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wiki:flucht

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 ==== 3.4 Entkommen aus Sibirien ==== ==== 3.4 Entkommen aus Sibirien ====
-''Kurt Aram'' hatte Pech: Zusammen mit seiner Frau war er auf dem Weg von Istanbul über Tiflis nach Eriwan und Wan. Er hatte den kürzeren Weg über Batum am Schwarzen Meer gewählt und befand sich in Rußland, als am 1. August 1914 Deutschland Rußland den Krieg erklärte. Während der nächsten Tage wollte niemand diese Nachricht glauben, man bestätigte sich gegenseitig, daß das doch gar nicht sein könne - auch der deutsche Konsul hatte keine offiziellen Nachrichten erhalten. Und doch - das Verhalten wurde distanzierter, die Menschen auf der Straße gingen den Deutschen aus dem Weg. Das Hotel //London//, in dem sich Aram befand, gehörte einer seit vielen Jahren dort lebenden Deutschen, einer Frau ''Richter'' aus Mainz. Dann wird die Kriegserklärung zwischen England und Deutschland bekannt, die Engländer ziehen aus dem Hotel aus, auch die Holländer verlassen das sinkende Schiff, distanzieren sich von der kriegerischen Nation. In ganz Rußland werden dann die Deutschen und Deutschstämmigen im Alter von 17 bis 50 Jahren interniert und Kurt Aram landet mit seiner Frau in Sibirien. Dort finden sich in erster Linie Geschäftsleute wieder, nur wenige Reisende sind darunter. Alle Kosten der Internierung, Essen und Trinken, warme Kleidung für Sibirien, sogar die zehntägige Bahnfahrt ins sibirische Gouvernement Watka haben die Gefangenen selbst zu bezahlen, wer kein Geld hat, leidet Hunger, friert, ist obdachlos. In den ersten Tagen hätte Aram noch ausreisen können, doch fehlte ihm der Paß, der noch zur Anmeldung bei der Polizei lag. Diese hatte aber wohl schon frühzeitig Order, die Pässe zurückzuhalten. Die zweite Bedingung war Geld, denn mit zunehmender Krise stiegen die Kosten für Fahrten und notwendige Bestechungen. Dennoch gelang Aram nach fünf Monaten die Ausreise mittels überlegter Tricks, Beziehungen zu bekannten Russen, Geld und der notwendigen Beherrschung des Russischen. Diese zweite Phase ist unter Reiseaspekten interessanter als die erste, da sie zeigt, unter welchen besonderen Bedingungen in Krisenzeiten eine Reise organisiert werden muß: Aram erhält nach allerlei Manipulationen einen Auslandsreisepaß für sich und seine Frau, den er fortan nicht mehr aus der Hand gibt. Baldmöglichst läßt er sich eine beglaubigte Kopie anfertigen. Außerdem versucht er trotz seines Passes möglichst wenig aufzufallen: //„Reisende sind von vornherein verdächtig.“// ((Aram, Nach Sibirien ..., 220)) Er rechnet vielmehr mit der Willkür der Behörden, die, wenn sie ihn erst einmal als „feindlichen“ Deutschen erkannt haben, ihn erneut internieren. Sein Auslandspaß verschwände dann in irgendeiner Schublade. Das bedeutet für ihn, der recht gut russisch spricht, schnell zu sein und möglichst keinen Kontakt mit anderen Leuten zu haben. Also kauft er eine Fahrkarte erster Klasse, da in diesen Abteilen nur zwei Personen Platz haben, und verläßt es außer zum Umsteigen nicht. Für die mehrtägigen Bahnfahrten setzt das eine ausreichende Verpflegung voraus. Schwierig wird es in Petersburg: Dort müssen sie übernachten, da der nächste Anschlußzug erst am folgenden Tag fährt. Alle Hotels verlangen jedoch den Reisepaß und auf dem Bahnhof patrouillieren Soldaten. Glücklicherweise können sie bei einem Russen, den Aram von einer früheren Reise her kennt, unterkommen. Auf der letzten Etappe, von Petersburg nach Raumo, wird der Zug dann doch noch kontrolliert. Auch Aram und seine Frau werden gründlichst durchsucht: Leibesvisitation, ausziehen, die Sohlen werden von den Schuhen getrennt. Alles Schriftliche wird beschlagnahmt, der Baedeker ebenso wie das (leere) Notizbuch. Nur fünfzig Rubel erhalten sie pro Person zurück, der Rest wird konfisziert. Auch hier hofft er zu Recht, daß man sich seinen Paß nicht genauer ansieht, nicht sieht, daß er aus einem Lager kommt. Denn mittlerweile sind fast nur noch [[wiki:auslaender|Ausländer]] im Zug; es sind zu viele, um sie alle gründlich zu kontrollieren. Die Hoffnung erfüllt sich und drei Tage nach der Abfahrt von Petersburg befinden sich beide an Bord einer schwedischen Fähre.+''Kurt Aram'' hatte Pech: Zusammen mit seiner Frau war er auf dem Weg von Istanbul über Tiflis nach Eriwan und Wan. Er hatte den kürzeren Weg über Batum am Schwarzen Meer gewählt und befand sich in Rußland, als am 1. August 1914 Deutschland Rußland den Krieg erklärte. Während der nächsten Tage wollte niemand diese Nachricht glauben, man bestätigte sich gegenseitig, daß das doch gar nicht sein könne - auch der deutsche Konsul hatte keine offiziellen Nachrichten erhalten. Und doch - das Verhalten wurde distanzierter, die Menschen auf der Straße gingen den Deutschen aus dem Weg. Das Hotel //London//, in dem sich Aram befand, gehörte einer seit vielen Jahren dort lebenden Deutschen, einer Frau ''Richter'' aus Mainz. Dann wird die Kriegserklärung zwischen England und Deutschland bekannt, die Engländer ziehen aus dem Hotel aus, auch die Holländer verlassen das sinkende Schiff, distanzieren sich von der kriegerischen Nation. In ganz Rußland werden dann die Deutschen und Deutschstämmigen im Alter von 17 bis 50 Jahren interniert und ''Kurt Aram'' landet mit seiner Frau in Sibirien. Dort finden sich in erster Linie Geschäftsleute wieder, nur wenige Reisende sind darunter. Alle Kosten der Internierung, Essen und Trinken, warme Kleidung für Sibirien, sogar die zehntägige Bahnfahrt ins sibirische Gouvernement Watka haben die Gefangenen selbst zu bezahlen, wer kein Geld hat, leidet Hunger, friert, ist obdachlos. In den ersten Tagen hätte Aram noch ausreisen können, doch fehlte ihm der Paß, der noch zur Anmeldung bei der Polizei lag. Diese hatte aber wohl schon frühzeitig Order, die Pässe zurückzuhalten. Die zweite Bedingung war Geld, denn mit zunehmender *[[wiki:krise|Krise]] stiegen die Kosten für Fahrten und notwendige Bestechungen. Dennoch gelang Aram nach fünf Monaten die Ausreise mittels überlegter Tricks, Beziehungen zu bekannten Russen, Geld und der notwendigen Beherrschung des Russischen. Diese zweite Phase ist unter Reiseaspekten interessanter als die erste, da sie zeigt, unter welchen besonderen Bedingungen in Krisenzeiten eine Reise organisiert werden muß: Aram erhält nach allerlei Manipulationen einen Auslandsreisepaß für sich und seine Frau, den er fortan nicht mehr aus der Hand gibt. Baldmöglichst läßt er sich eine beglaubigte Kopie anfertigen. Außerdem versucht er trotz seines Passes möglichst wenig aufzufallen: //„Reisende sind von vornherein verdächtig.“// ((Aram, Nach Sibirien ..., 220)) Er rechnet vielmehr mit der Willkür der Behörden, die, wenn sie ihn erst einmal als „feindlichen“ Deutschen erkannt haben, ihn erneut internieren. Sein Auslandspaß verschwände dann in irgendeiner Schublade. Das bedeutet für ihn, der recht gut russisch spricht, schnell zu sein und möglichst keinen Kontakt mit anderen Leuten zu haben. Also kauft er eine Fahrkarte erster Klasse, da in diesen Abteilen nur zwei Personen Platz haben, und verläßt es außer zum Umsteigen nicht. Für die mehrtägigen Bahnfahrten setzt das eine ausreichende Verpflegung voraus. Schwierig wird es in Petersburg: Dort müssen sie übernachten, da der nächste Anschlußzug erst am folgenden Tag fährt. Alle Hotels verlangen jedoch den Reisepaß und auf dem Bahnhof patrouillieren Soldaten. Glücklicherweise können sie bei einem Russen, den Aram von einer früheren Reise her kennt, unterkommen. Auf der letzten Etappe, von Petersburg nach Raumo, wird der Zug dann doch noch kontrolliert. Auch Aram und seine Frau werden gründlichst durchsucht: Leibesvisitation, ausziehen, die Sohlen werden von den Schuhen getrennt. Alles Schriftliche wird beschlagnahmt, der Baedeker ebenso wie das (leere) Notizbuch. Nur fünfzig Rubel erhalten sie pro Person zurück, der Rest wird konfisziert. Auch hier hofft er zu Recht, daß man sich seinen Paß nicht genauer ansieht, nicht sieht, daß er aus einem Lager kommt. Denn mittlerweile sind fast nur noch [[wiki:auslaender|Ausländer]] im Zug; es sind zu viele, um sie alle gründlich zu kontrollieren. Die Hoffnung erfüllt sich und drei Tage nach der Abfahrt von Petersburg befinden sich beide an Bord einer schwedischen Fähre.
  
 ''Slavomir Rawitsch'', Leutnant der polnischen Kavallerie, wurde nach dem Zusammenbruch der polnischen Armee am 19.11.1939 von den Russen gefangengenommen, er war gerade 24 Jahre alt. Verhöre, Einzelhaft und Folter in den Gefängnissen von Minsk, Charkow und in der Lubjanka in Moskau gingen seiner Verurteilung voraus, die für ihn fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in Sibirien vorsah. Ende November 1940 wurde er zusammen mit etwa 60 anderen Verurteilten in einen Viehwaggon gesperrt, der für 8 Pferde vorgesehen war. Es war so eng, daß sich niemand setzen kann. //„Die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag über durften wir die Waggons nicht einmal verlassen. ... Die Männer mußten sich im Stehen entleeren. Der Gestank war unerträglich.“// ((Rawitsch, 41))  Mitte Dezember kamen sie in Irkutsk an, 5000 Männer wurden auf einem Kartoffelfeld versammelt. Nach drei Tagen gab es Winterkleidung, dann wurden sie in einer Reihe aneinander gekettet. 1.600 Kilometer Fußmarsch lagen vor ihnen. Ihr Ziel, das Lager 303 am Nordufer der Lena, etwa 350 Kilometer südlich von Irkutsk, erreichten sie nach zwei Monaten, im Februar 1941. ''Slavomir Rawitsch'', Leutnant der polnischen Kavallerie, wurde nach dem Zusammenbruch der polnischen Armee am 19.11.1939 von den Russen gefangengenommen, er war gerade 24 Jahre alt. Verhöre, Einzelhaft und Folter in den Gefängnissen von Minsk, Charkow und in der Lubjanka in Moskau gingen seiner Verurteilung voraus, die für ihn fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in Sibirien vorsah. Ende November 1940 wurde er zusammen mit etwa 60 anderen Verurteilten in einen Viehwaggon gesperrt, der für 8 Pferde vorgesehen war. Es war so eng, daß sich niemand setzen kann. //„Die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag über durften wir die Waggons nicht einmal verlassen. ... Die Männer mußten sich im Stehen entleeren. Der Gestank war unerträglich.“// ((Rawitsch, 41))  Mitte Dezember kamen sie in Irkutsk an, 5000 Männer wurden auf einem Kartoffelfeld versammelt. Nach drei Tagen gab es Winterkleidung, dann wurden sie in einer Reihe aneinander gekettet. 1.600 Kilometer Fußmarsch lagen vor ihnen. Ihr Ziel, das Lager 303 am Nordufer der Lena, etwa 350 Kilometer südlich von Irkutsk, erreichten sie nach zwei Monaten, im Februar 1941.
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 Schlußendlich geht es um eine passende Ausrüstung, die einerseits die Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen, Wärme) befriedigt und andererseits dem Stil des Ausbruchs angepaßt ist. Plüschow hat sich für London zwei Verkleidungen ermöglicht: zuerst als gut gekleideter Gentleman, dann als heruntergekommener Dockarbeiter; Magener und von Have reisten offen in halbmilitärischer Kleidung nach Burma, Kopp und Krämer gingen als Missionare durch Indien. Alles ist möglich: nicht die Wahl der Rolle ist entscheidend, sondern die Glaubwürdigkeit, mit der sie eingenommen wird.\\  Schlußendlich geht es um eine passende Ausrüstung, die einerseits die Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen, Wärme) befriedigt und andererseits dem Stil des Ausbruchs angepaßt ist. Plüschow hat sich für London zwei Verkleidungen ermöglicht: zuerst als gut gekleideter Gentleman, dann als heruntergekommener Dockarbeiter; Magener und von Have reisten offen in halbmilitärischer Kleidung nach Burma, Kopp und Krämer gingen als Missionare durch Indien. Alles ist möglich: nicht die Wahl der Rolle ist entscheidend, sondern die Glaubwürdigkeit, mit der sie eingenommen wird.\\ 
-In jedem Fall müssen Ausstattung, Verhalten und die Erwartungen der Umwelt fein aufeinander abgestimmt sein. Ob man sich für ein unauffälliges Mimikry, wie Magener und von Have, oder für die Ablenkung durch Auffallen, wie Kopp und Krämer, entscheidet, hängt sicher von der Persönlichkeit des Einzelnen ab. Blum soll dadurch aufgefallen sein, daß er für einen weißen Reisenden zu wenig Gepäck hatte und ohne Diener reiste. Wer nicht völlig autark ist, tut gut daran, seine Fähigkeiten zu verkaufen, um sich unterwegs die Sympathie der Bevölkerung, Lebensmittel oder Unterkunft zu erwerben. Bei den meisten Fluchten bewährte sich besonders der Beruf des Arztes, der mehr oder weniger erfolgreich auch mit geringen oder improvisierten Mitteln praktiziert werden kann. Unterkunft und Papiere sind nahezu untrennbar miteinander verbunden; wer ohne Papiere untertauchen will, kann das nur in der freien Natur oder in Bordellen oder im Untergrund.+In jedem Fall müssen Ausstattung, Verhalten und die Erwartungen der Umwelt fein aufeinander abgestimmt sein. Ob man sich für ein unauffälliges Mimikry, wie Magener und von Have, oder für die Ablenkung durch Auffallen, wie Kopp und Krämer, entscheidet, hängt sicher von der Persönlichkeit des Einzelnen ab. Blum soll dadurch aufgefallen sein, daß er für einen weißen Reisenden zu wenig Gepäck hatte und ohne Diener reiste. Wer nicht völlig [[wiki:autarkie|autark]] ist, tut gut daran, seine Fähigkeiten zu verkaufen, um sich unterwegs die Sympathie der Bevölkerung, Lebensmittel oder Unterkunft zu erwerben. Bei den meisten Fluchten bewährte sich besonders der Beruf des Arztes, der mehr oder weniger erfolgreich auch mit geringen oder improvisierten Mitteln praktiziert werden kann. Unterkunft und Papiere sind nahezu untrennbar miteinander verbunden; wer ohne Papiere untertauchen will, kann das nur in der freien Natur oder in Bordellen oder im Untergrund.
  
 Selbst wenn die Flucht gelingt, befindet man sich meist noch nicht in Sicherheit: Magener und von Have benötigen einen Monat für ihre Flucht durch Indien, verbringen danach aber drei Monate in japanischen Gefängnissen, bevor sie die Japaner davon überzeugen können, daß sie tatsächlich Flüchtlinge und keine Spione sind. Killinger muß beim deutschen Konsul in Tientsin ein Verhör über sich ergehen lassen, bevor man ihm glaubt. Selbst wenn die Flucht gelingt, befindet man sich meist noch nicht in Sicherheit: Magener und von Have benötigen einen Monat für ihre Flucht durch Indien, verbringen danach aber drei Monate in japanischen Gefängnissen, bevor sie die Japaner davon überzeugen können, daß sie tatsächlich Flüchtlinge und keine Spione sind. Killinger muß beim deutschen Konsul in Tientsin ein Verhör über sich ergehen lassen, bevor man ihm glaubt.
wiki/flucht.txt · Zuletzt geändert: 2024/05/02 03:08 von norbert

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