhasa den Brahmaputra. Auf der letzten Etappe des Weges stürzt ''Paluchowitsch'' in eine abgrundlose Schlucht.\\ +In der besiedelten äußeren Mongolei trafen sie auf gastfreundliche Bewohner, die ihnen öfters mit Lebensmitteln aushalfen. Zunehmend wurde die Gegend karger und sandiger, ein Anzeichen für die nahende Wüste Gobi, die sie zu Fuß durchquerten, ohne eine andere Ausrüstung zu haben als bisher: ihr einziges Vorratsgefäß für Wasser bildete der Aluminiumbecher, die einzigen Lebensmittel bestanden in einer Anzahl getrockneter Fische, die am fünften Tage alle waren. Erst am siebten Tag erreichten sie halb verdurstet eine Oase und konnten doch nicht bleiben, da sie keine Lebensmittel mehr hatten. Am sechsten Tag nach Verlassen der Oase starb ''Kristina'' an Erschöpfung, am zehnten Tag starb auch ''Makowski'', erst am dreizehnten Tag stießen sie wieder auf eine karge Quelle. Nun erst kamen sie auf die Idee, die recht häufig vorkommenden Schlangen zu fangen und zu essen. Wieder folgten acht Tage ohne Wasser, bevor sie die Berge erreichten. Drei Wochen später, Anfang Oktober, trafen sie in der Provinz Kansu wieder einen Menschen, einen Schäfer, der sie üppig bewirtete. Weiterhin blieb das Essen karg, nur alle paar Tage trafen sie auf Hirten. Straßen und Wege gab es nicht, sie gingen einfach in eine bestimmte [[wiki:orientierung#Richtung und Himmelsrichtungen|Himmelsrichtung]] und versuchten, mit den Hindernissen fertig zu werden. Nach einer der vielen Nächte in den tibetischen Bergen stellten sie morgens fest, daß ''Marchinkowas'' nachts gestorben ist, ohne daß sie die Ursache erkennen konnten. Ende Januar überschritten sie irgendwo westlich von Lhasa den Brahmaputra. Auf der letzten Etappe des Weges stürzt ''Paluchowitsch'' in eine abgrundlose Schlucht.\\ 
 Zu viert begegneten sie wenige Tage später einer indischen Militärpatrouille, achtzehn Monate nach ihrem Ausbruch aus dem sibirischen Lager, und wurden nach Kalkutta gebracht. Dort bricht Rawitsch zusammen und wacht erst vier Wochen später wieder auf. Nach ihrer Genesung trennten sich die vier, Rawitsch wird zu den im Mittleren Osten kämpfenden, polnischen Truppen überstellt. ((In Rawitschs Bericht irritieren viele Angaben: Weshalb durchqueren sie die Gobi in ihrer größten Ausdehnung, statt sich nach China zu wenden? Ihr erstes Ziel, Afghanistan, streben sie einige Zeit später nicht mehr an. Warum? Stattdessen wollen sie nach Lhasa. Das meiden sie dann aber auch, angeblich, weil sie Angst vor den Behörden hätten. Wieso? Schlimmstenfalls wären sie nach Nepal ausgewiesen worden und wären dort ebenso wie in Indien auf Engländer gestoßen. Das wollten sie doch, oder? Wieso besorgen sie sich nicht einige Wassersäcke aus Ziegenleder? Unglaublich scheint es, daß man sechs (oder gar dreizehn) Tage bei großer Hitze ohne Wasser überleben kann und gleichzeitig getrockneten Fisch ißt. Wer hungert zwei Wochen, bevor er die Idee hat, Schlangen zu essen? Häufige Klischees gipfeln in der Begegnung mit zwei Yetis im Himalaya, die als 2,20 Meter große Wesen beschrieben werden. Ernsthafte Schwierigkeiten in der Gruppe werden nicht beschrieben. 18 Monate lang gelingt es ihnen nie, ihren Ort genau zu bestimmen, Rawitsch betont, er könne sich um mehrere hundert Kilometer irren. Zuletzt trafen sie vor der Wüste Gobi einen russisch sprechenden Mongolen, danach war bis Indien keine Verständigung mehr möglich und die fremdartigen Ortsbezeichnungen konnten sie nicht behalten. In den tibetischen Dörfern treffen sie immer auf gastfreundliche Menschen und genießen jede Unterstützung. Alle anderen Fluchtberichte aus Tibet weisen gerade auf mangelnde Unterstützungsbereitschaft der tibetischen Bevölkerung hin. Zu viert begegneten sie wenige Tage später einer indischen Militärpatrouille, achtzehn Monate nach ihrem Ausbruch aus dem sibirischen Lager, und wurden nach Kalkutta gebracht. Dort bricht Rawitsch zusammen und wacht erst vier Wochen später wieder auf. Nach ihrer Genesung trennten sich die vier, Rawitsch wird zu den im Mittleren Osten kämpfenden, polnischen Truppen überstellt. ((In Rawitschs Bericht irritieren viele Angaben: Weshalb durchqueren sie die Gobi in ihrer größten Ausdehnung, statt sich nach China zu wenden? Ihr erstes Ziel, Afghanistan, streben sie einige Zeit später nicht mehr an. Warum? Stattdessen wollen sie nach Lhasa. Das meiden sie dann aber auch, angeblich, weil sie Angst vor den Behörden hätten. Wieso? Schlimmstenfalls wären sie nach Nepal ausgewiesen worden und wären dort ebenso wie in Indien auf Engländer gestoßen. Das wollten sie doch, oder? Wieso besorgen sie sich nicht einige Wassersäcke aus Ziegenleder? Unglaublich scheint es, daß man sechs (oder gar dreizehn) Tage bei großer Hitze ohne Wasser überleben kann und gleichzeitig getrockneten Fisch ißt. Wer hungert zwei Wochen, bevor er die Idee hat, Schlangen zu essen? Häufige Klischees gipfeln in der Begegnung mit zwei Yetis im Himalaya, die als 2,20 Meter große Wesen beschrieben werden. Ernsthafte Schwierigkeiten in der Gruppe werden nicht beschrieben. 18 Monate lang gelingt es ihnen nie, ihren Ort genau zu bestimmen, Rawitsch betont, er könne sich um mehrere hundert Kilometer irren. Zuletzt trafen sie vor der Wüste Gobi einen russisch sprechenden Mongolen, danach war bis Indien keine Verständigung mehr möglich und die fremdartigen Ortsbezeichnungen konnten sie nicht behalten. In den tibetischen Dörfern treffen sie immer auf gastfreundliche Menschen und genießen jede Unterstützung. Alle anderen Fluchtberichte aus Tibet weisen gerade auf mangelnde Unterstützungsbereitschaft der tibetischen Bevölkerung hin.
 Mag sein, daß Rawitsch aus einem sibirischen Lager geflohen ist, dieser Teil ist noch sehr plausibel. Doch der Rest? Auch Peter Hopkirk berichtet in „Der Griff nach Lhasa“ über ernsthafte Zweifel an Rawitschs Bericht, der 1956, zehn Jahre nach den Ereignissen erschien (The Long Walk). Der Zentralasienexperte Peter Fleming äußerte im Spectator erhebliche Zweifel, während Kritiker es als ein „Meisterwerk der Reiseliteratur“ lobten. Rawitsch, der seit jener Zeit in England, bei Nottingham, lebte, widersprach: //„Wir waren halbverhungerte Flüchtlinge ... Ich erinnere mich nicht, über welche Straßen und Berge wir gekommen sind - wir wußten ja ihre Namen nicht, hatten keine Karten und besaßen auch keinerlei Vorkenntnisse.“// (Hopkirk, S. 273) )) Mag sein, daß Rawitsch aus einem sibirischen Lager geflohen ist, dieser Teil ist noch sehr plausibel. Doch der Rest? Auch Peter Hopkirk berichtet in „Der Griff nach Lhasa“ über ernsthafte Zweifel an Rawitschs Bericht, der 1956, zehn Jahre nach den Ereignissen erschien (The Long Walk). Der Zentralasienexperte Peter Fleming äußerte im Spectator erhebliche Zweifel, während Kritiker es als ein „Meisterwerk der Reiseliteratur“ lobten. Rawitsch, der seit jener Zeit in England, bei Nottingham, lebte, widersprach: //„Wir waren halbverhungerte Flüchtlinge ... Ich erinnere mich nicht, über welche Straßen und Berge wir gekommen sind - wir wußten ja ihre Namen nicht, hatten keine Karten und besaßen auch keinerlei Vorkenntnisse.“// (Hopkirk, S. 273) ))
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 ==== I am sailin' ... ====  ==== I am sailin' ... ==== 
-Afrika lockt ihn. In Brindisi, wo er eigentlich auf den Dampfer nach Griechenland wartet, kauft er spontan die //„Santa Barbara“,// ein sechs Meter langes Fischerboot ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 29)). Damit fährt er, zum Entsetzen der italienischen Fischer, über Korfu und Korinth, zunächst nach Athen und trifft dort einen //„jungen Burschen im typischen Kostüm des deutschen Wandervogels - offenes Hemd, kurze Kordhose und Sandalen an den nackten Füßen ... Karl erschien wie verabredet am Samstagnachmittag mit Rucksack und daran anhängendem Kochgeschirr. Ein echter Wandervogel!“.// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 41, 43)) In Syros verkaufte er die „Santa Barbara“ und beteiligt sich mit dem Erlös fünzigprozentig an der „Austria“, einem sloopgetakelten Siebentonnenboot. Mit an Bord sind // „Ein schmächtiger Bursche mit einem Menjoubärtchen, das mich sogleich gegen ihn einnahm“,//  ein Österreicher namens ''Pirkhahn'',  „der zweite namens ''Antezzi'', war schon ein älterer Jahrgang. ... Der dritte war ein erst achtzehnjähriger Schuljunge... Tiroler und wurde Hem genannt.“ ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 48)) Ein wenig Geld verdient er sich mit dem Schreiben von illustrierten Artikeln für Schweizer Zeitungen. ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 92)) In Beirut trennt er sich von den Österreichern, die „Austria“ wird verkauft, er erhält 150 Pfund und kauft sich für 85 Pfund ein kleineres Boot.+Afrika lockt ihn. In Brindisi, wo er eigentlich auf den Dampfer nach Griechenland wartet, kauft er spontan die //„Santa Barbara“,// ein sechs Meter langes Fischerboot ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 29)). Damit fährt er, zum Entsetzen der italienischen Fischer, über Korfu und Korinth, zunächst nach Athen und trifft dort einen //„jungen Burschen im typischen Kostüm des deutschen Wandervogels - offenes Hemd, kurze Kordhose und Sandalen an den nackten Füßen ... Karl erschien wie verabredet am Samstagnachmittag mit [[wiki:rucksack|Rucksack]] und daran anhängendem Kochgeschirr. Ein echter Wandervogel!“.// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 41, 43)) In Syros verkaufte er die „Santa Barbara“ und beteiligt sich mit dem Erlös fünzigprozentig an der „Austria“, einem sloopgetakelten Siebentonnenboot. Mit an Bord sind // „Ein schmächtiger Bursche mit einem Menjoubärtchen, das mich sogleich gegen ihn einnahm“,//  ein Österreicher namens ''Pirkhahn'',  „der zweite namens ''Antezzi'', war schon ein älterer Jahrgang. ... Der dritte war ein erst achtzehnjähriger Schuljunge... Tiroler und wurde Hem genannt.“ ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 48)) Ein wenig Geld verdient er sich mit dem Schreiben von illustrierten Artikeln für Schweizer Zeitungen. ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 92)) In Beirut trennt er sich von den Österreichern, die „Austria“ wird verkauft, er erhält 150 Pfund und kauft sich für 85 Pfund ein kleineres Boot.
  
 ==== Illegal in Palästina ==== ==== Illegal in Palästina ====
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 ==== Schiffbruch und Landurlaub ==== ==== Schiffbruch und Landurlaub ====
-In der vierten Nacht nach dem Auslaufen aus Freetown in Sierra Leone erlitt er Schiffbruch. Mit seinem Beiboot rettet er sich an Land, kann noch seine Papiere, Geld, Wasser und Lebensmittel an sich raffen, bevor die „Ruetli 650“ endgültig in der Nähe des Ufers sinkt. Mit einigen Tauchgängen holt er am nächsten Tag die wichtigsten Sachen aus dem Schiff heraus. Dann ging er zu Fuß nach Freetown: //„Mit einem improvisierten Rucksack auf dem Rücken, der nur Konserven und Trinkwasser in Flaschen enthielt und der mir in der Nacht als Decke diente, begann ich den Hundertmeilenmarsch.“// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 295))\\  +In der vierten Nacht nach dem Auslaufen aus Freetown in Sierra Leone erlitt er Schiffbruch. Mit seinem Beiboot rettet er sich an Land, kann noch seine Papiere, Geld, Wasser und [[wiki:lebensmittel|Lebensmittel]] an sich raffen, bevor die „Ruetli 650“ endgültig in der Nähe des Ufers sinkt. Mit einigen Tauchgängen holt er am nächsten Tag die wichtigsten Sachen aus dem Schiff heraus. Dann ging er zu Fuß nach Freetown: //„Mit einem improvisierten [[wiki:rucksack|Rucksack]] auf dem Rücken, der nur Konserven und Trinkwasser in Flaschen enthielt und der mir in der Nacht als Decke diente, begann ich den Hundertmeilenmarsch.“// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 295))\\  
-Acht Tage lief er, elf Monate saß er in Freetown fest, dann, im März 1943 konnte er auf einem Frachter nach Kapstadt fahren. Dachte er. Denn nach zwei Tagen drehte der Frachter und fuhr stattdessen nach England. Nach einigen Tagen erfolgte ein Luftangriff, tags drauf kamen die U-Boote. Ein Treffer an der Steuerbordseite ließ den Frachter sinken, Meiss-Teuffen und einige andere retteten sich auf ein Rettungsfloß, dabei gingen auch seine letzten Habseligkeiten verloren. Aus Seenot gerettet, werden die Schiffbrüchigen nach England gebracht: Dort ist er auch als neutraler Ausländer den dortigen kriegsbedingten Arbeitspflichtgesetzen unterworfen. Er verbringt den Rest des Krieges als Lastkraftwagenfahrer und verdient genug, um sich bei Ende des Krieges wieder ein Sieben-Tonnen-Segelboot, eine 35-mm-Filmkamera, Leica und Rolleiflex, Sextant und Chronometer kaufen zu können. Als lukrativen Nebenjob hatte er das Handdrucken von Kopftüchern, Schals und Stoffen für Damenkleider begonnen. Schon seine ersten vier „Schöpfungen“ waren so gut, daß sie von einer Stoffdruckfirma in Manchester angekauft wurden. //„Das Hinüberwechseln vom schlechtbezahlten Chauffeur zum gutbezahlten, schöpferisch schaffenden Künstler war wohl das Eigenartigste im oftmaligen Auf und Ab meines Lebens.“// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 306))+Acht Tage lief er, elf Monate saß er in Freetown fest, dann, im März 1943 konnte er auf einem Frachter nach Kapstadt fahren. Dachte er. Denn nach zwei Tagen drehte der Frachter und fuhr stattdessen nach England. Nach einigen Tagen erfolgte ein Luftangriff, tags drauf kamen die U-Boote. Ein Treffer an der Steuerbordseite ließ den Frachter sinken, Meiss-Teuffen und einige andere retteten sich auf ein Rettungsfloß, dabei gingen auch seine letzten Habseligkeiten verloren. Aus Seenot gerettet, werden die Schiffbrüchigen nach England gebracht: Dort ist er auch als neutraler [[wiki:auslaender|Ausländer]] den dortigen kriegsbedingten Arbeitspflichtgesetzen unterworfen. Er verbringt den Rest des Krieges als Lastkraftwagenfahrer und verdient genug, um sich bei Ende des Krieges wieder ein Sieben-Tonnen-Segelboot, eine 35-mm-Filmkamera, Leica und Rolleiflex, Sextant und Chronometer kaufen zu können. Als lukrativen Nebenjob hatte er das Handdrucken von Kopftüchern, Schals und Stoffen für Damenkleider begonnen. Schon seine ersten vier „Schöpfungen“ waren so gut, daß sie von einer Stoffdruckfirma in Manchester angekauft wurden. //„Das Hinüberwechseln vom schlechtbezahlten Chauffeur zum gutbezahlten, schöpferisch schaffenden Künstler war wohl das Eigenartigste im oftmaligen Auf und Ab meines Lebens.“// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 306))
  
 ==== Alles im Lot auf'm Boot ==== ==== Alles im Lot auf'm Boot ====
-Er kaufte sich im Juli 1945 ein Schiff, die// „Speranza“,// und verließ Ende August England über die Themse, als erster privater Schiffsführer nach dem Krieg, dabei Spezialkarten der //Royal Navy// benutzend, die die noch existierenden Minenfelder enthielten. Er hatte versprechen müssen, die Karten nach Passieren der Minenfelder sofort zu vernichten. In Lissabon überwinterte er an Bord seines Schiffes:  //„Am Nachmittag kamen meist Bekannte, die ihren Bekannten das Schiff zeigen wollten, und abends mußte im neu angeschafften Smoking zu einer der vielen Einladungen gegangen werden, wo alte Bestellungen [für bedruckte Tücher] abgeliefert und neue Aufträge angenommen wurden. Gesellschaftliches Leben war für mich zur Notwendigkeit geworden. ... Nach den schweren Winterregen ... drehte ich ... einen Dokumentarfilm über Kork. Mehr als eine Woche verbrachte ich in den ausgedehnten Korkwäldern im Süden Portugals.“// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 331)) Zwei weitere Filme haben den Stierkampf und einen „Spaziergang durch Lissabon“ zum Thema.\\ +Er kaufte sich im Juli 1945 ein Schiff, die// „Speranza“,// und verließ Ende August England über die Themse, als erster privater Schiffsführer nach dem Krieg, dabei Spezialkarten der //Royal Navy// benutzend, die die noch existierenden Minenfelder enthielten. Er hatte versprechen müssen, die Karten nach Passieren der Minenfelder sofort zu vernichten. In Lissabon überwinterte er an Bord seines Schiffes:  //„Am Nachmittag kamen meist Bekannte, die ihren Bekannten das Schiff zeigen wollten, und abends mußte im neu angeschafften Smoking zu einer der vielen Einladungen gegangen werden, wo alte Bestellungen [für bedruckte Tücher] abgeliefert und neue Aufträge angenommen wurden. Gesellschaftliches Leben war für mich zur Notwendigkeit geworden. ... Nach den schweren Winterregen ... drehte ich ... einen Dokumentarfilm über Kork. Mehr als eine Woche verbrachte ich in den ausgedehnten Korkwäldern im Süden Portugals.“// ((Meiss-Teuffen, Ziel im Wind, 331)) Zwei weitere Filme haben den Stierkampf und einen „[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] durch Lissabon“ zum Thema.\\ 
 Am 11. März 1946 segelte er schließlich weiter. Drei Wochen blieb er in Tanger, ebenso lange in Gibraltar, und hielt dort Vorträge über Einhandsegeln vor den englischen Offizieren und Kadetten. Den vorläufigen Abschluß seiner zwölfjährigen Vagabundenzeit auf dem Meer bildete die Überquerung des Atlantiks in der Rekordzeit von 58 Tagen über Neufundland und Neuschottland. Es schlossen sich drei Jahre in Amerika an und im April 1949 finden wir ihn in Alaska überwinternd und dieses Buch schreibend. Drei Vortragsreisen durch die USA und Deutschland folgten 1949/50. Am 11. März 1946 segelte er schließlich weiter. Drei Wochen blieb er in Tanger, ebenso lange in Gibraltar, und hielt dort Vorträge über Einhandsegeln vor den englischen Offizieren und Kadetten. Den vorläufigen Abschluß seiner zwölfjährigen Vagabundenzeit auf dem Meer bildete die Überquerung des Atlantiks in der Rekordzeit von 58 Tagen über Neufundland und Neuschottland. Es schlossen sich drei Jahre in Amerika an und im April 1949 finden wir ihn in Alaska überwinternd und dieses Buch schreibend. Drei Vortragsreisen durch die USA und Deutschland folgten 1949/50.
 Meiss-Teuffen war unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg unterwegs, lange Zeit während des Krieges und unmittelbar nach dessen Ende wieder. Nirgends erwähnt er die Begegnung mit anderen Reisenden; das Maß der Aufmerksamkeit, das ihm unterwegs zuteil wird, läßt ihn als Reisenden einzigartig dastehen. Meiss-Teuffen war unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg unterwegs, lange Zeit während des Krieges und unmittelbar nach dessen Ende wieder. Nirgends erwähnt er die Begegnung mit anderen Reisenden; das Maß der Aufmerksamkeit, das ihm unterwegs zuteil wird, läßt ihn als Reisenden einzigartig dastehen.
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 === Auch Flieger müssen fliehen === === Auch Flieger müssen fliehen ===
 ''Gunther Plüschow'' war Offizier und bei Kriegsanfang als (einziger) Marineflieger in der damals deutschen Kolonie Tsingtau in China eingesetzt. Das Ultimatum der Japaner vom 15.8.1914 ging den Kampfhandlungen voraus. Kurz vor dem Fall der Stadt hatte Plüschow den Auftrag, das Flugzeug in Sicherheit zu bringen und sich selbst abzusetzen. Er flog, so weit er kam, und landete am 6.11.1914 auf einem Acker in der Nähe der chinesischen Stadt Hai-Dschou, ließ den Motor bei den Behörden in Sicherheit bringen und entging, obwohl auf neutralem Gebiet, selbst nur durch Flucht einer Internierung in Nanking. Damit begann sein Leben als Reisender, der sich irgendwie nach Deutschland durchzuschlagen versuchte. Freunde halfen ihm, sich als Nähmaschinenfabrikant ''McGarvin'' in Schanghai nach Amerika einzuschiffen. Bei den Kontrollen in fünf angelaufenen japanischen Häfen halfen ihm der Schiffsarzt, eine vorgetäuschte Krankheit und die luxuriöse Erste-Klasse-Umgebung - die Papiere wurden nicht kontrolliert. In Honolulu und San Francisco stürzten sich die Reporter auf ihn, seine Flucht und seine Fliegereinsätze hatten sich bereits herumgesprochen. Aber trotz ihrer Neutralität im Krieg hatten Presse und Öffentlichkeit Partei ergriffen gegen Deutschland, Plüschow bekam das zu spüren.\\  ''Gunther Plüschow'' war Offizier und bei Kriegsanfang als (einziger) Marineflieger in der damals deutschen Kolonie Tsingtau in China eingesetzt. Das Ultimatum der Japaner vom 15.8.1914 ging den Kampfhandlungen voraus. Kurz vor dem Fall der Stadt hatte Plüschow den Auftrag, das Flugzeug in Sicherheit zu bringen und sich selbst abzusetzen. Er flog, so weit er kam, und landete am 6.11.1914 auf einem Acker in der Nähe der chinesischen Stadt Hai-Dschou, ließ den Motor bei den Behörden in Sicherheit bringen und entging, obwohl auf neutralem Gebiet, selbst nur durch Flucht einer Internierung in Nanking. Damit begann sein Leben als Reisender, der sich irgendwie nach Deutschland durchzuschlagen versuchte. Freunde halfen ihm, sich als Nähmaschinenfabrikant ''McGarvin'' in Schanghai nach Amerika einzuschiffen. Bei den Kontrollen in fünf angelaufenen japanischen Häfen halfen ihm der Schiffsarzt, eine vorgetäuschte Krankheit und die luxuriöse Erste-Klasse-Umgebung - die Papiere wurden nicht kontrolliert. In Honolulu und San Francisco stürzten sich die Reporter auf ihn, seine Flucht und seine Fliegereinsätze hatten sich bereits herumgesprochen. Aber trotz ihrer Neutralität im Krieg hatten Presse und Öffentlichkeit Partei ergriffen gegen Deutschland, Plüschow bekam das zu spüren.\\ 
-Schwierig war es, einen Platz auf einem Schiff nach Europa zu bekommen. Das gelang ihm erst mit einem gefälschten Paß, der ihn als Schweizer ausgab, und ihm die Passage auf einem italienischen Schiff ermöglichte. Bei der Durchfahrt durch die Meerenge von Gibraltar wurden sie von Engländern kontrolliert:  //„Der englische Offizier ließ sich auf nichts mehr ein, er sagte bloß, es seien bereits so viel Schweizer durch Gibraltar durchgefahren, so viele gäbe es in der ganzen Welt nicht.“// ((Plüschow, Die Abenteuer des Fliegers ..., 112)) \\ +Schwierig war es, einen Platz auf einem Schiff nach Europa zu bekommen. Das gelang ihm erst mit einem gefälschten Paß, der ihn als Schweizer ausgab, und ihm die [[wiki:passage|Passage]] auf einem italienischen Schiff ermöglichte. Bei der Durchfahrt durch die Meerenge von Gibraltar wurden sie von Engländern kontrolliert:  //„Der englische Offizier ließ sich auf nichts mehr ein, er sagte bloß, es seien bereits so viel Schweizer durch Gibraltar durchgefahren, so viele gäbe es in der ganzen Welt nicht.“// ((Plüschow, Die Abenteuer des Fliegers ..., 112)) \\ 
 Fünf „Schweizer“, darunter auch Plüschow, wurden verhaftet und interniert, nachdem sie nicht in der Lage waren, mit einem echten Schweizer Schwyzerdütsch zu reden. Wenig später wurden alle Lagerinsassen nach England überführt. Während die Behandlung in den Überführungslagern sehr schlecht war, besserten sich die Umstände erheblich, nachdem Plüschow in das Offizierslager von Dorchester kam: freie Bewegung innerhalb aller Gebäude und des Geländes, Sportmöglichkeiten, eigene Wäscherei und Schneider; ein Streichquartett und ein Gesangverein wurden gegründet. Die Gefangenen erhielten ein Gehalt von einhundertzwanzig Mark monatlich, abzüglich sechzig Mark für Verpflegung. Die Post von Deutschland funktionierte tadellos, außerdem konnte man sich Geld und Pakete schicken lassen. Allerdings durfte man nur begrenzt nach Deutschland schreiben.\\  Fünf „Schweizer“, darunter auch Plüschow, wurden verhaftet und interniert, nachdem sie nicht in der Lage waren, mit einem echten Schweizer Schwyzerdütsch zu reden. Wenig später wurden alle Lagerinsassen nach England überführt. Während die Behandlung in den Überführungslagern sehr schlecht war, besserten sich die Umstände erheblich, nachdem Plüschow in das Offizierslager von Dorchester kam: freie Bewegung innerhalb aller Gebäude und des Geländes, Sportmöglichkeiten, eigene Wäscherei und Schneider; ein Streichquartett und ein Gesangverein wurden gegründet. Die Gefangenen erhielten ein Gehalt von einhundertzwanzig Mark monatlich, abzüglich sechzig Mark für Verpflegung. Die Post von Deutschland funktionierte tadellos, außerdem konnte man sich Geld und Pakete schicken lassen. Allerdings durfte man nur begrenzt nach Deutschland schreiben.\\ 
 Mit der Zeit packte ihn die Gefangenenkoller:  //„Die Krankheit der furchtbarsten Verzweiflung, der vollständigsten Hoffnungslosigkeit.“// ((Plüschow, Die Abenteuer des Fliegers ..., 143))  Er blieb aufmerksam, sammelte Informationen und plante die Flucht mit einem Kameraden. Am 4.7.1915 meldeten sie sich krank und bei der abendlichen Musterung legten sich zwei informierte Kameraden stellvertretend für die Flüchtigen ins Bett. Nachts überkletterten sie, geschützt mit Lederhandschuhe, Ledergamaschen und Wickelgamaschen, die zwei elektrisch gesicherten Stacheldrahtzäune und eine Mauer und befanden sich (vorläufig) in Freiheit. Als wichtigste Ausrüstung hatten sie sich Rasierapparate, Nähnadeln, Kragen, Schlips und eine Kleiderbürste mitgenommen - gepflegte Menschen fallen weniger auf! So erreichten sie London, allerdings auf getrennten Wegen, doch sein Kamerad wurde noch in den ersten 24 Stunden gefaßt. Anderntags hingen überall Steckbriefe und Plüschow entschied sich für ein neues Image: Hut, Kragen, Schlips und Mantel flogen ins Wasser, die blonden Haare wurden mit Vaseline, Schuhwichse und Kohlenstaub schwarz,  //„die Hände sahen bald aus, als wenn sie niemals mit Wasser in Berührung gekommen wären, und zu guter Letzt wälzte ich mich auf einem Kohlenhaufen tüchtig herum, und schon war der streikende Dockarbeiter G. Mine fertig. ... Mit meiner Mütze frech im Genick, vor Schmutz starrend, die Jacke offen, den blauen Seemannssweater und als einzige Zierde den Kragenknopf zeigend, mit den Händen in den Taschen, pfeifend und spuckend und mich überall herumlümmelnd, wie ich es zu tausenden Malen in allen Hafenstädten der ganzen Welt gesehen hatte, trieb ich mich tagelang in London herum, ohne auch nur jemals den leisesten Verdacht bei irgendeinem Menschen zu erwecken, daß ich etwas anderes sei, als wonach ich aussah. Darauf beruhte mein ganzer Plan.“// ((Plüschow, Die Abenteuer des Fliegers ..., 160)) Er übernachtete im Hafen in einem Holz- und Gerümpellager und wartete auf einen passenden Dampfer mit Ziel Holland. Das dauerte einige Tage, in der Zwischenzeit suchte er ein verlassenes Ruderboot und an anderer Stelle passende Ruder, um nachts zu einem Dampfer hinüberwricken ((Da Plüschow nur ein Ruder besitzt, bewegte er das Boot am Heck stehend, den Riemen hin und her bewegend: wricken oder wriggen genannt.)) zu können. Einmal an Bord der //„Prinzeß Juliana“// gelangte er so nach Vlissingen, von da aus mit dem Zug nach Deutschland. Neun Monate dauerte die Odyssee von Tsingtau nach Goch am Niederrhein. Mit der Zeit packte ihn die Gefangenenkoller:  //„Die Krankheit der furchtbarsten Verzweiflung, der vollständigsten Hoffnungslosigkeit.“// ((Plüschow, Die Abenteuer des Fliegers ..., 143))  Er blieb aufmerksam, sammelte Informationen und plante die Flucht mit einem Kameraden. Am 4.7.1915 meldeten sie sich krank und bei der abendlichen Musterung legten sich zwei informierte Kameraden stellvertretend für die Flüchtigen ins Bett. Nachts überkletterten sie, geschützt mit Lederhandschuhe, Ledergamaschen und Wickelgamaschen, die zwei elektrisch gesicherten Stacheldrahtzäune und eine Mauer und befanden sich (vorläufig) in Freiheit. Als wichtigste Ausrüstung hatten sie sich Rasierapparate, Nähnadeln, Kragen, Schlips und eine Kleiderbürste mitgenommen - gepflegte Menschen fallen weniger auf! So erreichten sie London, allerdings auf getrennten Wegen, doch sein Kamerad wurde noch in den ersten 24 Stunden gefaßt. Anderntags hingen überall Steckbriefe und Plüschow entschied sich für ein neues Image: Hut, Kragen, Schlips und Mantel flogen ins Wasser, die blonden Haare wurden mit Vaseline, Schuhwichse und Kohlenstaub schwarz,  //„die Hände sahen bald aus, als wenn sie niemals mit Wasser in Berührung gekommen wären, und zu guter Letzt wälzte ich mich auf einem Kohlenhaufen tüchtig herum, und schon war der streikende Dockarbeiter G. Mine fertig. ... Mit meiner Mütze frech im Genick, vor Schmutz starrend, die Jacke offen, den blauen Seemannssweater und als einzige Zierde den Kragenknopf zeigend, mit den Händen in den Taschen, pfeifend und spuckend und mich überall herumlümmelnd, wie ich es zu tausenden Malen in allen Hafenstädten der ganzen Welt gesehen hatte, trieb ich mich tagelang in London herum, ohne auch nur jemals den leisesten Verdacht bei irgendeinem Menschen zu erwecken, daß ich etwas anderes sei, als wonach ich aussah. Darauf beruhte mein ganzer Plan.“// ((Plüschow, Die Abenteuer des Fliegers ..., 160)) Er übernachtete im Hafen in einem Holz- und Gerümpellager und wartete auf einen passenden Dampfer mit Ziel Holland. Das dauerte einige Tage, in der Zwischenzeit suchte er ein verlassenes Ruderboot und an anderer Stelle passende Ruder, um nachts zu einem Dampfer hinüberwricken ((Da Plüschow nur ein Ruder besitzt, bewegte er das Boot am Heck stehend, den Riemen hin und her bewegend: wricken oder wriggen genannt.)) zu können. Einmal an Bord der //„Prinzeß Juliana“// gelangte er so nach Vlissingen, von da aus mit dem Zug nach Deutschland. Neun Monate dauerte die Odyssee von Tsingtau nach Goch am Niederrhein.
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 === Flucht aus Sibirien === === Flucht aus Sibirien ===
-Killinger beschloß, nach sechs Monaten Kriegsgefangenschaft während der Fahrt zu fliehen. An der Abzweigung bei Kaidalowskoje, kurz hinter Charbin, dort, wo sich die nördliche und die südliche Linie der Transsib trennen, sprangen er und drei Kameraden aus dem Zug. Ihre Flucht wurde sofort bemerkt, der Zug hielt, die vier liefen, was die Beine hergaben. Es war bereits September, die ersten Schneefälle machten eine Verfolgung schwierig und so entkamen sie im sumpfigen Gelände.\\  +Killinger beschloß, nach sechs Monaten Kriegsgefangenschaft während der [[wiki:fahrt|Fahrt]] zu fliehen. An der Abzweigung bei Kaidalowskoje, kurz hinter Charbin, dort, wo sich die nördliche und die südliche Linie der Transsib trennen, sprangen er und drei Kameraden aus dem Zug. Ihre Flucht wurde sofort bemerkt, der Zug hielt, die vier liefen, was die Beine hergaben. Es war bereits September, die ersten Schneefälle machten eine Verfolgung schwierig und so entkamen sie im sumpfigen Gelände.\\  
-In einem Rucksack trugen sie einige bescheidene Vorräte mit sich: Brot und Wurst mußten erst im Mund aufgetaut werden, bevor man sie beißen konnte; Schnee diente als Wasserersatz und kühlte den Körper zusätzlich aus; Mäntel, Schals und Handschuhe hatten sie nicht mehr. Wege gab es nicht, Pfade mieden sie aus Angst vor unerwarteten Begegnungen. Erst als die Vorräte zu Ende gingen und der Hunger sie dazu brachte, eine Kerze zu essen, suchten sie auch abseits liegende Gehöfte auf: //„Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, mit Gebärden unsere Wünsche darzutun, hatten wir bald herausgefunden. daß man zunächst das Vertrauen dieser Leute gewinnen mußte, was am schnellsten durch Erregung ihrer Neugier geschah. Wenn Obermaschinist L. seine schon lange verrostete Taschenuhr herauszog, die wir dann interessiert betrachteten, dann reckten sich die Hälse, und jeder schob den anderen nach vorn, um hinter dessen Rücken auch einen Blick auf diesen Zauberapparat zu erhaschen. ... und wenn erst einige Minuten verstrichen waren, dann war ein ganz Kühner uns meistens schon so nah auf den Leib gerückt, daß er mit spitzen Fingern unsere noch nie gesehenen Gegenstände berühren konnte. Jetzt schnell die Uhr eingesteckt, denn nun wollten alle anderen auch anfassen, und das mußte vermieden werden, denn der erste war doch nun ein Held in den Augen der anderen, und das mußte er bleiben. Sollte er doch jetzt von uns dadurch ausgezeichnet werden, daß wir uns gerade in seiner Hütte aufzuwärmen gedachten.“// ((Killinger, Flucht um die Erde, 99 f.))\\ //+In einem [[wiki:rucksack|Rucksack]] trugen sie einige bescheidene Vorräte mit sich: Brot und Wurst mußten erst im Mund aufgetaut werden, bevor man sie beißen konnte; Schnee diente als Wasserersatz und kühlte den Körper zusätzlich aus; Mäntel, Schals und Handschuhe hatten sie nicht mehr. Wege gab es nicht, Pfade mieden sie aus Angst vor unerwarteten Begegnungen. Erst als die Vorräte zu Ende gingen und der Hunger sie dazu brachte, eine Kerze zu essen, suchten sie auch abseits liegende Gehöfte auf: //„Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, mit Gebärden unsere Wünsche darzutun, hatten wir bald herausgefunden. daß man zunächst das [[wiki:vertrauen|Vertrauen]] dieser Leute gewinnen mußte, was am schnellsten durch Erregung ihrer Neugier geschah. Wenn Obermaschinist L. seine schon lange verrostete Taschenuhr herauszog, die wir dann interessiert betrachteten, dann reckten sich die Hälse, und jeder schob den anderen nach vorn, um hinter dessen Rücken auch einen Blick auf diesen Zauberapparat zu erhaschen. ... und wenn erst einige Minuten verstrichen waren, dann war ein ganz Kühner uns meistens schon so nah auf den Leib gerückt, daß er mit spitzen Fingern unsere noch nie gesehenen Gegenstände berühren konnte. Jetzt schnell die Uhr eingesteckt, denn nun wollten alle anderen auch anfassen, und das mußte vermieden werden, denn der erste war doch nun ein Held in den Augen der anderen, und das mußte er bleiben. Sollte er doch jetzt von uns dadurch ausgezeichnet werden, daß wir uns gerade in seiner Hütte aufzuwärmen gedachten.“// ((Killinger, Flucht um die Erde, 99 f.))\\ //
 Die Leute waren gutmütig und gastfreundlich, auch wenn den Flüchtenden nie ganz geheuer war bei dem, was sie aßen:  „Der anfängliche Widerwille gegen die uns unbekannten Gerichte, die wir möglichst heiß aus kleinen Näpfen schlürften, war bald überwunden, denn sehen konnte man ja doch nicht, was man aß, da es keine Beleuchtung gab, und zu riechen war auch nicht viel, dafür sorgten schon der beißende Rauch des Feuers, der Geruch des Unrats auf dem Boden und nicht zuletzt die Ausdünstungen der Gastgeber. ... Wir wurden nach der größten Hütte geführt und bekamen Tee. Eigentlich ist das ja nicht der richtige Ausdruck für das Getränk, das uns da gereicht wurde, aber da das Zeug heiß und grün gefärbt war, nannten wir es eben Tee. Dann gab es in kleinen Näpfen etwas, was zunächst langen Regenwürmern glich; beim Kosten stellte sich aber, Gott sei Dank, heraus, daß es doch etwas anderes sein müsse. Was es wirklich war, weiß ich heute noch nicht; jedenfalls haben wir's gegessen.“// ((Killinger, Flucht um die Erde, 101))\\  Die Leute waren gutmütig und gastfreundlich, auch wenn den Flüchtenden nie ganz geheuer war bei dem, was sie aßen:  „Der anfängliche Widerwille gegen die uns unbekannten Gerichte, die wir möglichst heiß aus kleinen Näpfen schlürften, war bald überwunden, denn sehen konnte man ja doch nicht, was man aß, da es keine Beleuchtung gab, und zu riechen war auch nicht viel, dafür sorgten schon der beißende Rauch des Feuers, der Geruch des Unrats auf dem Boden und nicht zuletzt die Ausdünstungen der Gastgeber. ... Wir wurden nach der größten Hütte geführt und bekamen Tee. Eigentlich ist das ja nicht der richtige Ausdruck für das Getränk, das uns da gereicht wurde, aber da das Zeug heiß und grün gefärbt war, nannten wir es eben Tee. Dann gab es in kleinen Näpfen etwas, was zunächst langen Regenwürmern glich; beim Kosten stellte sich aber, Gott sei Dank, heraus, daß es doch etwas anderes sein müsse. Was es wirklich war, weiß ich heute noch nicht; jedenfalls haben wir's gegessen.“// ((Killinger, Flucht um die Erde, 101))\\ 
 Nach etwa vierzehn Tagen gelangten sie in eine kleine Stadt namens Mompanse und schlugen von dort den Weg nach Kirin ein, einer Stadt, die an dem Fluß Sungari liegt, etwa in der Mitte zwischen Mukden ((Heute Shenyang)) und Charbin ((Heute „Harbin“)). In Kirin angekommen, wurden sie von einem der beiden dort ansässigen Deutschen freundlich bewirtet. Dieser erzählte, daß bereits ein halbes Jahr vorher elf deutsche und österreichische Offiziere die Flucht auf der gleichen Route versucht hätten, jedoch nur vier hätten Kirin lebend erreicht und wären nun in Tientsin interniert.\\  Nach etwa vierzehn Tagen gelangten sie in eine kleine Stadt namens Mompanse und schlugen von dort den Weg nach Kirin ein, einer Stadt, die an dem Fluß Sungari liegt, etwa in der Mitte zwischen Mukden ((Heute Shenyang)) und Charbin ((Heute „Harbin“)). In Kirin angekommen, wurden sie von einem der beiden dort ansässigen Deutschen freundlich bewirtet. Dieser erzählte, daß bereits ein halbes Jahr vorher elf deutsche und österreichische Offiziere die Flucht auf der gleichen Route versucht hätten, jedoch nur vier hätten Kirin lebend erreicht und wären nun in Tientsin interniert.\\ 
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 === Von China nach Amerika === === Von China nach Amerika ===
-Dann beginnt die Vorbereitung für die Flucht aus China: Ihm bleibt nur die Passage mit einem Schiff über Japan nach Amerika, denn sich durch Zentralasien nach Persien durchzuschlagen, ist zu aufwendig und zeitraubend; die Fahrt mit dem Schiff um Indien wiederum ausgeschlossen wegen der zahlreichen englischen Kontrollen. Killinger entscheidet sich, eine französische Identität anzunehmen:  //„Jetzt hieß es, sich einen französischen Paß zu besorgen; Anzüge, wenn möglich mit französischen Firmen im Futter; Koffer, denen man an ihren aufgeklebten Zetteln, wie: „Hotel du Louvre, Lyon“, „Hotel de la Paix, Paris“, ansah, daß sie viel in Frankreich gewesen waren. Ein paar französische Briefe, Fotografien und Zeitungen mußten ebenfalls beigebracht werden.“// ((Killinger, Flucht um die Erde, 133))\\ +Dann beginnt die Vorbereitung für die Flucht aus China: Ihm bleibt nur die [[wiki:passage|Passage]] mit einem Schiff über Japan nach Amerika, denn sich durch Zentralasien nach Persien durchzuschlagen, ist zu aufwendig und zeitraubend; die [[wiki:fahrt|Fahrt]] mit dem Schiff um Indien wiederum ausgeschlossen wegen der zahlreichen englischen Kontrollen. Killinger entscheidet sich, eine französische Identität anzunehmen:  //„Jetzt hieß es, sich einen französischen Paß zu besorgen; Anzüge, wenn möglich mit französischen Firmen im Futter; Koffer, denen man an ihren aufgeklebten Zetteln, wie: „Hotel du Louvre, Lyon“, „Hotel de la Paix, Paris“, ansah, daß sie viel in Frankreich gewesen waren. Ein paar französische Briefe, Fotografien und Zeitungen mußten ebenfalls beigebracht werden.“// ((Killinger, Flucht um die Erde, 133))\\ 
 Er verbessert sein Französisch und Englisch, läßt sich in Sprachstunden seinen Akzent austreiben, paukt die bei Seeleuten üblichen Redewendungen. Dann besorgte er sich Kataloge, Geschäftspapiere und Briefbogen einer Schweizer Maschinenfabrik. Einen abgelaufenen französischen Paß kaufte er auf dem Schwarzmarkt, den Stempel des französischen Vizekonsuls in Che-foo schnitzte ein Chinese aus Holz, die Unterschrift des Vizekonsuls wurde durchgepaust, eine passende Legende für seinen Lebenslauf und seine jetzige Reise zurechtgestrickt. Am 1. Januar 1916 verließ er mit einem japanischen Dampfer Shanghai.\\  Er verbessert sein Französisch und Englisch, läßt sich in Sprachstunden seinen Akzent austreiben, paukt die bei Seeleuten üblichen Redewendungen. Dann besorgte er sich Kataloge, Geschäftspapiere und Briefbogen einer Schweizer Maschinenfabrik. Einen abgelaufenen französischen Paß kaufte er auf dem Schwarzmarkt, den Stempel des französischen Vizekonsuls in Che-foo schnitzte ein Chinese aus Holz, die Unterschrift des Vizekonsuls wurde durchgepaust, eine passende Legende für seinen Lebenslauf und seine jetzige Reise zurechtgestrickt. Am 1. Januar 1916 verließ er mit einem japanischen Dampfer Shanghai.\\ 
-Während der einen Monat dauernden Passage suchte er sich mit möglichst vielen Passagieren bekanntzumachen, um in deren Reisegruppen „unterzutauchen“. Doch die Fahrt nach San Francisco verläuft gefahrlos. Ein Schiff nach Europa konnte er nur in New York finden und machte sich mit der Eisenbahn auf den Weg.+Während der einen Monat dauernden [[wiki:passage|Passage]] suchte er sich mit möglichst vielen Passagieren bekanntzumachen, um in deren Reisegruppen „unterzutauchen“. Doch die [[wiki:fahrt|Fahrt]] nach San Francisco verläuft gefahrlos. Ein Schiff nach Europa konnte er nur in New York finden und machte sich mit der Eisenbahn auf den Weg.
  
 === Von New York nach Norwegen === === Von New York nach Norwegen ===
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 ===== 5 Bedingungen und Verhalten in Zwangssituationen ===== ===== 5 Bedingungen und Verhalten in Zwangssituationen =====
 ==== Selbstbestimmung und Objekt ==== ==== Selbstbestimmung und Objekt ====
-Zweimal im 20. Jahrhundert unterbrachen Kriege weltweit die Kontinuität des Gewohnten, einmal vier, dann noch einmal sechs Jahre lang, gefolgt von Jahren nur langsamer Normalisierung im Schatten der Kriege. Reisende bewegen sich immer außerhalb der Normalität und des Alltags, doch in den Zeiten der Not und des Krieges, finden sie sich in außergewöhnlichem Maße staatlichen Zwängen und menschlicher Willkür ausgesetzt. Extremsituationen werden zur alltäglichen Routine, zum permanenten Existenzkampf.+Zweimal im [[wiki:reisegenerationen#20. Jahrhundert|20. Jahrhundert]] unterbrachen Kriege weltweit die Kontinuität des Gewohnten, einmal vier, dann noch einmal sechs Jahre lang, gefolgt von Jahren nur langsamer Normalisierung im Schatten der Kriege. Reisende bewegen sich immer außerhalb der Normalität und des Alltags, doch in den Zeiten der Not und des Krieges, finden sie sich in außergewöhnlichem Maße staatlichen Zwängen und menschlicher Willkür ausgesetzt. Extremsituationen werden zur alltäglichen Routine, zum permanenten Existenzkampf.
  
 //"Join the army, see the world, meet another people and kill them"// - dieser satirisch verfremdete Werbespruch für die US-Army aus der Zeit des Vietnamkrieges deutet Ähnlichkeiten zwischen Soldaten und Reisenden an. Beide sind unterwegs in der Welt, treffen Menschen und sehen die Welt. Survivaltechniken und Ausrüstung entstammen oft militärischer Forschung und Entwicklung. Auch Rudyard Kipling sieht solche Ähnlichkeiten (siehe oben). //"Join the army, see the world, meet another people and kill them"// - dieser satirisch verfremdete Werbespruch für die US-Army aus der Zeit des Vietnamkrieges deutet Ähnlichkeiten zwischen Soldaten und Reisenden an. Beide sind unterwegs in der Welt, treffen Menschen und sehen die Welt. Survivaltechniken und Ausrüstung entstammen oft militärischer Forschung und Entwicklung. Auch Rudyard Kipling sieht solche Ähnlichkeiten (siehe oben).
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 Wichtiger als die unterschiedlichen Ziele ist das Maß der Selbstbestimmtheit, das Soldaten und Reisende unterscheidet. Der wirklich Reisende „kämpft“ zwar mit äußeren Zwängen - er sucht sie jedoch durch Form und Stil seiner Reise selber aus und bestimmt so den Rahmen der Unwägbarkeiten und den Grad des Risikos. Seine Handlungen sind ausschließlich dem eigenen Willen und Wollen unterworfen; ob er damit sein Ziel erreicht, ist eine sekundäre Frage. Dagegen ist der Soldat nahezu ausschließlich befehlsgeleitet, ein eigener Wille unerwünscht. Und während der Reisende seine Reise jederzeit abbrechen kann, wird Desertion beim Soldaten mit dem Tode bestraft. Wichtiger als die unterschiedlichen Ziele ist das Maß der Selbstbestimmtheit, das Soldaten und Reisende unterscheidet. Der wirklich Reisende „kämpft“ zwar mit äußeren Zwängen - er sucht sie jedoch durch Form und Stil seiner Reise selber aus und bestimmt so den Rahmen der Unwägbarkeiten und den Grad des Risikos. Seine Handlungen sind ausschließlich dem eigenen Willen und Wollen unterworfen; ob er damit sein Ziel erreicht, ist eine sekundäre Frage. Dagegen ist der Soldat nahezu ausschließlich befehlsgeleitet, ein eigener Wille unerwünscht. Und während der Reisende seine Reise jederzeit abbrechen kann, wird Desertion beim Soldaten mit dem Tode bestraft.
  
-Reisende werden in Kriegszeiten wie Soldaten, Gefangene, Spione behandelt (Aram, Harrer, Sattler). Reisende sind in Kriegszeiten nun einmal häufig nicht mehr selbstbestimmt, Zwänge bestimmen ihr Dasein, Unterordnung ihr Verhalten. Sie sind Befehlen unterworfen, ihre Handlungsfreiheit ist marginalisiert, die Reise nicht mehr abbrechbar, wenngleich meist beendet.+Reisende werden in Kriegszeiten wie Soldaten, Gefangene, Spione behandelt (Aram, Harrer, Sattler). Reisende sind in Kriegszeiten nun einmal häufig nicht mehr selbstbestimmt, Zwänge bestimmen ihr Dasein, Unterordnung ihr Verhalten. Sie sind Befehlen unterworfen, ihre [[wiki:grundfreiheiten|Handlungsfreiheit]] ist marginalisiert, die Reise nicht mehr abbrechbar, wenngleich meist beendet.
  
 Ein Flüchtiger wandelt auf der Grenze zwischen beiden Extremen. Have bemerkt das bereits auf der Flucht: // „Erst jahrelang als Gefangener reines Objekt, das alles mit sich geschehen läßt, dann plötzlich, das Geschick an sich reißend, selbstbestimmter, eigenmächtiger Akteur! Aber welch labiles Gleichgewicht zwischen eigenem Handeln und den sich darbietenden, entgegenkommenden Situationen!“// ((Magener, Die Chance war Null, 51)) Ein Flüchtiger wandelt auf der Grenze zwischen beiden Extremen. Have bemerkt das bereits auf der Flucht: // „Erst jahrelang als Gefangener reines Objekt, das alles mit sich geschehen läßt, dann plötzlich, das Geschick an sich reißend, selbstbestimmter, eigenmächtiger Akteur! Aber welch labiles Gleichgewicht zwischen eigenem Handeln und den sich darbietenden, entgegenkommenden Situationen!“// ((Magener, Die Chance war Null, 51))
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 Wer sich derart unvermittelt in Feindesland wiederfand konnte mit etwas Glück, Papieren, Geld und schneller Entschlußkraft noch in neutrale Länder ausreisen. Walter-Eberhard Freiherr von Medem hat soviel Glück, als er kurz vor der Kriegserklärung Englands noch an Bord eines deutschen Dampfers kommt. John Hagenbeck empört sich über seine Ausweisung aus Ceylon, wo er schon viele Jahre lebte, doch die zurückgebliebenen Deutschen wurden entgegen aller Zusagen interniert. Nur selten gelang es Reisenden, im jeweiligen Aufenthaltsland zu bleiben und normal zu leben: Hans Helfritz war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Südamerika, blieb dort zwanzig Jahre und nahm die chilenische Staatsangehörigkeit an. Solches gelang am ehesten in südamerikanischen Ländern. Wer sich derart unvermittelt in Feindesland wiederfand konnte mit etwas Glück, Papieren, Geld und schneller Entschlußkraft noch in neutrale Länder ausreisen. Walter-Eberhard Freiherr von Medem hat soviel Glück, als er kurz vor der Kriegserklärung Englands noch an Bord eines deutschen Dampfers kommt. John Hagenbeck empört sich über seine Ausweisung aus Ceylon, wo er schon viele Jahre lebte, doch die zurückgebliebenen Deutschen wurden entgegen aller Zusagen interniert. Nur selten gelang es Reisenden, im jeweiligen Aufenthaltsland zu bleiben und normal zu leben: Hans Helfritz war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Südamerika, blieb dort zwanzig Jahre und nahm die chilenische Staatsangehörigkeit an. Solches gelang am ehesten in südamerikanischen Ländern.
  
-Wer es nicht schaffte, sich rechtzeitig abzusetzen, dem drohte neben dem Unwillen der Bevölkerung Hausarrest, die Internierung in Gefängnis, Zuchthaus oder Konzentrationslager. Concentration camps gab es bei den Engländern bereits im Ersten Weltkrieg - allerdings waren diese nicht mit den Konzentrationslagern der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Auch die Vichy-Regierung im besetzten Frankreich richtete Konzentrationslager ein:  //„In diesen Lagern ... werden gespeist, gekleidet und zu nützlicher Arbeit angehalten alle jene unerwünschten und nicht anpassungsfähigen Elemente, die sich anders nicht weiterhelfen könnten: alle jene, die sonst in die Fremdenlegion eingetreten wären, Landstreicher und Heruntergekommene, die sich verelendet in den Städten herumtrieben, potentielle Verbrecher und unerwünschte Ausländer.“// ((Rosenthal, Einmal Legionär, 263)) ((''Andrzej Szczypiorski'' erklärt die Entstehung des Lagerkonzeptes:// „Man kann sagen, das Lager sei als Folge der Dummheit entstanden. Der Mensch ist von Natur aus schwach und fürchtet sich darum vor der Wirklichkeit. Je geringer sein Wissen um die ihn umgebende Welt, desto größere Ängste hat er. Angst erzeugt Aggression. Was ich nicht kenne, ist mir fremd. Das Fremde ist für mich feindlich, bedrohlich und erfüllt mich mit Furcht. Ich müßte also das Fremde von meiner Welt isolieren, es aus meiner Welt eliminieren. Das Lager ist ein guter Ort, um in ihm meine Ängste einzuschließen. ... Das Lager habe ich mit Stacheldraht umgeben, Wachen aufgestellt, meine Welt ist gereinigt von fremden Elementen. Ich atme erleichtert auf, weil ich die Sphäre meiner Ängste begrenzt habe.“// (in: „Das Ende aller Zivilisation“) ))+Wer es nicht schaffte, sich rechtzeitig abzusetzen, dem drohte neben dem Unwillen der Bevölkerung Hausarrest, die Internierung in Gefängnis, Zuchthaus oder Konzentrationslager. Concentration camps gab es bei den Engländern bereits im Ersten Weltkrieg - allerdings waren diese nicht mit den Konzentrationslagern der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Auch die Vichy-Regierung im besetzten Frankreich richtete Konzentrationslager ein:  //„In diesen Lagern ... werden gespeist, gekleidet und zu nützlicher Arbeit angehalten alle jene unerwünschten und nicht anpassungsfähigen Elemente, die sich anders nicht weiterhelfen könnten: alle jene, die sonst in die Fremdenlegion eingetreten wären, Landstreicher und Heruntergekommene, die sich verelendet in den Städten herumtrieben, potentielle Verbrecher und unerwünschte [[wiki:auslaender|Ausländer]].“// ((Rosenthal, Einmal Legionär, 263)) ((''Andrzej Szczypiorski'' erklärt die Entstehung des Lagerkonzeptes:// „Man kann sagen, das Lager sei als Folge der Dummheit entstanden. Der Mensch ist von Natur aus schwach und fürchtet sich darum vor der Wirklichkeit. Je geringer sein [[wiki:wissen|Wissen]] um die ihn umgebende Welt, desto größere Ängste hat er. Angst erzeugt Aggression. Was ich nicht kenne, ist mir fremd. Das Fremde ist für mich feindlich, bedrohlich und erfüllt mich mit Furcht. Ich müßte also das Fremde von meiner Welt isolieren, es aus meiner Welt eliminieren. Das Lager ist ein guter Ort, um in ihm meine Ängste einzuschließen. ... Das Lager habe ich mit Stacheldraht umgeben, Wachen aufgestellt, meine Welt ist gereinigt von fremden Elementen. Ich atme erleichtert auf, weil ich die Sphäre meiner Ängste begrenzt habe.“// (in: „Das Ende aller Zivilisation“) ))
  
 Die Lagersysteme glichen sich überall auf der Welt und machten den Internierten das Leben mal mehr, mal weniger schwer. Zunächst einmal waren es tatsächlich „Konzentrationslager“: Wer sich in den englischen Kolonialgebieten Afrikas oder Asiens befand, kam mit ziemlicher Sicherheit in eines der indischen Lager, nach Ahmednagar oder Dehra-Dun, lediglich in Ägypten scheint es zusätzliche Lager der Engländer gegeben zu haben. Die Russen brachten die Internierten hinter den Ural, also nach Sibirien, dort konnte man in einem der vielen Lager zwischen Omsk und Sachalin landen, die teils Arbeitslager waren, teils mußten sich die Internierten in normalen Dörfern einquartieren ((Wie die Lagersysteme der Sowjetunion bis in die 80er Jahre hinein aussahen, wo sie lagen und was dort geschah, ist ausführlich nachzulesen in ''A. Shifrin'': //Reiseführer durch Gefängnisse und Konzentrationslager in der Sowjetunion//)). Die Franzosen waren nach dem Waffenstillstand 1942 Erfüllungsgehilfen des deutschen NS-Regimes und besaßen Lager in Marokko und Westafrika. Erwähnt wird, daß auch die Holländer Internierungslager hatten: ''Max Dauthendey'' (*25.7.1867 in Würzburg), Weltreisender und berühmter Verfasser von Erzählungen und Romanen zu Anfang dieses Jahrhunderts, starb 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs in niederländischer Internierung in Malang auf Java. Franzosen und Russen führten überwiegend Arbeitslager, die Engländer unterschieden zwischen gut geführten Lagern (z.B. Dehra-Dun), härteren und Straflagern (z.B. Deoli). Man konnte sich also durchaus verschlechtern oder verbessern. Franzosen und Engländer hatten auch Erholungslager (z.B. Ramandrugh) für solche Internierten, die schwer erkrankt waren. Die Lagersysteme glichen sich überall auf der Welt und machten den Internierten das Leben mal mehr, mal weniger schwer. Zunächst einmal waren es tatsächlich „Konzentrationslager“: Wer sich in den englischen Kolonialgebieten Afrikas oder Asiens befand, kam mit ziemlicher Sicherheit in eines der indischen Lager, nach Ahmednagar oder Dehra-Dun, lediglich in Ägypten scheint es zusätzliche Lager der Engländer gegeben zu haben. Die Russen brachten die Internierten hinter den Ural, also nach Sibirien, dort konnte man in einem der vielen Lager zwischen Omsk und Sachalin landen, die teils Arbeitslager waren, teils mußten sich die Internierten in normalen Dörfern einquartieren ((Wie die Lagersysteme der Sowjetunion bis in die 80er Jahre hinein aussahen, wo sie lagen und was dort geschah, ist ausführlich nachzulesen in ''A. Shifrin'': //Reiseführer durch Gefängnisse und Konzentrationslager in der Sowjetunion//)). Die Franzosen waren nach dem Waffenstillstand 1942 Erfüllungsgehilfen des deutschen NS-Regimes und besaßen Lager in Marokko und Westafrika. Erwähnt wird, daß auch die Holländer Internierungslager hatten: ''Max Dauthendey'' (*25.7.1867 in Würzburg), Weltreisender und berühmter Verfasser von Erzählungen und Romanen zu Anfang dieses Jahrhunderts, starb 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs in niederländischer Internierung in Malang auf Java. Franzosen und Russen führten überwiegend Arbeitslager, die Engländer unterschieden zwischen gut geführten Lagern (z.B. Dehra-Dun), härteren und Straflagern (z.B. Deoli). Man konnte sich also durchaus verschlechtern oder verbessern. Franzosen und Engländer hatten auch Erholungslager (z.B. Ramandrugh) für solche Internierten, die schwer erkrankt waren.
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 ==== Bei Kriegsausbruch im neutralen Ausland ==== ==== Bei Kriegsausbruch im neutralen Ausland ====
-Weltweit besteht nach einer Mobilmachung für jeden Deutschen die Pflicht, sich bei der nächsten deutschen Behörde zu melden, bei Konsulaten oder Botschaften. Wer seinen Wohnsitz im neutralen oder befreundeten Ausland hatte, bekam dort seinen Gestellungsbefehl zugestellt. Arthur Heye befand sich allein im Grenzgebiet zwischen Kenia und Tanzania, Hauer ist im Gebiet um den Tanganjikasee unterwegs, dennoch erreichen sie Boten mit dem Befehl, sich sofort bei der nächsten deutschen Behörde zu melden. Gustav Fruhmann, einen Österreicher, erreichte der Einberufungsbefehl in Südafrika:  //„Als Österreicher, der im Auslande lebte, hatte ich mich nämlich bei meinem Konsulat zur ärztlichen Untersuchung für den Militärdienst zu stellen und, wenn ich tauglich befunden wurde, einzurücken.“// ((Fruhmann, Im Frack um die Welt, 46)) Fruhmann war tauglich, gab im Februar 1899 seine Stelle auf, fuhr nach Kapstadt und schiffte sich nach Europa ein. Grundsätzlich galten für Deutsche im Ausland die gleichen Pflichten wie für die Deutschen im Heimatland. Zwischen allen Stühlen aber saß jemand wie Philip Rosenthal, der als Kind in den 30er Jahren mit seinen Eltern nach England emigriert war. Obwohl er immer noch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, kam eine Rückkehr jedoch keinesfalls in Frage.+Weltweit besteht nach einer Mobilmachung für jeden Deutschen die Pflicht, sich bei der nächsten deutschen Behörde zu melden, bei Konsulaten oder Botschaften. Wer seinen [[wiki:wohnsitz|Wohnsitz]] im neutralen oder befreundeten Ausland hatte, bekam dort seinen Gestellungsbefehl zugestellt. Arthur Heye befand sich allein im Grenzgebiet zwischen Kenia und Tanzania, Hauer ist im Gebiet um den Tanganjikasee unterwegs, dennoch erreichen sie Boten mit dem Befehl, sich sofort bei der nächsten deutschen Behörde zu melden. Gustav Fruhmann, einen Österreicher, erreichte der Einberufungsbefehl in Südafrika:  //„Als Österreicher, der im Auslande lebte, hatte ich mich nämlich bei meinem Konsulat zur ärztlichen Untersuchung für den Militärdienst zu stellen und, wenn ich tauglich befunden wurde, einzurücken.“// ((Fruhmann, Im Frack um die Welt, 46)) Fruhmann war tauglich, gab im Februar 1899 seine Stelle auf, fuhr nach Kapstadt und schiffte sich nach Europa ein. Grundsätzlich galten für Deutsche im Ausland die gleichen Pflichten wie für die Deutschen im Heimatland. Zwischen allen Stühlen aber saß jemand wie Philip Rosenthal, der als Kind in den 30er Jahren mit seinen Eltern nach England emigriert war. Obwohl er immer noch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, kam eine Rückkehr jedoch keinesfalls in Frage.
  
 Reisende befanden sich in einer der drei folgenden Situationen: Reisende befanden sich in einer der drei folgenden Situationen:
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 ==== Wer konnte reisen? ====  ==== Wer konnte reisen? ==== 
-Bei der ersten und zweiten Situation war es mit der Freiheit des Reisens dann auf einige Zeit vorbei, in der dritten Situation war zumindest ein fremdes Land zum „Gefängnis“ geworden. Nur für wehruntaugliche Bürger (z.B. Kurt Faber) und Frauen der kriegführenden Nationen bestand zumindest theoretisch die Möglichkeit zu reisen, und dann nur in befreundeten Ländern. Selbst offiziell neutrale Länder waren häufig nicht wirklich souverän in ihrer Neutralität; so wurde Kopp von Nepal an die Engländer ausgeliefert. Im während des Ersten Weltkriegs neutralen Amerika war die öffentliche Stimmung sehr gegen die Deutschen eingestellt, so daß man dort als deutscher Reisender auch kein leichtes Leben hatte. ''Colin Ross'', bekannter Reiseschriftsteller und Viel-Reisender, verstand sich so gut mit den Machthabern des Dritten Reiches, daß er 1944 durch die besetzten Gebiete in Marokko, Algerien und Tunesien reiste und den Krieg als Retter heruntergekommener Gebiete feierte ((Ross, Umkämpftes Afrika.)) Auch dies dürfte nur ein Einzelfall gewesen sein.+Bei der ersten und zweiten Situation war es mit der [[wiki:reisefreiheit|Freiheit des Reisens]] dann auf einige Zeit vorbei, in der dritten Situation war zumindest ein fremdes Land zum „Gefängnis“ geworden. Nur für wehruntaugliche Bürger (z.B. Kurt Faber) und [[wiki:frauen_unterwegs|Frauen]] der kriegführenden Nationen bestand zumindest theoretisch die Möglichkeit zu reisen, und dann nur in befreundeten Ländern. Selbst offiziell neutrale Länder waren häufig nicht wirklich souverän in ihrer Neutralität; so wurde ''Kopp'' von Nepal an die Engländer ausgeliefert. Im während des Ersten Weltkriegs neutralen Amerika war die öffentliche Stimmung sehr gegen die Deutschen eingestellt, so daß man dort als deutscher Reisender auch kein leichtes Leben hatte. ''Colin Ross'', bekannter Reiseschriftsteller und Viel-Reisender, verstand sich so gut mit den Machthabern des Dritten Reiches, daß er 1944 durch die besetzten Gebiete in Marokko, Algerien und Tunesien reiste und den Krieg als Retter heruntergekommener Gebiete feierte ((Ross, Umkämpftes Afrika.)) Auch dies dürfte nur ein Einzelfall gewesen sein.
  
-Weitergehende Reisefreiheit hatten Bürger der neutralen Länder und so ist es kein Zufall, daß das einzige Beispiel eines freiwillig während des zweiten Weltkriegs Reisenden von einem Schweizer stammt (Hans von Meiss-Teuffen). Da aber auch diese Länder eine Armee unterhielten, mußte man schon wehruntauglich sein. Probleme der Grenzüberschreitung, der schnell wechselnden Machtverhältnisse, Willkür von Vollzugsbeamten, Devisenschwierigkeiten lassen sich am besten auf den Meeren „umschiffen“. Außerhalb der Dreimeilenzone befindet man sich in internationalen Gewässern, außerhalb aller Grenzen. Und in den Hafen einlaufend, gelten die Planken des Schiffes als exterritorialer Boden. Diese Vorteile nutzte Meiss-Teuffen ebenso wie die deutschen Schiffe, die sich zu Anfang des Krieges in holländische Häfen in Asien geflüchtet hatten.+Weitergehende Reisefreiheit hatten Bürger der neutralen Länder und so ist es kein Zufall, daß das einzige Beispiel eines freiwillig während des zweiten Weltkriegs Reisenden von einem Schweizer stammt (''Hans von Meiss-Teuffen''). Da aber auch diese Länder eine Armee unterhielten, mußte man schon wehruntauglich sein. Probleme der Grenzüberschreitung, der schnell wechselnden Machtverhältnisse, Willkür von Vollzugsbeamten, Devisenschwierigkeiten lassen sich am besten auf den Meeren „umschiffen“. Außerhalb der Dreimeilenzone befindet man sich in internationalen Gewässern, außerhalb aller Grenzen. Und in den Hafen einlaufend, gelten die Planken des Schiffes als exterritorialer Boden. Diese Vorteile nutzte ''Meiss-Teuffen'' ebenso wie die deutschen Schiffe, die sich zu Anfang des Krieges in holländische Häfen in Asien geflüchtet hatten.
  
-Bei einigen der durch Krieg jahrelang von der Heimat ferngebliebenen Deutschen hatte die lange Abwesenheit den Effekt, daß sie sich nach der Heimkehr in Deutschland nicht mehr wohlfühlten: Pritzke ist nur kurz in Berlin und geht dann wieder nach Beirut, um sich dort niederzulassen; Kopp verläßt Deutschland nach knapp zwei Jahren wieder, arbeitet und wohnt im Ausland; Peter Aufschnaiter kehrt über Jahrzehnte hinweg nur zu kurzen Urlauben nach Österreich zurück. Harrer wohnt zwar in Österreich, ist aber jedes Jahr unterwegs, ähnlich halten es Ross und Plüschow.+Bei einigen der durch Krieg jahrelang von der Heimat ferngebliebenen Deutschen hatte die lange Abwesenheit den Effekt, daß sie sich nach der [[wiki:heimkehr|Heimkehr]] in Deutschland nicht mehr wohlfühlten: ''Pritzke'' ist nur kurz in Berlin und geht dann wieder nach Beirut, um sich dort niederzulassen; ''Kopp'' verläßt Deutschland nach knapp zwei Jahren wieder, arbeitet und wohnt im Ausland; ''Peter Aufschnaiter'' kehrt über Jahrzehnte hinweg nur zu kurzen Urlauben nach Österreich zurück. ''Harrer'' wohnt zwar in Österreich, ist aber jedes Jahr unterwegs, ähnlich halten es ''Ross'' und ''Plüschow''.
  
 ==== Strategien der Flucht ==== ==== Strategien der Flucht ====
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 Schlußendlich geht es um eine passende Ausrüstung, die einerseits die Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen, Wärme) befriedigt und andererseits dem Stil des Ausbruchs angepaßt ist. Plüschow hat sich für London zwei Verkleidungen ermöglicht: zuerst als gut gekleideter Gentleman, dann als heruntergekommener Dockarbeiter; Magener und von Have reisten offen in halbmilitärischer Kleidung nach Burma, Kopp und Krämer gingen als Missionare durch Indien. Alles ist möglich: nicht die Wahl der Rolle ist entscheidend, sondern die Glaubwürdigkeit, mit der sie eingenommen wird.\\  Schlußendlich geht es um eine passende Ausrüstung, die einerseits die Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen, Wärme) befriedigt und andererseits dem Stil des Ausbruchs angepaßt ist. Plüschow hat sich für London zwei Verkleidungen ermöglicht: zuerst als gut gekleideter Gentleman, dann als heruntergekommener Dockarbeiter; Magener und von Have reisten offen in halbmilitärischer Kleidung nach Burma, Kopp und Krämer gingen als Missionare durch Indien. Alles ist möglich: nicht die Wahl der Rolle ist entscheidend, sondern die Glaubwürdigkeit, mit der sie eingenommen wird.\\ 
-In jedem Fall müssen Ausstattung, Verhalten und die Erwartungen der Umwelt fein aufeinander abgestimmt sein. Ob man sich für ein unauffälliges Mimikry, wie Magener und von Have, oder für die Ablenkung durch Auffallen, wie Kopp und Krämer, entscheidet, hängt sicher von der Persönlichkeit des Einzelnen ab. Blum soll dadurch aufgefallen sein, daß er für einen weißen Reisenden zu wenig Gepäck hatte und ohne Diener reiste. Wer nicht völlig autark ist, tut gut daran, seine Fähigkeiten zu verkaufen, um sich unterwegs die Sympathie der Bevölkerung, Lebensmittel oder Unterkunft zu erwerben. Bei den meisten Fluchten bewährte sich besonders der Beruf des Arztes, der mehr oder weniger erfolgreich auch mit geringen oder improvisierten Mitteln praktiziert werden kann. Unterkunft und Papiere sind nahezu untrennbar miteinander verbunden; wer ohne Papiere untertauchen will, kann das nur in der freien Natur oder in Bordellen oder im Untergrund.+In jedem Fall müssen Ausstattung, Verhalten und die Erwartungen der Umwelt fein aufeinander abgestimmt sein. Ob man sich für ein unauffälliges Mimikry, wie Magener und von Have, oder für die Ablenkung durch Auffallen, wie Kopp und Krämer, entscheidet, hängt sicher von der Persönlichkeit des Einzelnen ab. Blum soll dadurch aufgefallen sein, daß er für einen weißen Reisenden zu wenig Gepäck hatte und ohne Diener reiste. Wer nicht völlig [[wiki:autarkie|autark]] ist, tut gut daran, seine Fähigkeiten zu verkaufen, um sich unterwegs die Sympathie der Bevölkerung, Lebensmittel oder Unterkunft zu erwerben. Bei den meisten Fluchten bewährte sich besonders der Beruf des Arztes, der mehr oder weniger erfolgreich auch mit geringen oder improvisierten Mitteln praktiziert werden kann. Unterkunft und Papiere sind nahezu untrennbar miteinander verbunden; wer ohne Papiere untertauchen will, kann das nur in der freien Natur oder in Bordellen oder im Untergrund.
  
 Selbst wenn die Flucht gelingt, befindet man sich meist noch nicht in Sicherheit: Magener und von Have benötigen einen Monat für ihre Flucht durch Indien, verbringen danach aber drei Monate in japanischen Gefängnissen, bevor sie die Japaner davon überzeugen können, daß sie tatsächlich Flüchtlinge und keine Spione sind. Killinger muß beim deutschen Konsul in Tientsin ein Verhör über sich ergehen lassen, bevor man ihm glaubt. Selbst wenn die Flucht gelingt, befindet man sich meist noch nicht in Sicherheit: Magener und von Have benötigen einen Monat für ihre Flucht durch Indien, verbringen danach aber drei Monate in japanischen Gefängnissen, bevor sie die Japaner davon überzeugen können, daß sie tatsächlich Flüchtlinge und keine Spione sind. Killinger muß beim deutschen Konsul in Tientsin ein Verhör über sich ergehen lassen, bevor man ihm glaubt.
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 ==== Werner-Otto von Hentig ==== ==== Werner-Otto von Hentig ====
-* 22.5.1886 in Berlin. Sein Vater war Staatsminister, seine zweite Frau eine Luise von Mach, mit ihr hatte er vier Kinder. (Sein Sohn Hartmut von Hentig ist heute ein berühmter Erziehungswissenschaftler in Bielefeld.) Er besuchte das Gymnasium in Gotha und die Universitäten in Grenoble, Königsberg, Berlin und Bonn. 1909 promovierte er zum Dr. jur. et rer. pol. und trat in den diplomatischen Dienst ein, wurde Attaché in Peking, Konstantinopel und Teheran. 1915 bis 1917 war er in besonderer Mission nach Afghanistan unterwegs, danach Pressechef an der deutschen Botschaft in Konstantinopel. Er trat nach dem Umsturz aus dem Reichsdienst aus, engagierte sich bei der Rettung deutscher Kriegsgefangener aus Sibirien, wurde dann erneut Geschäftsträger des Reiches zunächst in Estland, dann auf dem Balkan und schließlich in Posen. In den zwanziger Jahren wurde er in der deutschen Jugendbewegung aktiv. 1937-1939 leitete er die Orientabteilung im Auswärtigen Amt in Berlin.+* 22.5.1886 in Berlin. Sein Vater war Staatsminister, seine zweite Frau eine Luise von Mach, mit ihr hatte er vier Kinder. (Sein Sohn Hartmut von Hentig ist heute ein berühmter Erziehungswissenschaftler in Bielefeld.) Er besuchte das Gymnasium in Gotha und die Universitäten in Grenoble, Königsberg, Berlin und Bonn. 1909 promovierte er zum Dr. jur. et rer. pol. und trat in den diplomatischen Dienst ein, wurde Attaché in Peking, Konstantinopel und Teheran. 1915 bis 1917 war er in besonderer Mission nach Afghanistan unterwegs, danach Pressechef an der deutschen Botschaft in Konstantinopel. Er trat nach dem Umsturz aus dem Reichsdienst aus, engagierte sich bei der Rettung deutscher Kriegsgefangener aus Sibirien, wurde dann erneut Geschäftsträger des Reiches zunächst in Estland, dann auf dem [[wiki:staunen_fremdheit_neues_neugier#Dort fängt der Balkan an|Balkan]] und schließlich in Posen. In den zwanziger Jahren wurde er in der deutschen Jugendbewegung aktiv. 1937-1939 leitete er die Orientabteilung im Auswärtigen Amt in Berlin.
   * (1.) Heim durch Kurdistan. Ritt u. Reise von Persien zur Ostfront 1914. Voggenreiter. Potsdam. 1943. 124 S., 8° (2 Ausg.)   * (1.) Heim durch Kurdistan. Ritt u. Reise von Persien zur Ostfront 1914. Voggenreiter. Potsdam. 1943. 124 S., 8° (2 Ausg.)
   * (2.) Ins verschlossene Land. Ein Kampf um Mensch und Meile. Voggenreiter. Potsdam. 1928. 192 S., 8° (7 dt. Auflg., Über 200. Tsd. Ex. i. d. 1. Aufl.)   * (2.) Ins verschlossene Land. Ein Kampf um Mensch und Meile. Voggenreiter. Potsdam. 1928. 192 S., 8° (7 dt. Auflg., Über 200. Tsd. Ex. i. d. 1. Aufl.)
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   * (2.) Hatako. Das Leben eines Kannibalen. Berlin, Safari-Vlg. (DEA 1921) in zwei Auflagen und vier Ausgaben bis 1945   * (2.) Hatako. Das Leben eines Kannibalen. Berlin, Safari-Vlg. (DEA 1921) in zwei Auflagen und vier Ausgaben bis 1945
   * (3.) Wanderer ohne Ziel. Von abenteuerlichem Zwei- und Vierbein. Berlin, Safari-Vlg. (DEA 1922) in zwei Ausgaben   * (3.) Wanderer ohne Ziel. Von abenteuerlichem Zwei- und Vierbein. Berlin, Safari-Vlg. (DEA 1922) in zwei Ausgaben
-  * (4.) Unterwegs. Die Lebensfahrt eines romantischen StrolchesBerlin, Safari- Vlg. (DEA 1925), 30 Auflagen in 5 Ausgaben bis 1948, darunter auch „Wilde Lebensfahrt Bd. 13“+  * (4.) Unterwegs. Die Lebensfahrt eines romantischen Strolches. Berlin, Safari- Vlg. (DEA 1925), 30 Auflagen in 5 Ausgaben bis 1948, darunter auch „Wilde Lebensfahrt Bd. 13“
   * (5.) Allah hu akbar. Unterwegs im Morgenlande. Berlin, Safari Vlg. (DEA 1926) 5 Aufl. u. 3 Ausg.bis 1961   * (5.) Allah hu akbar. Unterwegs im Morgenlande. Berlin, Safari Vlg. (DEA 1926) 5 Aufl. u. 3 Ausg.bis 1961
   * (6.) Meine Brüder. Bilderbuch einer langen Fahrt durch befremdliche Länder und Zeiten Berlin, Safari-Vlg., (DEA 1926), 2 Aufl. u. sechs Ausgaben bis 1951   * (6.) Meine Brüder. Bilderbuch einer langen Fahrt durch befremdliche Länder und Zeiten Berlin, Safari-Vlg., (DEA 1926), 2 Aufl. u. sechs Ausgaben bis 1951
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 ==== Herbert Paidar ==== ==== Herbert Paidar ====
 Bergsteiger, vermutlich aus Bayern. Unternahm seinen ersten und einzigen Fluchtversuch im April 1945 aus dem Lager Dehra-Dun bei Mussorie in Nord-Indien. Außerhalb des Lagers traf er sich mit Ludwig Schmaderer und versuchte zusammen mit ihm Tibet auf dem gleichen Weg zu erreichen, den im Vorjahr Aufschnaiter und Harrer gingen. Eines Tages war Schmaderer allein zum nächsten Dorf unterwegs, um ein Schaf zu kaufen. Dabei wurde er von vier Tibetern überfallen, totgeprügelt und in den Fluß geworfen. In der dritten Auflage von „Zwischen Kantsch und Tibet“ widmet Paidar ihm einen Nachruf. Paidar kehrte daraufhin zurück ins Lager. Er soll später in den österreichischen Bergen umgekommen sein. [110] Bergsteiger, vermutlich aus Bayern. Unternahm seinen ersten und einzigen Fluchtversuch im April 1945 aus dem Lager Dehra-Dun bei Mussorie in Nord-Indien. Außerhalb des Lagers traf er sich mit Ludwig Schmaderer und versuchte zusammen mit ihm Tibet auf dem gleichen Weg zu erreichen, den im Vorjahr Aufschnaiter und Harrer gingen. Eines Tages war Schmaderer allein zum nächsten Dorf unterwegs, um ein Schaf zu kaufen. Dabei wurde er von vier Tibetern überfallen, totgeprügelt und in den Fluß geworfen. In der dritten Auflage von „Zwischen Kantsch und Tibet“ widmet Paidar ihm einen Nachruf. Paidar kehrte daraufhin zurück ins Lager. Er soll später in den österreichischen Bergen umgekommen sein. [110]
-  - Zwischen Kantsch und Tibet. Erstbesteigung des Tent-Peak, 7363 m. Bildertagebuch einer neuen Sikkim-Kundfahrt 1939 der `Drei im Himalaja´. von Ernst Grob, Ludwig Schmaderer, Herbert Paidar. Bruckmann. München. 1940, 123 S., Abb., 1 Karte, 4°. (3. A. 1950, gr. 8°, 143 S.)+  - Zwischen Kantsch und Tibet. [[wiki:bergwelt|Erstbesteigung]] des Tent-Peak, 7363 m. Bildertagebuch einer neuen Sikkim-Kundfahrt 1939 der `Drei im Himalaja´. von Ernst Grob, Ludwig Schmaderer, Herbert Paidar. Bruckmann. München. 1940, 123 S., Abb., 1 Karte, 4°. (3. A. 1950, gr. 8°, 143 S.)
   - Drei im Himalaja. Die Erlebnisse einer Himalajafahrt. Bruckmann 1938, 97 S., 63 Tfll., 2 Panoramen, 3 Karten, 8°.   - Drei im Himalaja. Die Erlebnisse einer Himalajafahrt. Bruckmann 1938, 97 S., 63 Tfll., 2 Panoramen, 3 Karten, 8°.
  
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 ==== Slavomir Rawitsch (Rawicz) ====  ==== Slavomir Rawitsch (Rawicz) ==== 
-*ca. 1915. Er diente als Leutnant in der polnischen Kavallerie, seine Mutter war Russin, sein Vater Besitzer eines Gutes in Pinsk. 1937 wurde er zur Armee einberufen, gerade als er sein Diplom als Architekt und Bauinspektor an der Technischen Hochschule in Warschau vorbereitete. Nach zwölf Monaten in der Infanterieschule in Brest-Litowsk schloß er auch sein Examen ab und wurde 1939 im Zuge einer inoffiziellen Mobilmachung einberufen. Seine Frau Vera heiratete er am 5.7.1939. Er wurde am 19.11.1939 in Pinsk von den Russen gefangengenommen und verbrachte etwa ein Jahr in den russischen Gefängnissen von Minsk und Charbow sowie in der Lubjanka in Moskau. Verurteilung durch den NKWD zu 25 Jahren Arbeitslager, Überführung ins Lager 303 etwa 350 Kilometer südlich von Irkutsk. Ausbruch etwa am 13.4.1941 zusammen mit Sigmund Makowski, Zaharius Marchinkowas, Anton Paluchowitsch, Eugen Zavo, Anastasi Kolomenos und Mr. Smith. Sie flohen Richtung Lena, weiter zum Baikalsee, zur Mongolischen Grenze, durch die Wüste Gobi nach Indien.+*ca. 1915. Er diente als Leutnant in der polnischen Kavallerie, seine Mutter war Russin, sein Vater Besitzer eines Gutes in Pinsk. 1937 wurde er zur Armee einberufen, gerade als er sein Diplom als Architekt und Bauinspektor an der Technischen Hochschule in Warschau vorbereitete. Nach zwölf Monaten in der Infanterieschule in Brest-Litowsk schloß er auch sein Examen ab und wurde 1939 im Zuge einer inoffiziellen Mobilmachung einberufen. Seine Frau Vera heiratete er am 5.7.1939. Er wurde am 19.11.1939 in Pinsk von den Russen gefangengenommen und verbrachte etwa ein Jahr in den russischen Gefängnissen von Minsk und Charbow sowie in der Lubjanka in Moskau. Verurteilung durch den NKWD zu 25 Jahren Arbeitslager, Überführung ins Lager 303 etwa 350 Kilometer südlich von Irkutsk. Ausbruch etwa am 13.4.1941 zusammen mit Sigmund Makowski, Zaharius Marchinkowas, Anton Paluchowitsch, Eugen Zavo, Anastasi Kolomenos und Mr. Smith. Sie flohen [[wiki:orientierung|Richtung]] Lena, weiter zum Baikalsee, zur Mongolischen Grenze, durch die Wüste Gobi nach Indien.
   - Flucht durch Steppe und Wüste. Büchergilde Gutenberg. Frankfurt/M. (Übetragung a. d. Engl. von Toni Lips) 1958. 299p. OLn. 8°. (EA 1956 bei Scheffler)    - Flucht durch Steppe und Wüste. Büchergilde Gutenberg. Frankfurt/M. (Übetragung a. d. Engl. von Toni Lips) 1958. 299p. OLn. 8°. (EA 1956 bei Scheffler) 
  
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   * (3.) Auf deutschem Boden um die Erde. Erinnerungen eines Weltreisenden. Schaffstein. Köln. 1934. 79 S., 8°   * (3.) Auf deutschem Boden um die Erde. Erinnerungen eines Weltreisenden. Schaffstein. Köln. 1934. 79 S., 8°
   * (4.) Südamerikanisches Auswanderer-ABC. Praktische Winke u. Ratschläge. Ausland u. Heimat. Stuttgart. 1921. 40 S., gr. 8°   * (4.) Südamerikanisches Auswanderer-ABC. Praktische Winke u. Ratschläge. Ausland u. Heimat. Stuttgart. 1921. 40 S., gr. 8°
-  * (5.) Der Balkan Amerikas. Mit Kind und Kegel durch Mexiko zum Panamakanal. Brockhaus. Lpz. 1937. 274 S., 8° (10 Aufl.)+  * (5.) Der [[wiki:staunen_fremdheit_neues_neugier#Dort fängt der Balkan an|Balkan]] Amerikas. Mit Kind und Kegel durch Mexiko zum Panamakanal. Brockhaus. Lpz. 1937. 274 S., 8° (10 Aufl.)
   * (6.) Im Balkankrieg. Singer. Strassburg. 1918. 125 S.   * (6.) Im Balkankrieg. Singer. Strassburg. 1918. 125 S.
   * (7.) Fahrten- und Abenteuerbuch. Büchergilde Gutenberg. Berlin. 1925. 236 S., gr. 8°   * (7.) Fahrten- und Abenteuerbuch. Büchergilde Gutenberg. Berlin. 1925. 236 S., gr. 8°
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 ==== Ludwig Schmaderer ==== ==== Ludwig Schmaderer ====
 Bergsteiger, vermutlich aus Bayern und wahrscheinlich Bäcker. Kolb beschreibt ihn: „Der mit den langen Armen [Schmaderer] erfand übrigens den Lager-Klettersport, dem freilich außer ihm und mir kaum noch jemand huldigte.“ [111]War ebenfalls in Dehra-Dun interniert und entfloh erstmals 1943, wurde jedoch bereits drei Wochen später von der Polizei gefaßt. Im April 1945, als alle Ausreißer, er und 20 Kameraden, strafverlegt werden sollten, floh er am hellichten Tag und in Gegenwart der völlig überraschten Soldaten. Einige Tage später traf er sich mit Herbert Paidar, der inzwischen ebenfalls entflohen war, und sie marschierten den Weg nach Tibet, den auch die Gruppe um Harrer und Aufschnaiter genommen hatten. Eines Tages war Schmaderer im Spitital allein zum nächsten Dorf unterwegs, um ein Schaf zu kaufen. Dabei wurde er von vier Tibetern überfallen, totgeprügelt und in den Fluß geworfen. In der dritten Auflage von „Zwischen Kantsch und Tibet“ widmet ihm Paidar einen Nachruf. Bergsteiger, vermutlich aus Bayern und wahrscheinlich Bäcker. Kolb beschreibt ihn: „Der mit den langen Armen [Schmaderer] erfand übrigens den Lager-Klettersport, dem freilich außer ihm und mir kaum noch jemand huldigte.“ [111]War ebenfalls in Dehra-Dun interniert und entfloh erstmals 1943, wurde jedoch bereits drei Wochen später von der Polizei gefaßt. Im April 1945, als alle Ausreißer, er und 20 Kameraden, strafverlegt werden sollten, floh er am hellichten Tag und in Gegenwart der völlig überraschten Soldaten. Einige Tage später traf er sich mit Herbert Paidar, der inzwischen ebenfalls entflohen war, und sie marschierten den Weg nach Tibet, den auch die Gruppe um Harrer und Aufschnaiter genommen hatten. Eines Tages war Schmaderer im Spitital allein zum nächsten Dorf unterwegs, um ein Schaf zu kaufen. Dabei wurde er von vier Tibetern überfallen, totgeprügelt und in den Fluß geworfen. In der dritten Auflage von „Zwischen Kantsch und Tibet“ widmet ihm Paidar einen Nachruf.
-  - Zwischen Kantsch und Tibet. Erstbesteigung des Tent-Peak, 7363 m. Bildertagebuch einer neuen Sikkim-Kundfahrt 1939 der `Drei im Himalaja´. Von Ernst Grob, Ludwig Schmaderer, Herbert Paidar. Bruckmann. München. 1940, 123 S., Abb., 1 Karte, 4°. (3. A. 1950, gr. 8°, 143 S.)+  - Zwischen Kantsch und Tibet. [[wiki:bergwelt|Erstbesteigung]] des Tent-Peak, 7363 m. Bildertagebuch einer neuen Sikkim-Kundfahrt 1939 der `Drei im Himalaja´. Von Ernst Grob, Ludwig Schmaderer, Herbert Paidar. Bruckmann. München. 1940, 123 S., Abb., 1 Karte, 4°. (3. A. 1950, gr. 8°, 143 S.)
   - Drei im Himalaja. Die Erlebnisse einer Himalajafahrt. Bruckmann 1938, 97 S., 63 Tfll., 2 Panoramen, 3 Karten, 8°.   - Drei im Himalaja. Die Erlebnisse einer Himalajafahrt. Bruckmann 1938, 97 S., 63 Tfll., 2 Panoramen, 3 Karten, 8°.
  
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 ===== 7 Verweise ===== ===== 7 Verweise =====
 siehe auch\\  siehe auch\\ 
-* [[wiki:literaturliste_ueber_fluchtreisen|Literaturliste Fluchtreisen]] mit mehr als 70 Titeln\\+* [[wiki:literaturliste_fluchtreisen|Literaturliste Fluchtreisen]] mit mehr als 70 Titeln\\
 * [[wiki:biographien|Literaturliste biographischer Reiseliteratur]] * [[wiki:biographien|Literaturliste biographischer Reiseliteratur]]
  
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