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Balkonien

Ursprünglich spöttische Bezeichnung des Reiseziels, weil man nicht verreisen darf (eingeschränkte Reisefreiheit), kann (Leere im Portemonnaie) oder will (Oknophilie) und daher aus der Not eine Tugend macht, während alle anderen verreisen. Damit wird Balkonien zum trotzigen Distinktionsmerkmal der Unvermögenden.

Der Begriff dürfte in der Weltwirtschaftskrise in Berlin entstanden sein und findet sich erstmals dort 1933 in der Presse 1) neben »Sommerfrische« und »Laubenkolonie«, 1964 als Gedichttitel 2) sowie später als Nische für »Heimat« in der DDR 3) neben Schrebergarten und Kleintierzüchter, also Teil kleinbürgerlicher Lebensformen.

Seit etwa den 1990er Jahren erscheint Balkonien jedoch zunehmend als selbstgewählte Alternative zunächst aus Überdruss an »fernen Gefilden«, dann immer häufiger ins Positive umgedeutet. Die »Heimreisenden« bleiben auf den Dahamas (österreichisch) und genießen das Hygge-Gefühl (dänisch) in den eigenen vier Wänden. Der Faszination des Reisens (Philobatie) und den mannigfaltigen Lebensreisestilen wirken verschiedentliche Kräfte entgegen, die den Urlaub auf Balkonien deutlich aufwerten wie:

  • Bedeutungsverlust des Reisens durch die Globalisierung;
  • Overtourism und das Gefühl unerwünscht zu sein;
  • Flugscham wegen klimaschädlicher Folgen mancher Reiseformen (Flugzeug, Verbrennungsmotoren);
  • Kontaktbeschränkungen durch die Pandemie, coronaconformes Reisen.

Möglicherweise sind im Zusammenhang damit Phänomene zu erklären, die in neuerer Zeit vermehrt als immobile Weniger-Reisen-Reisestile begegnen, hier balconing genannt.

Nicht-Reisen als Wert

Das christliche Denken des Mittelalters lehnte die currendi libido ab; manch einem galt das Laufen als »böse, ansteckende Krankheit« 4). Die Neugier galt als Laster und als eitel galt, wer stolz seine Erlebnisse und Erfahrungen vortrug. Stattdessen galt die stabilitas loci als erste Regel in vielen Klöstern.
Auch im Zuge der Globalisierung verlor das Reisen-an-sich seinen Wert, obgleich sich die Masse der Reisebewegungen von Rekord zu Rekord steigerte. Diese Reisebewegungen sind jedoch in erster Linie der weltweiten Ökonomie geschuldet, denn:

  1. Der Tourismus dient der Erholung von der Arbeit.
  2. Multilokales Leben verteilt die Arbeit auf weit voneinander entfernte Lebensmittelpunkte.
  3. Mobile Freizeitgestaltung dient der Selbstoptimierung im Erwerbsleben.

Als Gegenpol dazu erscheint nicht mehr das Reisen, sondern der Rückzug in abgeschlossene Räume.


siehe auch
Liste der unübersetzbaren reiserelevanten Begriffe

1)
Berliner Lokal-Anzeiger vom 10. August 1933, siehe: Hans Schulz, Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch 2. A. de Gruyter, Berlin/New York 1996, Stichwort »Balkon, Balkonien«
2)
Berndal, Franz. Det kann nur een Berliner sein Gedichte. Dannemaier Karlsruhe 1964
3)
Zehn Jahre danach: Bildungswesen und Erziehungswissenschaft in Deutschland und Polen in vergleichender Perspektive. 2004. Münster: Waxmann, S. 244
4)
Real-Enzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche: 17. Band: Westphal bis Zwingli, Nachträge: Abbot bis Hamberger, S. 186: Dorsten
wiki/balkonien.1620457075.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/05/08 06:57 von norbert

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