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wiki:entfuehrung

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Entführung

In Krisengebieten besteht ein erhebliches Risiko zwischen die Fronten zu geraten oder als Ausländer oder Tourist zum politischen Faustpfand gemacht und entführt zu werden - beides ist nicht persönlich gemeint. Definiert ist eine Entführung im polizeilichen Sinne, »wenn Täter Personen zur Durchsetzung ihrer Forderungen an einem der Polizei unbekannten Ort in ihrer Gewalt haben«. Befindet sich das Opfer jedoch an einem der Polizei bekannten Ort, spricht man von einer Geiselnahme. Geiselnahmen sind kürzer, da typischerweise die Situation eskaliert.
Das Bundeskriminalamt BKA bietet den »Ratgeber Krisenmanagement in Fällen von Entführung und Geiselnahme im Ausland« zum Download an.

In Gefangenschaft geraten lauten die wichtigsten Regeln:

  • Halte dich aus allem raus, nicht Partei ergreifen.
  • Augenkontakt suchen, weil dich das menschlich macht.
  • Ruhig bleiben - wer panisch wird, stört.
  • Nicht jammern, ducken, unterwerfen - wer schwach ist, nervt.
  • Nicht das Alpha-Tier raushängen klassen - wer Stärke zeigen will, ist gefährlich.

Unter Beschuss liegend, raten Profis:

  • Hinlegen, mit den Füßen in Richtung der Schießenden, weil der Kopf wichtiger ist.
  • In einen Granattrichter kriechen, weil selten zwei Granaten an derselben Stelle einschlagen.
  • Die »Zisch-und-Bumm-Faustregel« läßt wie beim Gewitter eine Schätzung zu, wie weit ein Schütze entfernt ist: Das Zischgeräusch ist die Kugel mit mehr als 700 Metern pro Sekunde, das Bummgeräusch der Mündungsknall beim Abschuss mit rund 350 Metern pro Sekunde. Auf Sechs Sekunden Zeitabstand rechnet man 50% drauf (weil die doppelt so schnelle Kugel ja auch Zeit brauchte), also ist der Schuss in etwa 9×350 m, also rund 3 km Entfernung abgefeuert worden, engl. crack and thump.

Rosie Gathwaite
Handbuch für die gefährlichsten Orte der Welt
Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt. Bloomsbury Berlin 2011
Jan Philipp Reemtsma
Im Keller
Hamburger Edition 1997
Dr. Christian Kokew
Kein Anspruch auf Lösegeldzahlung
Die rechtliche Bewertung der Folgen von Entführungen im Ausland
Veko Online

Hiscox bietet Entführungs- und Lösegeldversicherungen (Kidnap & Ransom Versicherung) an. Dieses Geschäftsmodell wurde von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) 1998 zugelassen.

Chronologie von Entführungen Deutscher im Ausland

In den zehn Jahren von 1998 bis 2008 verdreifachte sich die Zahl der Entführungen weltweit; nach Chinesen und Franzosen betraf es vor allem Deutsche, dabei nahm die Piraterei erheblich zu, etwa durch Schiffsentführungen vor Somalia.
Von 1990 bis 2010 zählte das BKA 180 Geiselnahmen von Deutschen im Ausland, Tendenz steigend.
Zwischen 2010 und 2019 wurden 143 Deutsche in 37 Ländern entführt, davon 19 in Nigeria, 13 in Syrien, 12 in Mexiko, 11 in Afghanistan und 7 im Senegal.

Das Bundeskriminalamt stufte bereits 2010 das Risiko entführt zu werden für Geschäftsleute als sehr hoch ein. Heute äußern sich weder das Auswärtige Amt noch das BKA noch die betroffenen Unternehmen über Entführungsfälle. Für die Betroffenen selbst ist die mediale Aufmerksamkeit ebenfalls nicht günstig, im Gegenteil: Wenn ihre Opferrolle nicht mehr trägt, werden sie bestenfalls vergessen. Zu unterschiedlich sind die Interessen: Die Behörden wollen Verbrecher fangen, die Unternehmen möchten zurück zu business as usual, die Medien wollen Stories - nur die Betroffenen haben nichts zu melden. Sicherheitsunternehmen empfehlen gefährdeten Geschäftsleuten ein neues, ungenutztes Handy zur Kommunikation im Notfall - damit die Behörden nicht mithören können. Schließlich macht, wer Lösegeld zahlt, sich selbst schuldig wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.

Jedenfalls fällt es auf, dass die Berichterstattung um 2010 ihren Höhepunkt überschritten hat:
Andreas Ulrich Entführungsindustrie: Knarre am Kopf
SPIEGEL Panorama 09.10.2010.
Entweder es gibt kaum noch Entführungen oder die Sicherheitsunternehmen sorgen für die nötige Compliance. Für Letzteres spricht eine Meldung der Berliner Morgenpost vom 29.11.2019: »Jeden Monat wird im Schnitt ein Deutscher im Ausland entführt«.

Am 13. Oktober 1977 entführte ein palästinensisches Kommando die Lufthansa-Maschine Landshut auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurtam Main und landete schließlich in Mogadischu, Somalia. Ziel war es die RAF zu unterstützen, die im Gefändnis in Stuttgart-Stammheim einsitzende RAF-Mitglieder freipressen wollten.

Im Januar 1987 entführte die Hisbollah im Libanon den Hoechst-Manager Rudolf Cordes und den Siemens-Techniker Alfred Schmidt und forderte Mohammed Ali Hamadei freizulassen. Rudolf Cordes kam erst nach 605 Tagen wieder frei.

Am 16. Mai 1989 wurden in der Hafenstadt Sidon im Libanon Heinrich Strübig und Petra Schnitzler - Mitarbeiter einer Hilfsorganisation - sowie der Krankenpfleger Thomas Kemptner entführt. Bei einer Razzia libanesischer Milizionäre wurde Petra Schnitzler befreit, die anderen beiden blieben 1.127 Tage in Geiselhaft.

Im Juli 1995 entführte im indischen Unionsstaat Jammu-Kaschmir die muslimische fundamentalistische Gruppe Al Faran sechs Touristen: Ein US-Bürger kann fliehen, der Norweger Hans Christian Ostro wird enthauptet, die anderen vier sind seither vermisst, darunter der Erfurter Student Dirk Hasert.

Im April 1993 wurden in der Grenzstadt Spinbuldak, Afghanistan, der deutsche Drogenfahnder Stefan Ehlert, ein Brite und ein Niederländer entführt. Die verantwortliche afghanische Guerilla-Gruppe verlangte, Gesinnungsgenossen aus pakistanischer Haft zu entlassen. Die Geiseln wurden nach einem Monat freigelassen.

Am 1. Januar 1996 wurden die 24-Jährige Deutsche Nicola Fleuchaus und die Schweizerin Susanna Siegfried - beide touristisch tätig - aus einem Hotel in San Carlos, Costa Rica, entführt. Nach Zahlung eines Lösegeldes von rund 300.000 Mark wurden sie nach 71 Tagen freigelassen.

Im Dezember 1996 drangen 20 Rebellen der Tupac-Amaru in die japanische Botschaft von Lima, Peru, ein. Unter den 490 Geiseln befanden sich der deutsche Botschafter und zwei deutsche Botschaftsangehörige. Die deutschen Geiseln kamen bald frei, aber erst nach 126 Tagen wurden die letzten 72 Geiseln befreit. Dabei wurden alle Rebellen, zwei Soldaten und eine Geisel getötet.

Am 3. März 1997 wurden sieben deutsche Motorradreisende auf einem Bergpass im südöstlichen Jemen entführt, wurden jedoch bereits Mitte März freigelassen.

Am 27. März 1997 wurden zwei Männer und zwei Frauen, Reisende aus Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, in der Marib-Wüste östlich von Sanaa, Jemen, entführt, kamen aber nach zehn Tagen wieder frei.

Am 9. September 1997 wurde der deutsche Geschäftsmann Robert Buehs bei Zamboanga auf den Philippinen von muslimischen Aufständischen entführt und nach 107 Tagen freigelassen.

Am 15. April 1998 entführt ein Clan nördlich von Mogadischu, Somalia, zehn Rotkreuz-Mitarbeiter, darunter ein Deutscher, bei einer Zwischenlandung. Die Geiselhaft dauert zehn Tage.

Am 7. Dezember 1998 entführen im Jemen Angehörige der der Bani Dhabjan drei Frauen und einen Mann und halten sie bis Ende Dezember fest.

Am 26. Januar 1999 wird im Norden Jemens eine 30-jährige deutsche Hebamme zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter und von Angehörigen eines Stammes verschleppt und nach vier Tagen freigelassen.

Am 10. August 1999 entführte die Guerillagruppe FARC in Kolumbien fünf Personen, darunter den Deutschen Rolf Sommerfeld; die Geiseln wurden am 13. August 2000 befreit.

Im April 2000 nahmen Rebellen der Abu Sayyaf auf der Ferieninsel Sipadan, Malaysia, 21 Menschen als Geiseln, darunter Renate Wallert, ihr Mann Walter und ihr Sohn Marc aus Göttingen. Sie wurden auf die Insel Jolo, Philippinen, gebracht. Mitte Juli wurde die erkrankte Renate Wallert freigelassen, Walter Ende August und Marc im September.

Am 2. Juli 2000 wurde der SPIEGEL-Reporter Andreas Lorenz auf der Insel Jolo entführt, jedoch bereits Ende Juli freigelassen.

Am 14. März 2001 hält in Luxor, Ägypten, ein Reiseleiter vier deutsche Touristen in seiner Wohnung gefangen; drei Tage später dürfen sie gehen. Sein Ziel war, seine in Deutschland bei ihrer deutschen Mutter lebenden Kinder nach Ägypten zu holen.

Am 7. Mai 2001 wurde der Deutsche Christoph Voigt, Manager des Pharmakonzerns Schering-Plough, in Guatemala entführt. Das Lösegeld in Höhe von 405.000 Dollar wurde gezahlt, Voigt jedoch am 31. Mai tot gefunden.

Am 26. Mai 2001 verschleppen Mitglieder des Saijdi-Clans in Sanaa, Jemen, den deutschen Studenten Carl Christian Hoernecke; er wird nach zwei Wochen freigelassen.

Im August 2001 entführen Taliban-Milizionäre in Afghanistan 24 Mitarbeiter der christlichen Hilfsorganisation Shelter Now International, darunter vier Deutsche; ihnen wird „christliche Missionierung“ vorgeworfen. Im November 2001 gelingt eine militärische Befreiungsaktion.

Am 18. Juli 2001 entführt die Guerillagruppe FARC in Kolumbien Ulrich Künzel, Mitarbeiter der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), dessen Bruder Thomas und Reiner Bruchmann 200 Kilometer südwestlich von Bogotá. Thomas Künzel flieht Ende September; die beiden anderen werden Mitte Oktober freigelassen.

Am 27. Juli 2001 wird in Sanaa, Jemen, ein deutscher Diplomat entführt und am 23. September freigelassen.

Am 28. November 2001 wird ein deutscher Ingenieur, Mitarbeiter der Mercedes-Vertretung in Sanaa, Jemen, entführt und im Bezirk Sarwah in der Provinz Marib zehn Tage festgehalten.

Am 29. Juli 2002 wurden zwei deutsche Entwicklungshelfer des Hilfswerkes World Vision und ihr kenianischer Mitarbeiter in Waat, 800 Kilometer südlich Khartum, Sudan, entführt, jedoch nach wenigen Tagen wieder freigelassen.

Am 23. Februar 2003 wurden in der algerischen Sahara elf Touristen, darunter sechs Deutsche, entführt; nach und nach werden weitere 32 Reisende, darunter 16 Deutsche entführt. Die ersten 17 werden Am 13. Mai kann ein militärischer Einsatz 17 Geiseln befreien; die anderen sind erst Mitte August wieder frei. Eine 45-jährige Deutsche stirbt.

Im Dezember 2003 wurden in der Provinz Sistan-Balutschistan, Iran nahe Pakistan, zwei deutsche Fahrradtouristen und ein Mitreisender aus Irland entführt unbd einen knappen Monat gefangen gehalten.

Am 12. September 2003 wurden im Norden von Kolumbien acht ausländische Touristen entführt, darunter die Deutsche Reinhilt Weigel; sie wird nach 74 Tagen freigelassen.

Am 15. Juni 2005 wurden im Süden von Nigeria werden zwei deutsche Ölarbeiter der Baufirma Bilfinger Berger sowie vier einheimische Mitarbeiter entführt. Nach drei Tagen werden sie freigelassen.

Am 25. November 2005 wurden im Irak die Archäologin Susanne Osthoff und ihr Fahrer im Irak entführt; sie kommen nach 24 Tagen frei.

Am 28. Dezember 2005 wurden im östlichen Jemen Jürgen Chrobog, persionierter Außenstaatssekretär, seine Frau und deren drei Söhne verschleppt; nach drei Tagen werden sie freigelassen.

Am 24. Januar 2006 wurden die Ingenieure René Bräunlich und Thomas Nitzschke in Beidschi, Irak, entführt und am 2. Mai freigelassen.

Am 6. Februar 2007 wurden die mit einem Iraker verheiratete Deutsche Hannelore Krause und ihr Sohn Sinan in Bagdad, Irak, verschleppt. Die Entführer fordern, alle Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan abzuziehen. Hannelore Krause kam Mitte Juli 2007 frei.

Am 4. Juli 2007 wird seit einer Woche ein Deutscher in Afghanistan vermisst, taucht jedoch am folgenden Tag mit seinem Dolmetscher wieder auf.

Am 18. Juli 2007 entführen radikalislamische Taliban-Milizionäre zwei deutsche Bauingenieure und fünf ihrer afghanischen Kollegen in der Provinz Wardek in Afghanistan. Rüdiger Diedrich wird am 21. Juli erschossen gefunden. Am 10. Oktober wird Rudolf Blechschmidt freigelassen.

Am 18. August 2007 wird in Kabul, Afghanistan, die Entwicklungshelferin Christina M. aus einem Restaurant entführt, jedoch bereits am 20. August von der Kabuler Polizei befreit.

Vor dem 17. Dezember 2007 wurde ein deutscher Handwerker aus der Oberpfalz mit seiner afghanischen Frau und ihrem Kind in der Provinz Herat, Afghanistan, entführt, der früher für die von Rupert Neudecks „Grünhelme“ arbeitete.

Am 23. Juni 2008 entführen Piraten zwei Deutsche von einer Jacht im Golf von Aden vor der Küste Somalias. Der Mann und seine Lebensgefährtin wurden am 8. August nach Zahlung von einer Million Dollar Lösegeld freigelassen.

Am 8. Juli 2008 entführten PKK-Rebellen drei deutsche Bergsteiger im Osten der Türkei; sie kamen am 20. Juli unversehrt frei.

Am 11. Juli 2008 wurden im Süden Nigerias zwei deutsche Mitarbeiter des Baukonzerns Bilfinger Berger entführt und am 15. August freigelassen.

Am 20. September 2008 wurden in der Hafenstadt Bosasso, Somalia, ein Deutscher mit seiner somalischen Frau entführt; beide wurden nach zwei befreit.

Am 22. September 2008 wurden in Ägypten elf ausländische Touristen, darunter fünf Deutsche, entführt und waren nach zehn Tagen wieder frei.

Am 15. Dezember 2008 entführte ein Clan im Jemen eine deutsche Entwicklungshelferin und ihre Eltern. Sie wurden am 19. Dezember freigelassen, nachdem Lösegeld gezahlt und Clan-Mitglieder aus der Haft entlassen wurden.

Am 18. Januar 2009 wurden im Jemen drei Mitarbeiter eines örtlichen Gasunternehmens entführt, darunter ein Deutscher. Tags darauf wurden sie wieder freigelassen.

Am 22. Januar 2009 wurden eine deutsche Reisende aus dem hessischen Mühltal, ein Schweizer Ehepaar und ein britischer Tourist in Mali entführt. Am 22. April wurden sie wieder freigelassen.

Am 14. Juni 2009 werden im Nordjemen entführt: Eine fünfköpfige deutsche Familie, ein Brite, zwei Bibelschülerinnen aus Niedersachsen, eine Südkoreanerin. Am 18. Mai 2010 wurden zwei der entführten Kinder befreit. Drei Frauen wurden ermordet, die anderen bleiben vermisst

Am 19. April 2010 wurden im Süden Nigerias zwei Deutsche entführt und sechs Tage später wieder freigelassen.

Am 23. Juni 2010 wurden im Sudan zwei für das THW tätige, deutsche Entwicklungshelfer entführt. Rund fünf Wochen später wieder freigelassen.

Am 24. Oktober 2010 entführen Piraten vor der somalischen Küste den Frachter „Beluga Fortune“ mit deutschen Besatzungsmitgliedern; tags drauf sind sie wieder frei.

Vor dem 23. August 2011 werden in der Provinz Parwan im Nordwesten Afghanistans zwei Deutsche vermisst und vor dem 7. September tot aufgefunden.

Die Rolle der Entführten in den Medien

Gero von Randow
Entführungen
Kommen Sie, treten Sie ein in die eigenartigen Welten der Redaktionen!
Die ZEIT 4. Januar 2006

Rainer Erlinger, Jan Heidtmann
Renate Wallert, Jürgen Chrobog, Susanne Osthoff und jetzt die Ingenieure aus Leipzig:
Unsere Geiseln haben's doppelt schwer. Denn die Deutschen zeigen nur ungern Mitgefühl.
Süddeutsche Zeitung Magazin Heft 19, 10. Mai 2006

Der Fall Susanne Osthoff: Ein Gespräch über die Inszenierung und die Grundspießigkeit deutscher Medien
Joachim Huber im Gespräch mit Miriam Meckel
Der Tagesspiegel 14.01.2006

Kein Bürger hat einen Anspruch auf solchen Schutz
Muss der deutsche Staat seine Bürger überall beschützen und freikaufen, selbst wenn sie sich wissentlich in Gefahr begeben?
Markus Verbeet interviewt den Völkerrechtler und Ex-DRK-Präsident Knut Ipsen über Rechte und Pflichten von Entführungsopfern wie Susanne Osthoff und Jürgen Chrobog.
Spiegel online 30.12.2005

Kristina Dunz, dpa Chrobogs Risikoanalyse und Osthoffs Trauma
FAZ 29.12.2005

Chrobog, Osthoff und das bekannte Risiko
Der Tagesspiegel 29.12.2005

Und täglich grüßt das Murmeltier
Nach der Entführung von Susanne Osthoff und der Chrobog-Familie sind nun zwei deutsche Ingenieure im Irak verschleppt werden.
SZ 19. Mai 2010

Monika Griebeler
Entführt, verschleppt - deutsch? Deutsche Welle 30.01.2012

Ludger Schadomsky
Deutsche in Äthiopien weiter vermisst Nach dem Überfall auf eine Touristengruppe in Äthiopien mit fünf Toten werden zwei Deutsche und ihre zwei äthiopischen Begleiter weiter vermisst. Deutsche Welle 20.01.2012

Ist, wer entführt wird, selber schuld? Ein Exkurs

2005 wurde Susanne Osthoff im Irak entführt. »Wer sich in Gefahr begibt und dieses Risiko kennt, der muß natürlich auch mit diesem Risiko leben.« sagte Jürgen Chrobog über Susanne Osthoff, früher als Staatssekretär im Auswärtigen Amt auch zuständig für das politische Management von Entführungen. Im Bayerischen Rundfunk kritisierte er eine Erwartungshaltung deutscher Reisender, dass der deutsche Staat eine „Rundumversicherung” für Notfälle im Ausland sei. Wenige Tage später wurde Chrobog selbst im Jemen entführt, bei einer touristischen Reise mit seiner Familie. Solche Fälle werden normalerweise still und leise verhandelt, doch wegen dieser besonderen Umstände nahm nun die Öffentlichkeit Anteil:

Daß in beiden Fällen Deutsche entführt wurden, wird als Zufall abgetan; weitgehend unbeachtet bleiben ihre interkulturellen Ehen. Auch die Tatsache, daß in beiden Fällen Stammesführer involviert erscheinen, mag eine genauere Betrachtung wert sein. Dennoch weisen die beiden Entführungsfälle kaum Gemeinsamkeiten auf, sieht man davon ab, daß sie sich vor der Kulisse des islamisch-arabisch geprägten Raumes abspielen; zu verschieden scheinen vorerst die Entführer und zu undeutlich sind deren Motive.

Gemeinsamkeiten lassen sich erst entdecken, wenn wir die Blickrichtung ändern. In der Heimat der Entführten ordnet sich die Sachlage der Entführten mehr und mehr einer Metadiskussion unter, die das Verhalten der Entführten politisch und gesellschaftlich bewertet. Plötzlich erscheinen beide Fälle verbunden durch die Rolle des deutschen Staates, der hier seiner Fürsorgepflicht deutschen Staatsbürgern gegenüber nachkommen muß, sowie durch die Art und Weise, wie darüber öffentlich kommuniziert werden.

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Ihre Rolle als Entführungsopfer versetzte Susanne Osthoff wie die Familie Chrobog unvermittelt auf die Bühne der deutschen Öffentlichkeit: ins schillernde Scheinwerferlicht des Boulevards ebenso wie in das etwas akzentuiertere Licht der Kommentatoren; zunächst musikalisch dezent untermalt vom vorsichtig agierenden politischen Orchester, das nach der Befreiung Osthoffs zur Kakaphonie anschwoll, die erst bei der Entführung der Familie Chrobog abrupt abbrach, wohl weil die Musiker einer durchdachten Partitur entbehrten und gegenüber einem Ex-Staatssekretärin politisch zurückhaltend agierten.

Derweil standen die Entführungsopfer wie unbeteiligt vor dem Publikum. Die personae dramatis wurden auserwählt mehr darzustellen als jemals zuvor, das Schicksal hat sie zu ihrer Rolle verdammt. Sie auszufüllen, fehlen ihnen die politischen und medialen Voraussetzungen, und dennoch wird ihre Darstellung von den den besten Kritikern gnadenlos nach Maßstäben gemessen, die für Personen des öffentlichen Lebens entworfen wurden. Die Tragik ihrer Leidensgeschichte offenbart plötzlich politische Bedeutung und wird öffentlich relevant. Nicht mehr Opfer der Entführer sind sie, sondern Deutschland erscheint als Opfer ihres unverantwortlichen privaten Handelns. Das scheint auch der Öffentlichkeit das Recht zu geben, sie auf die Bühne zu stellen. Mit ihrer Freilassung haben sich die arabischen Stammesfürsten als gnädig erwiesen, die deutsche Öffentlichkeit muß noch beweisen, ob sie gnädig sein kann.

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Vor ihrer Entführung zeigten die Lebensentwürfe der Betroffenen durchaus beispielhaft wie sich ein Leben an der Schnittstelle zwischen christlicher und islamisch-arabischer Kultur gestalten ließe. Das Eigene und Vertraute ein Stück weit zu verlassen und zu versuchen, zwei Kulturen gerecht zu werden, ist ein Abenteuer, das kaum jemand wagt, das noch weniger zu bestehen in der Lage sind. Sind auch die alltäglichen Risiken eines solch geteilten Lebens absehbar; so war eine Entführung als mögliches Risiko kaum vorstellbar. Susanne Osthoff, mit einem Iraker verheiratet, mit Familie und beruflicher Existenz im Irak, wurde solche private Lebensgestaltung zum politischen Vorwurf erhoben. Im Nachhinein wird auf billige Weise eine Kausalkette zwischen Lebensumständen und Entführung hergestellt. Die deutsche Regierung gibt sich als Opfer der Lebensführung einer einzelnen Person.

Doch wie soll der kategorische Imperativ lauten, der hinter der öffentlichen Schelte zu vermuten ist? Bleib zu Hause, umgebe Dich mit Vertrautem und Gewohnten, gehe keine Risiken ein, traue keinem Fremden? Das patriarchalische Gehabe des Staates kommt an bei Bürgern, die zuvor jahrelang für genau solches Verhalten gescholten wurden, Wagemut sollten sie allerdings in ökonomischer Hinsicht zeigen, unternehmerisch, als Ich-AG. Die Eigenschaften, die dazu nötig wären, scheinen bei Susanne Osthoff reichlich vorhanden zu sein. Nun empört man sich und entzieht ihr die bisher gewährte Förderung ihrer beruflichen Arbeit, natürlich zu ihrem Besten. Auch so läßt sich staatliche Fürsorge ausüben.

Solche Stimmen sind verstummt seit Chrobog, mit einer Ägypterin verheiratet, im Jemen entführt wurde. Entweder hat Chrobog richtig gehandelt, dann taugen die Empfehlungen nichts, deren Nichtbefolgen Osthoff angeblich zum Verhängnis wurde. Oder Ex-Staatssekretär Chrobog hat falsch gehandelt, dann fällt ein Schatten auch auf die Regierung, deren Experte für das politische Management von Entführungen er war. Das Exempel, das an Susanne Osthoff praktiziert werden sollte, zerplatzt wie eine Brötchentüte. Weshalb wird überhaupt mehr oder weniger laut und deutlich nach einer Schuld des Entführungsopfers gesucht? Wäre stattdessen nicht uneingeschränkte Solidarität angemessen, ungeachtet des Verhältnisses zwischen Susanne Osthoff und ihrer Mutter? Eine Solidarität, zu der der deutsche Staat verpflichtet ist, gleichwohl diese Pflicht nur unwillig wahrnimmt und nach erfolgreichem Abschluß seiner Bemühungen den Wert der Arbeit selbst demontiert, indem er signalisiert, daß Susanne Osthoff solches Bemühen doch eigentlich gar nicht verdient hätte, weil hier oder dort eine Mitschuld zu suchen sei. Solches Gehabe wird in einem patriarchalischem Gestus aufführt, wie es wohl eher dem jemenitischen Stammesfürsten zuzubilligen wäre, dessen Handeln tatsächlich einem tradierten Ehrenkodex folgt.

Selbst die formale Solidarität, die sich als Hilfe des deutschen Staates bei Entführungsfällen im Verborgenen entfaltet, fehlte bei der Entführung El Masris durch die CIA. Hier wie dort handelt der Staat nicht aufgrund moralischer Anschauungen, sondern gehorcht der Staatsräson. Politisch klug ist es, die Gründe für solches Handeln möglichst nicht öffentlich zu diskutieren. Möglicherweise gilt es nun als politisch klug, das Beispiel Susanne Osthoff öffentlich als Exempel breitzutreten, Kollateralopfer werden billigend in Kauf genommen. Noch klüger wäre es, auch die langfristigen Folgen eines solchen Exempels zu bedenken.

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Eine Mitschuld durch eigenes Verhalten wird unter anderem mit den Warnungen des Auswärtigen Amtes begründet, die jedermann und jedefrau auf den Internetseiten einsehen kann. In bekannten Krisengebieten wie dem Irak sind Touristen nicht das Problem, denn diese sind einfach von einer Reise abzuschrecken. Allerdings sind die Reiseveranstalter ungehalten, wenn vor Reisen in eine touristisch attraktive Region wie dem Jemen zu oft erfolgreich gewarnt wird. Für Individualreisende sind operationalisierbare Warnungen wichtig, denn sie können helfen, die Risiken einer geplanten Reise abzuschätzen und leichtsinniges Handeln zu vermeiden. Dem Staat helfen sie, dem leichtsinnig Handelnden die Kosten von Hilfsmaßnahmen zu übertragen. Beides ist gut und richtig, wenn die Sache mit Augenmaß angegangen wird.

In strukturellen Krisenregionen wie dem Irak dagegen halten sich Deutsche aus anderen Gründen auf. Wer dort lebt, hat schwerwiegende Gründe und akzeptiert die Risiken als unvermeidlich. Viele sind als Helfer dort. Es kann gar nicht im Interesse des Staates sein, daß man seine Warnungen rigide befolgt, zumal viele Projekte im Auftrag des Staates erfolgen, seine Billigung und Unterstützung haben. Man müßte schon Katastrophenhilfe, Projekte zum Wiederaufbau, Hilfen zur Selbsthilfe, wirtschaftliche Zusammenarbeit … weitgehend einstellen, Priester, Ärzte und Helfer gäbe es nur noch dort, wo es sicher wäre, gemischte Ehen würden geschieden. Warnungen gleich welcher Intensität mögen die Anzahl der Deutschen in einer Krisenregion senken, können aber niemals hundertprozentig erfolgreich sein. Den Entführern jedoch genügt EIN Opfer, also läßt sich mit Warnungen eine Entführung nicht verhindern.

In den aktuellen Fällen läuft der Verweis auf die Warnungen des Auswärtigen Amtes allerdings ins Leere. Es mag legitim sein, mit solch pädagogischem Impetus die Grenzen der Verantwortlichkeit des Staates für seine Staatsangehörigen im Ausland aufzuzeigen. Auf diesem Wege ein Entführungsopfer zum Mittäter umzudeuten, geht allerdings zu weit: Hättest Du Dich entschieden, unserem Rat zu folgen, so wärest Du nicht entführt worden. – Mag sein, aber jemand anders wäre entführt worden, denn weder Osthoff noch Chrobog wurden wegen ihrer Individualität entführt. Nicht die Entführten haben Regeln gebrochen. Und selbst die Entführer offenbaren Respekt vor einem lokalen Rechtsverständnis, denn sie wollen ihre lokalen Ziele durchsetzen, indem sie sich Fremder bedienen, die nach ihrem Verständnis so lange rechtlos sind, wie sich nicht unter ihre Gastfreundschaft begeben haben. Als gast genießen sie Schutz, büßen jedoch ihre Freiheit ein.

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Die in der öffentlichen Diskussion erkennbar undifferenzierte Bewertung ist bedenklich, wenn daraus eine öffentlich akzeptierte Maßregel abgeleitet wird, die nahezu jedem im Ausland tätigen oder lebenden Deutschen das Gefühl vermittelt, allein durch sein Auslandsengagement der Solidarität des deutschen Staates verlustig gehen zu können: Wer sich bewegte, hätte schon fast verloren. Deutschland als Durchreiseland in der Mitte Europas, als Einwanderungsland, als Export- und Reise-Weltmeister kann sich eine solche kleinbürgerliche Mentalität nicht leisten.

Neugier, die Lust aufzubrechen, Neues zu suchen, die Welt zu erfahren … all das bedeutet eben auch, Risiken einzugehen. Es war immer nur eine Minderheit, denen solche Werte des Aufbruchs wichtiger waren als die Werte des Tradierten, Gewohnten und Vertrauten. Doch die Mehrheit braucht diese Minderheit. Aus dieser Quelle fließen Innovation, Phantasie, Mut, Eigenverantwortung, Entdeckerfreude … für die ganze Gesellschaft. Die Gesellschaft muß sich eine solche Minderheit leisten, denn deren Eigenschaften sind auch der Mehrheit dienlich. Sie sollte diese Form der Lebensgestaltung auch achten und darf ihr die Solidarität nicht versagen.

wiki/entfuehrung.1617732024.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/04/06 18:00 von norbert

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