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wiki:balkonien

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Balkonien

Ursprünglich spöttische Bezeichnung des Reiseziels, weil man nicht verreisen darf (eingeschränkte Reisefreiheit), kann (Leere im Portemonnaie) oder will (Oknophilie) und daher aus der Not eine Tugend macht, während alle anderen verreisen. Damit wird Balkonien zum trotzigen Distinktionsmerkmal der Unvermögenden, der auch durch den Spaziergang nicht ersetzt werden kann.

Der Begriff dürfte in der Weltwirtschaftskrise in Berlin entstanden sein und findet sich erstmals dort 1933 in der Presse 1) neben »Sommerfrische« und »Laubenkolonie«, 1964 als Gedichttitel 2) sowie später als Nische für »Heimat« in der DDR 3) neben Schrebergarten und Kleintierzüchter, also als Teil kleinbürgerlicher Lebensformen.

Als neuer Trend seit den 1990er Jahren erscheint balconing.

Balkonisierung statt Globalisierung

Seit den späten 1990er Jahren erscheint Balkonien zunehmend als selbstgewählte Alternative zum Reisen, dieses Mal jedoch nicht aus Unvermögen sondern zunächst aus einem Überdruss an »fernen Gefilden«, der die Faszination des Reisens (Philobatie) dämpft, dann weil das Reisen im Kampf der Distinktionsmerkmale zunehmend altmodisch erscheint und zunehmend aus einer ideologischen Ablehnung des Reisens selbst. Dabei wirken zudem sehr unterschiedliche Kräfte entgegen, die den Urlaub auf Balkonien deutlich aufwerten wie:

  • die Globalisierung wertet das Reisen um zum Qualifikationsmerkmal in Ausbildung und Beruf;
  • »Nine eleven«: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 wirken mehrfach:
    • sie verstärken die Angst vorm Fliegen;
    • sie lösen weltweit Reisebeschränkungen aus, die dauerhaft bleiben wie etwa die Einreisebestimmungen in die USA; Behinderungen für Overlander durch Visabestimmungen; maschinenlesbare Reisedokumente mit biometrischen Merkmalen;
    • sie stehen beispielhaft für den Konflikt zwischen arabischer und westlicher Welt: Entführungen von Reisenden und Attentate in Algerien, Ägypten, Jemen beenden Überlandreisen für westliche Reisende im Raum zwischen Marokko und Syrien.
  • Overtourism lässt ehedem attraktive Reiseziele für viele abschreckend wirken und vermittelt das Gefühl, dort unerwünscht zu sein;
  • »Flugscham« wegen klimaschädlicher Folgen mancher Reiseformen (Flugzeug, Verbrennungsmotoren) führt zu einem Rechtfertigungsdruck innerhalb mancher Gruppen;
  • die Corona-Pandemie führt ab 2020 zu erheblichen Einschränkunegn der Reisemöglichkeiten, siehe coronaconformes Reisen;
  • der Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 beeinflusst die Reisemöglichkeiten in Russland und allen angrenzenden Ländern zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Pazifik.

Möglicherweise sind im Zusammenhang damit Phänomene zu erklären, die in neuerer Zeit vermehrt als immobile Weniger-Reisen-Reisestile begegnen, hier balconing genannt. Die »Heimreisenden« bleiben auf den Dahamas (österreichisch) oder in Bad Meingarten und genießen das Hygge-Gefühl (dänisch) in Indoornesien, Balkongo, Flurganda und Verandalusien.


siehe auch
Liste der unübersetzbaren reiserelevanten Begriffe

1)
Berliner Lokal-Anzeiger vom 10. August 1933, siehe: Hans Schulz, Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch 2. A. de Gruyter, Berlin/New York 1996, Stichwort »Balkon, Balkonien«
2)
Berndal, Franz. Det kann nur een Berliner sein Gedichte. Dannemaier Karlsruhe 1964
3)
Zehn Jahre danach: Bildungswesen und Erziehungswissenschaft in Deutschland und Polen in vergleichender Perspektive. 2004. Münster: Waxmann, S. 244
wiki/balkonien.1652505366.txt.gz · Zuletzt geändert: 2022/05/14 05:16 von norbert

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