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wiki:homo_portans

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Der Homo portans

Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, 
was ihr essen und trinken werdet, 
auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. 
Ist nicht das Leben mehr denn Speise?
Und der Leib mehr denn die Kleidung? 
Sehet die Vögel unter dem Himmel an: 
sie säen nicht, sie ernten nicht,
sie sammeln nicht in die Scheunen; 
und euer himmlischer Vater nährt sie doch.
Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?
Bergpredigt, Mathhaeus 6: 25-26

Zugvögel und die ostafrikanischen Gnus, Aale ebenso wie Lachse folgen teils mehrjährigen, teils zehntausende Kilometer langen Migrationswegen, weil sich dieses Verhalten in der Evolution als vorteilhaft erwiesen hat: sie folgen dem Regen, der Nahrung, der Wärme und werden begleitet von Räubern: die Bären warten auf die Lachse, die Krokodile auf die Gnus - ineinander verschlungene Kreisläufe des Überlebens.

Für die Menschen hat es sich evolutionär als Vorteil erwiesen, von solch programmiertem Verhalten abzuweichen und nach neuen Wegen zu suchen. Dazu mussten sie Wasser und Nahrung mitnehmen und Kleidung tragen. Der homo portans migriert nicht, er reist. Reisen erfordert vorausschauendes Sammeln, Horten und das Tragen der Last. Auch Eichhörnchen und Hamster sammeln und horten - das macht sie aber nicht mobil, sondern bindet sie im Gegenteil an ihre Vorräte.

Klammerreflex und Greifreflex des Neugeborenen finden sich beim Menschen ebenso wie beim Affen; letzterem helfen diese Reflexe sich im Fell der Mutter festzukrallen; die »Anhock-Spreizhaltung« schmiegt die Körper nah aneinander 1). Irgendwann im Laufe der Menschwerdung wechselte der Tragling vom Bauch auf den Rücken, noch ein paar hundert Generationen später war auch das Fell weg, die Reflexe wurden nutzlos, aber die Mütter mußte sich etwas einfallen lassen, um ihre Kinder tragen zu können.

Ohne Fell und ohne Nest muss eine Tragehilfe für das Neugeborene her. Der aufrechte Gang ermöglichte neue Tragetechniken. Lasten auf dem Rücken zu tragen und dabei die Hände frei zu haben für Werkzeug oder Waffen ist sicher ein evolutionärer Vorteil. Mit Wasser, Nahrung und wärmender Kleidung neue Lebensräume erschließen zu können hat den Menschen in den letzten hunderttausend Jahren auf alle Kontinente geführt, begleitet von Raben, Ratten, Hunden.

Dass der Mensch den größten Teil seiner Existenz Sammler und Jäger war, weiß jeder. Aber wie er es geschafft, mit zwei Händen nicht nur den Grabstock zu tragen, sondern auch die Wurzeln und die Kräuter, die Beeren und die Pilze kilometerweit durch den Busch zu schleppen zurück zur hungrigen Familie? Etwa bei den Khoisan 2) im südlichen Afrika sind entsprechende Techniken heute noch bekannt:

  • Die Stiele bestimmter Pfanzenarten werden mit einem Stein so lange geklopft, bis die Längsfasern übrig bleiben. Daraus wird eine Schnur gerollt, aus Schnüren dann ein Seil gedreht. Damit lässt sich dann bereits ein Bündel Brennholz zusammenbinden und auf dem Kopf ins Lager tragen. Banal? Nein, da muss man erst einmal drauf kommen.
  • Vorsichtig aufgebohrte und entleerte Straußeneier dienten den Khoisan als Wasserflaschen und fassen etwa 1,2 Liter.

Ein Tragetuch aus Bast oder Leder sollte also eine der ersten Erfindungen der Menschheit gewesen sein, könnte man annehmen: Homo portans, Homo viator und Homo faber sind damit kaum voneinander zu trennen. Der Mensch wurde zum Beuteltier.

Mit der Fähigkeit etwas zu tragen und die Hände frei zu haben ließ sich Besitz anhäufen, der zur Last fiel. Wer zentral organisierte, konnte anderen etwas aufbürden und diese etwas zusammentragen lassen, Stämme und Steine für Tempel, Paläste, Häuser beispielsweise. Das Tragen erschien als bedeutende Tätigkeit, einem Atlas würdig, der das Himmelsgewölbe duldend erträgt. Bürde und Würde bedingen einander: Jesus trägt sein Kreuz, *Christophorus trägt das Jesuskind, Atlas die ganze Welt.

»Homo Portans. Tragen – die Faszination des Selbstverständlichen« hieß eine Tagung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden vom 19. bis 21.05.2011. Im Abschlussbericht 3)formulierte Annette Kehnel ein Fazit, das der Fähigkeit des Tragens besondere Selektionsvorteile des Homo Portans zuweist, insbesondere als eine Voraussetzung:

  • für jede Lebensform des Menschen zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit;
  • für das Horten von Vorräten, von und für die aktive Gestaltung von Lebensräumen;
  • für Autarkie außerhalb des gewohnten Lebensraumes, da Nahrung, Vorräte, Werkzeuge und Waffen getragen werden müssen;
  • tragend symbolische oder reale Machtinstrumente zu zeigen und darüber zu verfügen: Waffen, Kleidung, Wertgegenstände, Insignien usw.

Außer Acht blieb in dieser Aufzählung, dass Macht auch zu Hierarchie führt und damit das Tragen an Gepäckträger delegiert werden kann, qua Macht, Geld, soziale oder berufliche Differenzierung.

1)
Bernhard Hassenstein, Evelin Kirkilionis
Der menschliche Säugling, Nesthocker oder Tragling?
In: Wissenschaft und Fortschritt 42/1992
2)
Die genetisch älteste heute noch lebende Menschengruppe, Carina M. Schlebusch et al.:
Genomic Variation in Seven Khoe-San Groups Reveals Adaptation and Complex African History.
In: Science. doi:10.1126/science.1227721
3)
Homo Portans – eine Kulturgeschichte des Tragens, 28.09.2010 – 01.10.2010 Berlin
Tagungsbericht in: H-Soz-Kult, 10.12.2010
wiki/homo_portans.1595659535.txt.gz · Zuletzt geändert: 2020/07/25 06:45 von norbert

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