====== Grenzgänger ====== In der Persönlichkeitspsychologie ein Begriff für Personen, die sich in der Gefahrenzone bewegen, also zwischen Sicherheitszone und [[wiki:grenze_zwischen_leben_und_tod|Traumazone]], welch letztere das [[wiki:risiko|Risiko]] von Verletzung oder Tod birgt, zwischen //[[wiki:philobatie|Philobatie]]// ((''Siegbert A. Warwitz''\\ //Sinnsuche im [[wiki:wagnis|Wagnis]]. Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsmodelle für grenzüberschreitendes Verhalten//\\ 2. Auflage, Schneider, Baltmannsweiler 2016)) und [[wiki:oknophilie|Oknophilie]] auf der Suche nach [[wiki:freiheit|Freiheit]]. Als »normal« gilt der Aufenthalt in der Sicherheitszone. Außergewöhnlich, jedoch manchmal unvermeidlich, ist das Durchschreiten der Übergangszone, also weniger eine scharfe [[wiki:grenze|Grenze]] als ein [[wiki:zwischenraum|Zwischenraum]]. Der [[wiki:Übergang|Übergang]] ist gesellschaftlich akzeptiert, jedoch Regeln unterworfen, während das Verweilen im Übergang als Bedrohung empfunden wird: »//Liminalität// als Schwellenzustand« ((''Veit Rosenberger''\\ //Gezähmte Götter: das Prodigienwesen der römischen Republik//\\ Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998, 287 S.)). Das Überschreiten der Schwellen ist mit Riten verbunden, der Zeitraum des Überschreitens gilt als Übergangszustand ((''Arnold von Gennep''\\ //Le rites de passages//. 1909)), der mit Werden und Vergehen verbunden ist, ein »statu nascendi«. Grenzbereiche zeigen eine Doppelköpfigkeit weil sie einerseits ausschließen und abgrenzen und andererseits notwendigerweise überschreitbar sind.\\ Im übertragenen Sinne bilden auch Geburt und Tod eine Liminalität, daher bilden beide Bereiche ein Bildfeld mit `Reisen´: der Lebensweg, die letzte Reise. Die Doppelköpfigkeit zeigt sich folgerichtig darin, dass sich hier einerseits bedrohliche Geister treffen und dass hier andererseits Schutzgottheiten hausen wie ''Hekate'' und ''Hermes'' an Kreuzungen, ''Christophorus'' an Furten - [[wiki:reisegoetter|Reisegötter]] eben (engl. liminal deities). An solchen [[wiki:Übergang|Übergängen]] wird innegehalten und geopfert - bis heute. Im Himalaya flattern die Gebetsfahnen auf den Pässen, bei uns segnen die Heiligen Drei Könige am 6. Januar die Schwelle, [[wiki:wandern|Wanderer]] errrichten [[wiki:steinmann|Steinmänner]]. Grenzgänger jedoch sind suspekt. In archaischen Zeiten lagen kultivierte Gebiete wie Inseln in der [[wiki:wildnis|Wildnis]] und wurden von dieser durch //den Haag// abgetrennt, später reduziert auf Hecke und Zaun; Hagen lagen im Wald. Wer sich jenseits der Hecke auskannte, war die Hexe, die [[wiki:fussreisen#Die Hexe auf dem Zaun|Hagazussa]], als Reiterin auf dem Zaun (dem wilden Zossen) mit einem Bein in der [[wiki:wildnis|Wildnis]] und einem Bein in der Gesellschaft. Grenzgänger entscheiden sich nicht für hier oder da, sind Artisten und Virtuosen die hier und dort ihre Vorteile zu nutzen wissen wie ein [[wiki:trickster|Trickster]]. Grenzgänger passen in kein Schema und sind daher beängstigend; dazu gehören heute Abenteurer, Bergsteiger ((''Ulrich Aufmuth''\\ //Zur Psychologie des Bergsteigens//\\ Fischer, Frankfurt am Main 1988. ISBN 3-596-42314-7)) Globetrotter und auch das [[wiki:fahrendes_volk|Fahrende Volk]]. In vorchristlichen Glaubensvorstellungen wurden die Eigenschaften solcher Zonen und Übergänge mit [[wiki:reisegoetter|Göttern]] verbunden: * //Terminus// ist der römische Gott der Grenze; * //Janus// mit den beiden Gesichtern ist der Gott der Schwelle am Übergang mit Tor und Tür; * von dort aus führen die Wege durch die [[wiki:wildnis|Wildnis]], für die //Merkur// zuständig ist. Als [[wiki:stereotyp|Stereotyp]] des Grenzgängers und Grenzverletzers gilt ''Odysseus'', ''Dante'' beschreibt ihn in seiner //Götttlichen Komödie// als getrieben von einem unbändigen Verlangen (//adore//) nach Erfahrung (//esperïenza//) immer wieder aufs Neue aufbricht, angezogen von Orten `//senza gente//´ die noch keines Menschen Auge gesehen hat, um dann in einem trichterförmigen Mahlstrom unterzugehen. ==== Literatur ==== * ''Chard, Chloe''\\ //Crossing Boundaries and Exceeding Limits.//\\ Destabilization, Tourism, and the Sublime\\ in: Dies. (Hg.), Pleasure and Guilt, S. 117-149. * ''Koschorke, Albrecht''\\ //Die Geschichte des Horizontes//.\\ Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern.\\ Frankfurt am Main 1990. * Kohl, Ines, 2011, GrenzgängerInnen. In: Kreff, Fernand; Knoll, Eva-Maria; Gringrich, André (Hg.), Lexikon der Globalisierung. Bielefeld: Transcript-Verlag, 133-137. * Krämer, Hans Leo, 1998, Grenzgänger aus soziologischer Sicht. In: Schneider, Reinhard (Hg.), Grenzgänger. Saarbrücken: Kommissionsverlag, 35-44. * Schneider, Reinhard, 1998, Die Grenzgängerthematik in historischer Perspektive. In: Schneider, Reinhard (Hg.), Grenzgänger. Saarbrücken: Kommissionsverlag, 9-20. * Terlouw, Kees, 2012, Border Surfers and Euroregions: Unplanned Cross-Border Behaviour and Planned Territorial Structures of Cross-Border Governance. In: Planning Practice & Research, 27 (3), 351-366. * Wagner, Mathias, 2011, Die Schmugglergesellschaft. Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie. Bielefeld: Transcript-Verlag. * Wille, Christian, 2012, Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux. Frankfurt am Main: Peter Lang. * Zinnecker, Jürgen, 2006, Grenzgänger. Denkweise und Lebensweise der (Post)Moderne? In: Gebhardt, Winfried; Hitzler, Ronald (Hg.), Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wiesbaden: VS Verlag, 140-156.